23. Kapitel

Ismas Entschluß

Um dieselbe Zeit wurde Frau Isma Torm durch heftiges Läuten aus dem Schlummer geweckt.

Man brachte ihr ein Telegramm. Mit klopfendem Herzen las sie:

 

»Hammerfest, den 9. September.

Brieftaube ›Ballon Pol‹ brachte folgende Nachricht:

Frau Isma Torm. Friedau. Deutschland, 21. August, 2 U. 30 Min. nachm. M.E.Z.

Ballon durch unbekannte Kraft in die Höhe gerissen. Ich verlor das Bewußtsein. Erwachte, als der Ballon auf dichte Wolkendecke schnell abstürzte. Korb gekentert. Ballon nur durch stärkste Erleichterung zu retten. Grunthe und Saltner bewußtlos, nicht transportierbar. Ich verließ den Ballon mit dem Fallschirm, konnte Brieftauben mitnehmen. Ich fiel langsam durch Wolken, trieb vom Pol in unbekannter Richtung ab, konnte mich auf Festland retten. Entdeckte Spuren von wandernden Eskimos und fand ihr Lager. Ziehe mit ihnen nach Süden, habe noch zwei Tauben. Hoffe auf glückliche Heimkehr. Sei unbesorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften. Torm.«

 

Sie klammerte sich an die letzten Worte. »Hoffe auf glückliche Heimkehr. Sei unbesorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften.« Aber wo? Wo? Jenseits unzugänglicher Meere und Eiswüsten, kurz vor Beginn der ewigen Nacht, angewiesen auf das Mitleid einiger armseliger Eskimos! Der Ballon gescheitert – die gehofften, stolzen Resultate verloren! Wie konnte er heimkehren – und wann?

Und sie – sie hatte ihn ermutigt, ihm zugeredet, als er darum sorgte, sie allein zurückzulassen. War sie nicht mitschuldig an seinem Unglück? Hatte sie nicht zu sehr dem Freund vertraut, der des Gelingens so sicher schien? Eine furchtbare Angst erfaßte sie. Hätte sie ihn nicht beschwören müssen, das gefährliche Unternehmen um ihretwillen zu unterlassen? Sie hatte sich eingebildet, der großen Sache, der Wissenschaft mutig das Opfer ihres häuslichen Glückes zu bringen, aber nun kam es über sie wie eine schreckliche Anklage – hätte sie den Mut auch gehabt, wenn nicht Ell sie gebeten hätte? Wenn sie nicht dem Freund zuliebe, dem sie das eine Lebensglück versagt, nun zur Erreichung seines innigsten Wunsches ein Opfer hätte bringen wollen? Und wenn das Opfer angenommen war? Sie schauderte zusammen. Nein, nein, sie wollte nicht mutlos sein. Das durfte sie sich ja sagen, sie hatte sich nie verhehlt, daß sie jeden Augenblick auf das Schlimmste gefaßt sein mußte. Aber was sie dann tun würde? Das hatte sie niemals sich zur vollen Klarheit gebracht. Jetzt mußte es sein. Sie wollte handeln. Wenn Hilfe möglich war – es gab von den Menschen nur einen, der hier helfen konnte. O, er würde ihr helfen! Sie glaubte an ihn.

Eine Stunde später zog sie die Klingel an dem großen eisernen Gitter, das den Vorgarten des Wohngebäudes neben der Sternwarte von der Straße abschloß.

»Ist der Herr Doktor schon zu sprechen?« fragte sie den öffnenden Kastellan.

Der Alte nahm sein Käppchen ab und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr.

»Ei, ei, die Frau Doktor sind es? Hm! Hm! Na, ich will gleich einmal fragen. Kommen Sie nur inzwischen herein. Es ist freilich – Hm! –«

»Sagen Sie, ich müßte den Herrn Doktor sofort sprechen, es sind wichtige Nachrichten angekommen.«

Der Alte schlurfte ins Haus.

Ell beriet mit Grunthe die Form, welche den ersten Mitteilungen zu geben sei, als ihm Frau Torm gemeldet wurde.

Er sprang auf und warf die Feder weg.

»Führen Sie die gnädige Frau sogleich in die Bibliothek.«

»Es sind wichtige Nachrichten da, sagte die Frau Doktor.« Mit diesen Worten ging der Kastellan ab.

»Sie hat Nachrichten!« rief Ell erbleichend. »Und sie kommt selbst, um diese Zeit! Woher kann sie es wissen?«

Er stürzte hinaus. Vor der Tür des Bibliothekzimmers hielt er an. Er mußte sich erst sammeln. Dann trat er ein, ruhig, gefaßt. Aber das Herz schlug ihm. Sein Gesicht war bleich und übernächtig.

Isma stand mitten im Zimmer und stützte ihre Hand auf den großen Tisch, der mit aufgeschlagenen Kartenwerken und Tabellen bedeckt war. Sie fand keine Worte.

»Isma«, sagte er, »Sie haben – was wissen Sie?« Sie brach in Schluchzen aus. Er eilte an ihre Seite. Wieder lehnte sie an seiner Schulter. Er führte sie an das Sofa.

»Fassen Sie sich, liebste Freundin, fassen Sie sich!«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie unter Tränen. Sie zog die Depesche aus ihrer Tasche und reichte ihm das zerknitterte Papier.

Ell las.

Er atmete tief auf.

»Gott sei gedankt!« rief er aus tiefstem Herzen.

Isma sprang auf und wich zurück. Ihr Blick fiel feindlich auf ihn. ihre Augen wurden starr. Sie drohte zusammenzubrechen.

»Was ist Ihnen, Isma?«

»Ich – ich –«, sagte sie, die Hand auf das Herz pressend, »ich habe wohl nicht recht verstanden – oder – oder – sagten Sie nicht –?«

»Gott sei Dank, sagte ich, denn Ihr Mann ist gerettet.«

»Gerettet?«

»Ja, hier steht es ja.«

»Gerettet?«

»Ihre Nachricht ist jünger als die meinige, ist von ihm selbst«, fuhr Ell fort. »Ich aber empfing diese Nacht durch Grunthe die Nachricht, daß der Ballon abgestürzt und Ihr Mann verschwunden sei. Ich glaubte ihn tot und wußte nicht, wie ich Ihnen, Isma – aber was ist Ihnen?«

Isma ergriff seine Hände. »O, Ell, Ell, verzeihen Sie mir!«

Er sah sie erstaunt an.

»Sie halten ihn für gerettet?« rief sie, indem ihr das Blut in die Wangen stieg. »Im ewigen Eis, in der Polarnacht? Wie soll er gerettet werden?«

»Da er glücklich aus dem Ballon auf die Erde gelangt ist und im Schutz der Eskimos steht, so droht ihm unmittelbar keine Gefahr.«

»Aber der Winter?«

»Wo die Eskimos überwintern, wird es Ihrem Mann auch gelingen. Es ist gewiß keine angenehme Aussicht, aber wie viele Forscher haben schon einen Winter in den Schneehütten der Eskimos zugebracht. Und darauf war er, mußten wir alle gefaßt sein, daß ein solcher Unfall eintrat. Nein, Isma, liebste Freundin, ängstigen Sie sich nicht. Wir werden dafür sorgen, daß im Frühjahr auf allen Seiten des Pols nach ihm gesucht wird. Vielleicht erhalten wir noch eine Nachricht. Er hat ja noch Tauben. Sehen Sie –«, er streichelte ihre Hand und versuchte zu lächeln, »verzeihen Sie mir, aber die Depesche, die Ihnen nur Trauriges meldete, für mich war sie eine Erlösung. Alles, was Grunthe und Saltner von Ihrem Mann wußten, bestand darin, daß er aus dem Ballon verschwunden war, als sie von ihrer Ohnmacht erwachten. Der Fallschirm wurde im Meer gefunden, von Torm keine Spur. Sie können sich denken, Isma, was ich in Ihrer Seele fühlte, wie mir zumute war, als ich Sie jetzt vor mir sah. Da atmete ich auf, als ich Ihre Depesche las. Nach dem, was ich wußte, ist es vielleicht die beste Nachricht, die sich überhaupt erhoffen ließ. Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr ich den Unfall Ihres Mannes bedauere; Sie aber dürfen stolz sein. Er hat sich selbst geopfert und die Gefährten dadurch gerettet. Alle Resultate der Expedition sind geborgen, selbst meine kühnsten Hoffnungen erfüllt.«

Isma starrte in die Ferne. Das Schicksal Torms nahm noch alle ihre Gedanken in Anspruch.

»Und ist Ihnen denn dies alles gleichgültig geworden?« fragte Ell. »Sie fragen nicht einmal, woher ich meine Nachricht habe?«

»Wie können wir uns des Erreichten freuen, und er, dem wir es verdanken, hat nichts von alledem? Den langen Winter – ach, wohl noch ein Jahr. – Ist es denn nicht möglich, noch jetzt, gleich, etwas für ihn zu tun?«

Ell sah sie schmerzlich enttäuscht an und schüttelte nur den Kopf.

Sie verstand seinen vorwurfsvollen Blick. Eine feine Röte überzog ihr Gesicht, und sie schlug ihre großen, sanften Augen wie bittend zu ihm auf. Sie sah entzückend aus. Ell wendete sich ab, er konnte den Anblick nicht länger ertragen.

Isma legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund«, sagte sie herzlich. »Erzählen Sie mir! Ich sehe ja selbst ein, daß ich mich in Geduld fassen muß. Aber es hätte mich so glücklich gemacht, sogleich etwas tun zu können.«

Ell schwieg noch immer. Er stützte den Kopf in seine Hand.

»Ich hab Sie darum nicht weniger lieb«, sagte Isma einfach.

Beide sahen sich tief in die Augen.

Ell sprang auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Dann blieb er vor Isma stehen.

»Ich dachte einen Augenblick – eine Möglichkeit, aber nein, es geht nicht. Es geht nicht.«

Er setzte sich ihr gegenüber.

»Hören Sie zu«, sagte er. »Was ich Ihnen jetzt sage, wird Ihnen unglaublich erscheinen. Aber die Beweise sollen Sie selbst sehen. Grunthe ist hier. Und Saltner ist auf der Reise nach dem Mars. Oben in meinem Garten liegt ein Luftschiff der Martier. Mein Oheim Ill, der Bruder meines Vaters, hat Grunthe darin hierhergebracht. Die Fahrt nach dem Pol dauert sechs Stunden –«

»Um Gottes willen, Ell, hören Sie auf!« rief Isma zurückweichend, die gefalteten Hände nach ihm ausstreckend. In ihren Augen malte sich Angst. Sie fürchtete für seinen Verstand. War das seine fixe Idee, die jetzt mit ihren Wahnvorstellungen zum Ausbruch kam?

Er stand auf und ging zur Tür. Isma blieb ratlos sitzen. Nur wenige Augenblicke, dann sprang sie auf.

Grunthe trat in das Zimmer. Er machte seine steife Verbeugung.

Isma starrte auf ihn wie auf eine Erscheinung.

»Lesen Sie diese Depesche«, sagte Ell zu Grunthe. »Frau Torm hat sie heute früh empfangen.«

Grunthe las, sah noch einmal nach dem Datum, und sagte dann: »Das ist eine sehr günstige Nachricht, unter den einmal vorhandenen Umständen.«

»Und nun bitte, Grunthe«, rief Ell, »tun Sie mir den Gefallen und geben Sie Frau Torm einen kurzen Bericht über Ihre Erlebnisse. Kommen Sie, setzen wir uns.«

Grunthe sprach in seiner knappen, fast trockenen Weise. Da war nichts übertrieben, keine Vermutungen, kein subjektives Urteil, alles klar wie ein mathematischer Beweis.

Isma saß regungslos. Ihre weitgeöffneten Augen hingen an Ell. Es überkam sie wie ein Gefühl der Ehrfurcht.

»Und nun ich hier bin«, schloß Grunthe, »darf ich keine Minute versäumen, den Bericht fertigzustellen. Wir haben alle unsre Kräfte anzustrengen, das zu beweisen, was uns niemand wird glauben wollen. Ich darf daher wohl auf Entschuldigung rechnen, wenn ich mich jetzt wieder zurückziehe. Würden Sie mir noch einen Augenblick schenken?« setzte er zu Ell gewendet hinzu.

Er verbeugte sich gegen Isma und wollte gehen.

Da sprang Isma auf und trat dicht vor Grunthe, der mit zusammengekniffenen Lippen stehenblieb.

»Ist es wahr«, fragte sie, »das Luftschiff liegt noch draußen?«

»Gewiß.«

»Und in sechs Stunden kann man zum Nordpol gelangen?«

Grunthe nickte bestätigend.

»Ich bin heute früh selbst in einer Stunde nach Wien und wieder zurückgefahren«, setzte Ell hinzu.

»Ich danke Ihnen«, sagte Isma zurücktretend.

»Entschuldigen Sie mich auf einen Augenblick – ich bin sogleich wieder hier«, sagte Ell zu Isma, indem er mit Grunthe das Zimmer verließ.

Sie nickte schweigend. Ihre Gedanken waren bei dem Luftschiff. In sechs Stunden konnte man am Nordpol sein – nur sechs Stunden! So lange braucht der Schnellzug nach Berlin. Das ist eine Spazierfahrt. Sechs Stunden nur trennten sie von Hugo. – – Wenn das Glück günstig war, wenn das Schiff die richtige Bahn beschrieb, so mußte man ihn bemerken, so konnte man ihn aufnehmen und zurückbringen – noch heute konnte er in Friedau sein –

Ach, aber ihn scheiden die Wüsten des Eises, die unzugänglichen Meere, die noch kein Forscher zu durchqueren vermochte – dort sitzt er in der kläglichsten Schneehütte, Monat auf Monat, ohne Licht, ohne Tat – in ewiger Nacht trauernd und sich sehnend nach der Heimat, umgeben von den Gefahren des furchtbaren Winters. – – Und hier daheim, hier reifen die Früchte seiner kühnen Fahrt, hier drängt sich von Stunde zu Stunde neues, lebendiges Schaffen, hier vollzieht sich das Unerhörte, noch nie Gewesene – von den Sternen steigen die Götter herab, um die Menschen zu laden zu ihrem seligen Wandel – hier, in dieser Stadt, in diesem Hause wird ein neues Zeitalter geboren, und er weiß nichts davon, kann nicht teilnehmen an dem Großen, was die ganze Erde erfüllt, an dem Höchsten, was erlebt wurde und was ihr Herz so erwartungsvoll schlagen macht – und sie muß es allein erleben –

Und vielleicht nur sechs Stunden –

Allein – den ganzen Winter allein in solcher Zeit, wo Seele zu Seele gehört – allein? Ja, wenn sie allein wäre! Aber der Freund? Wo bleibt er? Er ist länger draußen aufgehalten, aber er wird kommen – er wird kommen so wie heute, dann jeden Tag, der einzige Vertraute, mit dem sie alles teilen muß, was das Herz bewegt – mit ihm wird sie allein sein, der ihr so wert ist, so lieb, und nun vor ihr steht in einem neuen, geheimnisvollen Licht, der Sohn einer höheren Welt, zu dem sie aufblickt – –

Nein, nein! Sie will nicht allein sein, und nicht allein mit ihm –

Sie ringt die Hände und geht auf und ab im Zimmer. Sie blickt nach der geschlossenen Tür und glaubt seine Stimme zu hören. Sie blickt nach der Uhr – und der Gedanke läßt sie nicht los: Nur sechs Stunden! In sechs Stunden kann alles entschieden sein –

Ja, wenn sie mitfahren könnte, durch die Lüfte reisen nach dem Reich des Eises, wo er weilt – sie würde ihn finden, sie würde ihn ausspähen, wo er sich auch bärge, im Boot von Seehundsfell, in der Hütte von Schnee – bis in die Gletscherspalte würde ihr Auge dringen – sie schauerte zusammen. Vielleicht schon lag er – sie mochte das Schreckliche nicht denken. Diese furchtbare Ungewißheit – nein, das konnte, das wollte sie nicht ertragen. Und die Fragen, die ewigen, und das Mitleid – und das höhnische Zischeln, ob sie sich wohl tröstet – – oh!

Sie stampfte mit dem Fuß auf und preßte die Hände krampfhaft zusammen. Dann stand sie still wie ein Bild aus Stein. Und nun wußte sie es. Sie atmete tief auf. Die Starrheit löste sich. Ihr Entschluß war gefaßt.

Nur sechs Stunden!

Das Luftschiff zog sie mit magischer Gewalt an. Sie wollte fort, sie wollte an den Pol, sie würde ihn finden, den Verlorenen, sie, Isma Torm. Wenn es ein Unrecht war, daß sie um des Wunsches des Freundes willen den Mann nicht zurückhielt, so mochte dies ihre Buße sein, und die seinige!

Sie setzte sich und überdachte alles noch einmal in voller Ruhe.

Es war das Richtige, es mußte so sein.

Isma erhob sich und schritt auf die Tür zu, als ihr Ell aus derselben entgegentrat.

Er stutzte bei ihrem Anblick. Die Trauer und Angst aus ihren Zügen war verschwunden. Sie stand aufgerichtet vor ihm. Aus ihren tiefblauen Augen sprach jene Innigkeit des Gefühls, die ihn immer hingerissen hatte. Auf ihren Lippen lag es wie ein leises Lächeln.

»Ell«, sagte sie – sie stockte einen Augenblick wie verlegen »bei Ihrer Freundschaft, wenn Sie mich liebhaben –«

»Isma!«

»Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?«

»Was Sie wollen!«

»Sprechen Sie bei Ihrem Oheim für mich, daß er mich in seinem Luftschiff mit nach dem Pol nimmt und mich wieder hierherbringt, wenn wir Hugo gefunden haben – ja, ja – ich werde ihn finden, wenn ich mit dem Luftschiff ihn suchen darf – o, weigern Sie sich nicht –«

Sie faßte seine Hände und sah ihn flehend an. Zwei Tränen traten in ihre Augen.

»Und – kommen Sie selbst mit!« setzte sie hinzu.

Ell fand nicht sogleich Worte. Das hatte er nicht erwartet.

»O Isma, Isma«, rief er endlich. »Was verlangen Sie? Diese Reise ist nichts für Sie. Die Nume werden selbst suchen, sie suchen schon, und was die nicht finden, werden auch Sie nicht finden.«

»Ich werde es. Was sind fremde Augen gegen die der Frau? Ich werde sehen, wo andere nicht hinblicken. Es sind nur sechs Stunden – so nahe –, und ich soll hier müßig sitzen – den Gedanken ertrage ich nicht –«

»Ich bitte Sie, Isma, bedenken Sie meine Lage. Jetzt darf ich, kann ich nicht von hier fortgehen. Jetzt gilt es, die Menschheit auf den Besuch der Martier vorzubereiten. Was ich seit Jahren erwartet, ich muß nun die Konsequenzen ziehen –«

»Es handelt sich vielleicht nur um wenige Tage.«

»Die habe ich meinem Oheim zu andern Zwecken versprochen. Und dann muß ich wahrscheinlich nach Berlin.«

»Dann bin ich also ganz allein«, sagte Isma leise.

»Nein, nein – ich komme bald wieder.«

Isma wandte sich schweigend ab. Dann kehrte sie plötzlich zurück und sagte fast hart:

»Führen Sie mich zu Ihrem Oheim, ich will ihn bitten. Und wenn Sie nicht fortkönnen, lassen Sie mich allein mitgehen. Lassen Sie mich hingehen, Ell!«

Ell kämpfte mit sich. Mit düstern Blicken starrte er durchs Fenster.

»Wo ist das Schiff?« fragte Isma. »Ich will die Nume bitten, sie werden einer verlassenen Frau nicht abschlagen, was der einzige Freund ihr nicht gewähren will.«

»Isma, seien Sie vernünftig!«

»Das Vernünftige ist die Pflicht. Und dies ist der einzige Weg, sie zu erfüllen.«

»Und meine Pflicht ist die Versöhnung der Planeten. Dagegen muß das Geschick des einzelnen zurücktreten.«

»Darum eben gehe ich allein.«

»Das werde ich nie zugeben.«

»Ich will«, sagte Isma finster. »Ich will zu meinem Mann.«

Ell stöhnte. Er sah, wie sie entschlossen der Tür zuschritt. Sie drehte sich noch einmal um, mit tiefer Trauer im Antlitz.

»Bleiben Sie, Isma«, rief er. »Ich bringe Ihnen Hugo, wenn es in der Macht der Menschen steht und der Nume!«

»Nehmen Sie mich mit!«

»Kommen Sie zu Ill. Alles hängt von seiner Entscheidung ab.«

Ell brachte Isma zu seinem Oheim. Es hätte ihr wenig genutzt, ihre Sache bei Ill zu vertreten, wenn nicht Ell sie zu der seinigen gemacht hätte. Denn Ill verstand nicht deutsch, Ell mußte daher die Verhandlungen führen. Ill, der Isma mit herzlichster Teilnahme begegnete, versprach sofort, daß nach seiner Rückkehr mit Hilfe des Luftschiffes die sorgfältigste Durchforschung des arktischen Gebietes vorgenommen werden solle, so lange die Martier dazu noch Zeit hätten. Dazu wäre er ohnehin entschlossen gewesen, und nur die Zurückführung Grunthes und die Aufsuchung Ells hätten zuvor erledigt werden müssen. Übrigens würde schon jetzt nach Torm gesucht, da noch ein kleineres Luftboot, freilich zu weiteren Reisen nicht verwendbar, in Dienst gestellt werde. Er sähe daher nicht ein, wozu es notwendig sei, daß Ell oder gar Isma zu diesem Zweck ihm an den Pol folgen sollten. Ersterer wäre jetzt in Deutschland nicht zu entbehren, um Grunthe in der Darstellung der Resultate der Expedition zu unterstützen. Man würde ihn auch jedenfalls seitens der Regierung zu Rate ziehen.

Ell gab dies gern zu; es war ja vollständig seine Ansicht. Er sagte, daß er nur den innigsten Wunsch von Frau Torm vertrete. Isma brachte nun selbst ihre Bitte vor, mit rührendem Ton, in Ills Gegenwart. Ell, der jetzt erst hörte und im übrigen erriet, was Isma zur Reise antrieb, fühlte seinen Widerstand gebrochen. Er unterstützte nunmehr ihre Bitten und wollte sie unter keinen Umständen verlassen. Er stellte daher Ill vor, daß sich seine Reise wohl mit seinen Pflichten gegen die Martier vereinen lasse, da sie doch nicht länger als acht bis zehn Tage dauern würde. Denn gleichviel, ob Torm gefunden werde oder nicht, vor ihrer Abreise nach dem Mars würden ja die Martier ihn und Isma zurückbringen. In dieser Zeit aber sei er um so eher entbehrlich, als sich die erste Aufregung über das Erscheinen der Martier erst einigermaßen legen müsse, ehe es zu ernsthaften Entschlüssen der Regierungen kommen könne. Bis dahin sei er wieder zu Hause; inzwischen reiche Grunthe vollständig aus, die erforderliche Auskunft zu geben. Es stehe also dabei eigentlich weiter nichts in Frage, als daß die Martier sich der Mühe unterzögen, noch einmal eine Fahrt vom Pol nach Friedau und zurück zu machen. Das aber sei doch in zwölf Stunden erledigt.

Ell führte dies, hin und wieder von seinem Oheim unterbrochen, in eifriger Rede aus. Isma hörte dem Gespräch, von dem sie kein Wort verstand, geduldig zu. Sie erschrak, wenn sie aus Ills Augen auf eine ablehnende Antwort schließen zu müssen glaubte. Jetzt aber lächelte Ill und sagte:

»Die Transportfrage, euch beide mitzunehmen und wieder herzubringen, ist für uns kein Hindernis. Persönlich würde es mich sehr freuen, dich bei mir zu haben, und sogar sachlich könnte es von Vorteil sein, da Fälle denkbar sind, in denen wir unser Schiff verlassen müssen, um das Land zu betreten; und dann würdest du mit den Eskimos, die wir mitnehmen werden, mehr leisten können als wir. Ich wundere mich aber, warum du für den Wunsch der Frau Torm so eifrig eintrittst, der eigentlich nur einer Stimmung, man möchte fast sagen, einer Einbildung entspringt.«

»Sie hegt nun einmal den Wunsch«, erwiderte Ell etwas verlegen, »sie hält die Reise für ihre Pflicht, und es ist der einzige Trost, den ich ihr gegenwärtig geben kann, wenn ich ihren Wunsch zu erfüllen suche.«

Ill blickte seinem Neffen mit Herzlichkeit ins Auge. »Du liebst diese Frau.«

Ell schwieg.

»Und du willst sie mitnehmen und begleiten, um ihr den Gatten wiederzugeben?«

»Ja.«

»So machst du ihren Wunsch zu dem deinen?«

»Vollständig.«

»Ich möchte dir deine erste Bitte nicht abschlagen. Aber es ist noch ein prinzipielles Bedenken. Zugegeben, deine Abwesenheit von hier für kurze Zeit wäre allenfalls belanglos. Es könnte aber ein unglücklicher Zufall eintreten, der uns verhindert, hierher zurückzukehren. Deine Abwesenheit könnte sich auf den ganzen Winter ausdehnen. Dann übernehmen wir eine furchtbare Verantwortung. Das Verständnis zwischen den Planeten steht auf dem Spiel.«

»Ich weiß es. Es ist der Gedanke, der mich zuerst der Bitte von Frau Torm widerstehen ließ, der mich in Konflikt mit mir selbst brachte. Aber gerade, weil wir nicht allwissend sind, dürfen wir einen solchen Umstand nicht in die Berechnung ziehen; er ist nur als Zufall zu behandeln; ich kann morgen tot sein, auch wenn ich nicht aus meinem Zimmer gehe. Ich habe mich nun einmal um Ismas willen entschlossen; was daraus wird, muß ich mit meinem Gewissen abmachen. Daß ich nicht eigennützig handle, weißt du.«

»Sonst hätte dein Wunsch für uns nicht existiert.«

»So aber, da es sich nur um Chancen des Gelingens oder Mißlingens handelt, dürfen wir auch nicht vergessen, daß mit der größeren Wahrscheinlichkeit unsre Reise das Verständnis zwischen den Planeten fördern wird. Wenn es uns gelingt, Torm zu retten, wenn er durch die Nume hierhergebracht wird, so haben wir das Zutrauen der Menschen und ihren Glauben an uns in viel höherem Grad gewonnen, als sie selbst durch mein Fernsein verloren werden könnten. Ich glaube also, daß wir im Interesse der Planeten selbst wirken, wenn wir Torm suchen. Dieser Grund ist mir allerdings erst jetzt eingefallen.«

Ill lächelte wieder. »Er würde auch gelten, wenn Frau Torm uns nicht begleitete. Wir gewinnen aber durch sie eine Zeugin, die uns von Nutzen sein kann. Doch gleichviel. So will ich denn einen Vorschlag machen, das Äußerste, was ich zugeben kann. Ich beurlaube dich von der Begleitung nach Rom, Paris und London. Dagegen kürze ich unsern Aufenthalt in Europa ab und komme von Petersburg aus nicht erst hierher zurück, sondern gehe sogleich von dort nach Norden. Wollt Ihr also mit, so müßt ihr – wir haben heute, nach eurer Zeitrechnung –?«

»Den 9. September.«

»Nun gut. So haltet euch bereit, im Laufe des 11. Septembers mit uns aufzubrechen.«

Ell sprang in die Höhe. Er dankte Ill und sagte freudig zu Isma: »Wir dürfen mit. Aber wir müssen übermorgen reisefertig sein.« Und mit ernsterem Ausdruck setzte er hinzu: »Wollen Sie nicht lieber von Ihrem Vorhaben abstehen? Sie können gewiß sein, daß die Nume alles tun werden, um Hugo aufzufinden. Bleiben Sie hier, Isma!«

Isma stand einen Augenblick unschlüssig. Sie sah sich in der Kajüte des Luftschiffes um, in welcher sie saßen.

Ill drückte auf einen Griff. Auf beiden Seiten der Kajüte öffnete sich je eine Tür.

»Hier sind noch zwei Kabinen, je für einen Gast«, sagte er. »Sie werden es etwas eng, aber sonst ganz bequem haben. Es versteht sich von selbst, daß ihr meine Gäste seid«, setzte er zu Ell gewendet hinzu.

Isma verstand nicht seine Worte, aber seine Handbewegung. Sie streckte Ill schüchtern ihre Hand entgegen, die er zwischen die seinigen nahm.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie, »von ganzem Herzen.« Dann wandte sie sich zu Ell. Sie sah ihn mit einem Blick an, dem er nicht widerstehen konnte.

»O zürnen Sie mir nicht, mein lieber, treuer Freund. Ich werde es Ihnen nie vergessen, was Sie heute für mich taten. Ich kann nicht hierbleiben, ich will hinaus. Und wenn Sie mitgehen, so danke ich ihnen, denn unter diesen Fremden allein – es ist mir alles so beängstigend – und keiner versteht mich – aber mit Ihnen – o Ell, ich weiß, welches Opfer Sie mir bringen, und ich habe es nicht um Sie verdient.«

Mit Tränen in den Augen reichte sie ihm die Hände.

»Also übermorgen.«

»Noch eins«, sagte Ill, »eine Bedingung, die ich machen muß. Unsere Nachforschungen werden am 12. September beginnen. Sie müssen aber am 20. unter allen Umständen aufhören. Sind wir bis dahin nicht glücklich gewesen, so müssen Sie es tragen. Am Morgen des 21. September setzt Sie dieses Schiff wieder hier ab. Und so Gott will, schon früher und – zu dreien.«

Ell übersetzte Isma die Worte.

»Gott sei uns gnädig!« sagte sie leise.

»Und wie ist es mit der Reise nach den Hauptstädten?« fragte Ell.

»Die mache ich morgen. Ich habe es mir nach deinen Karten und Angaben schon berechnet. Die ganze Fahrt von hier nach Rom, über Paris nach London und von dort zurück könnten wir in kaum fünf Stunden zurücklegen. Wir werden uns aber viel mehr Zeit nehmen. Nur hier breche ich ungesehen auf, vor Sonnenaufgang. Denn da wir wieder hierher zurückkommen, würde ich dir und uns die ganze Bevölkerung auf den Hals ziehen und vielleicht ernstliche Schwierigkeiten haben, wenn man von unserm Hiersein wüßte. Dagegen werden wir unsere Fahrt, wenn wir erst jenseits der Alpen sind, und dann in Frankreich und England, zum Teil absichtlich langsam und möglichst vor aller Augen ausführen. Die Menschen sollen sehen, was wir können, sie werden dann Grunthe eher glauben. Auf irgendeinem unzugänglichen Alpengipfel werden wir einige Stunden ungestört Mittagsruhe halten. Paris, London, Amsterdam, Brüssel besuchen wir im Lauf des Nachmittags und Abends. Sobald es dunkel genug ist, landen wir wieder hier. Und nun besorge deine Geschäfte und bereite alles vor.«

Ell führte Isma aus dem Schiff. Sie zitterte an seinem Arm.

»Sie muten sich zuviel zu, liebste Freundin.«

»Nein, nein«, sagte sie. »Ich weiß, was ich kann. Es ist nur die ungewohnte geringe Schwere in dem Schiff – aber ich werde mich daran gewöhnen. Es ist schon wieder besser in der freien Luft.«

»Ill wird es gewiß arrangieren können, daß Sie nicht immer in der Marsschwere zu sein brauchen.«

»Das ist ja alles gleichgültig. Nun will ich nur schnell nach Hause. Sie können sich denken, daß ich viel zu tun habe«, sagte sie mit schwachem Lächeln.

»Warten Sie, ich will einen Wagen holen lassen.«

»Das dauert zu lange. Können Sie mich nicht hier aus dem Parkpförtchen lassen? Dann spare ich Weg.«

»Gewiß, ich habe den Schlüssel hier.«

Ell öffnete die kleine Tür in der Mauer. Sie führte auf einen Promenadenweg, der von den Friedauern vielfach benutzt wurde, da er zu einem beliebten Spazierort führte. Es war inzwischen neun Uhr geworden.

Isma zog den Schleier vor das Gesicht. Noch ein herzlicher Händedruck, und sie schritt schnell den Weg nach der Stadt hinab.

Zwei Herren begegneten ihr, die sie scharf ansahen und sich dann etwas zuflüsterten.

Ell war noch einen Augenblick stehen geblieben und hatte ihr nachgeblickt. Als er in die Tür zurücktreten wollte, waren die beiden Spaziergänger herangekommen.

»Ach, guten Morgen, Herr Doktor«, sagte der eine mit näselnder Stimme. »Was macht der Nordpol?«

»Schon so früh interessanten Besuch gehabt? Wie?« sagte der andere. »Wohl sehr besorgt um den Herrn Gemahl?«

Ell sah den Sprecher von oben bis unten an und drehte ihm, ohne ein Wort zu sagen, den Rücken. Vor dem Blick Ells wich er erschrocken zurück, und aus Ärger über seine eigene Verlegenheit rief er Ell protzig nach:

»Na, na, man wird doch wohl fragen dürfen?«

Ell drehte sich um. »Nein, Herr von Schnabel, was einen nichts angeht, wird man nicht fragen dürfen. Adieu.«

»Ich bitte doch, soll das vielleicht eine Zurechtweisung sein? Dann möchte ich allerdings noch um eine Aufklärung bitten.«

»Tun Sie, was Sie wollen«, sagte Ell. »Ich habe keine Zeit.« Er schloß die Tür hinter sich und ging zu Grunthe zurück.

24. Kapitel

Die Lichtdepesche

Sobald die Redaktion der ersten Berichte beendet war, begab sich Grunthe nach dem Ministerium, um seine Anwesenheit in Friedau und die vorgelegten Dokumente beglaubigen zu lassen. Von dort trug er die Depeschen sogleich nach dem Telegraphenamt. Die Beamten hatten ihn verwundert angestarrt. Einige Friedauer erkannten ihn unterwegs und versuchten, ihn auszuforschen. Aber auf alle Fragen hüllte er sich in Schweigen, und so gelang es ihm, noch ziemlich ohne Aufsehen nach der Sternwarte zurückzugelangen, während sich in der Stadt bereits das Gerücht von der Rückkehr der Expedition und wunderbare Fabeln von den Bewohnern des Mars verbreiteten.

Noch ehe Grunthe zurückkehrte, erhielt Ell den Besuch eines ihm befreundeten Oberlehrers des Friedauer Gymnasiums, Dr. Wagner. Der elegant gekleidete Herr trat mit einem etwas gezwungenen Lächeln ein und sagte, nach der ersten Begrüßung verlegen sein Schnurrbärtchen drehend: »Ich habe da einen etwas fatalen Auftrag, den ich aber nicht ablehnen konnte. Weil wir uns ja kennen, dachte ich, ich könnte die Sache am besten beilegen. Weißt du, du hast da heute früh mit dem Herrn von Schnabel –«

Ell machte eine abwehrende Bewegung.

»Na ja«, sagte Wagner, »es ist ein nicht sehr angenehmer Herr, hä, außerdem so etwas« – er klopfte mit dem Finger an die Stirn – »seinerseits taktlos und dabei furchtbar empfindlich. Du hast ihn ja wahrscheinlich ganz mit Recht abfallen lassen, aber er fühlt sich von dir brüskiert, und ich soll da eine Art von Erklärung fordern.«

»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Ell lächelnd, »ich habe ihm verwiesen, naseweise Bemerkungen zu machen über Dinge, die ihn nichts angehen. Ich habe ihn vielleicht etwas schroff behandelt, aber einerseits hat er es verdient, andrerseits hatte ich den Kopf wirklich mit wichtigeren Dingen voll, als sie die Neugier von Herrn Schnabel erregen. Wenn es ihn tröstet, so sage ihm, daß mir nichts ferner gelegen hat als ihn beleidigen zu wollen.«

»Hm – ich weiß nicht, ob ihm das genügen wird, er verlangt, daß du deine Äußerungen formell zurücknimmst.«

»Ich habe nichts zurückzunehmen, da ich nur die Wahrheit gesagt habe, er muß sich also schon an der Erklärung genügen lassen, daß ich ihn nicht beleidigen wollte. Eine Unhöflichkeit ist noch keine Beleidigung. Wenn er sich aber seiner Fragen wegen entschuldigen will, so bin ich auch bereit, wegen der unhöflichen Form meiner Antwort um Entschuldigung zu bitten. Ich dächte, die Angelegenheit wäre erledigt.«

»Ich fürchte«, sagte Wagner verlegen, indem er aufstand, »es werden sich da wohl noch weitere Folgen daran knüpfen. Ich kenne ja deine Ansichten über dergleichen Affären, ich bin auch ganz deiner Meinung, aber, hä, in meiner Stellung, ich muß da Rücksichten nehmen, weißt du, du wirst mir's also zugutehalten – ich wollte nur vermitteln und werde ihm zureden. Wenn es nur nützt! Er wird dir wohl da noch einen Kartellträger schicken.«

»Er soll sich nur die Mühe sparen, ich würde den Herrn an die Luft setzen. Aber ich danke dir für deine Bemühung. Also, wie gesagt, erkläre ihm in aller Form, daß mir jede Absicht einer Beleidigung ferngelegen hat, daß ich mir aber das Recht vorbehalten müßte, mir unberufene Fragen zu verbitten, und er sich in bezug hierauf zunächst selbst zu entschuldigen hätte. Und nun entschuldige du auch mich, alter Freund, du wirst heute noch merkwürdige Dinge von mir hören.«

Wagner wollte weiter fragen, aber Ell verabschiedete sich freundschaftlich, und Wagner ging kopfschüttelnd ab.

Schon eine Stunde später – Grunthe war eben zurückgekommen, und Ell wollte sich mit ihm zu Tisch setzen – Ill hatte die Einladung abgelehnt, er wollte ruhen –, erschien der Kartellträger des Herrn von Schnabel und überbrachte Ell eine Forderung.

Der Herr, ein junger Assessor, hatte sich seines Auftrages kaum in feierlichster Weise erledigt, als Ell ihm mit blitzenden Augen entgegentrat und ihn anfuhr:

»Wie können Sie sich unterstehen«, rief er, »mich durch eine derartige Zumutung zu beleidigen? Wofür halten Sie mich? Bin ich ein rauflustiger Bruder Studio oder ein pflichtvergessener Narr? Ich bin ein Mann, der seine Arbeitskraft ernsten Dingen schuldet. Übrigens bedauere ich Sie«, sagte er milder, »Sie haben sich jedenfalls nicht klargemacht, was Sie tun. Ich wünsche von der Sache nichts mehr zu hören.«

Der Assessor wollte auffahren, aber auf eine Handbewegung Ells machte er kehrt und verließ das Zimmer.

Ell setzte sich mit Grunthe zu Tisch.

»Das wird auch Zeit«, sagte er, noch etwas erregt von dem letzten Auftritt, während er seine Serviette entfaltete, »daß mit diesem Unfug einmal aufgeräumt wird. Das ist so einer von den Punkten, in denen die Martier keinen Spaß verstehen. Ich will hoffen, daß es nicht zu Konflikten kommt.«

*

Im Lauf des Nachmittags wurden von allen Zeitungen, nicht bloß in Deutschland, sondern in ganz Europa, Extrablätter ausgegeben.

»Neues vom Nordpol!« – »Die Bewohner des Mars auf der Erde!« – »In sechs Stunden vom Nordpol!«

So und ähnlich lauteten die Ausrufe auf den Straßen. Man riß sich die Blätter aus der Hand. Vom Erlös für dieselben hätte man allein eine neue Nordpolexpedition ausrüsten können.

Die Blätter enthielten zuerst die Depesche Torms an Isma. Sodann folgten ein knapper Bericht Grunthes über die weiteren Erlebnisse der Expedition und kurze Angaben über die Martier und seine Heimkehr. Endlich eine Bestätigung der letzteren durch Ell und die Beglaubigung seitens des fürstlichen Staatsministeriums in Friedau, daß Grunthe die im Bericht erwähnten Dokumente und Effekten persönlich vorgelegt habe.

Nur eines war mit Stillschweigen übergangen, nämlich daß sich das Luftschiff noch in Friedau befinde. Dagegen war die Abstammung Ells kurz erwähnt worden, weil sie dazu dienen konnte, das Unbegreifliche einigermaßen der menschlichen Vorstellungskraft näherzurücken.

Ein ausführlicher schriftlicher Bericht war noch vormittags an den Reichskanzler abgegangen. Am Abend schon traf eine telegraphische Depesche ein, durch welche Grunthe und Ell ersucht wurden, sich sobald als möglich mit allen Beweisstücken persönlich in Berlin einzustellen. Se. Majestät habe sofortigen Bericht eingefordert. Eine Stunde später erhielt Grunthe ein Glückwunsch-Telegramm des Kaisers, ebenso Frau Torm eine in sehr liebenswürdiger Form ausgesprochene Beileidsbezeugung, in welcher das Vertrauen auf die glückliche Heimkehr ihres Gatten ausgedrückt war.

Von dem Augenblick an, in welchem die Extrablätter ausgegeben wurden, war die Sternwarte Ells von Besuchern bestürmt. Das Läutwerk des Telephons kam so wenig zur Ruhe wie die Türklingel, und bald häuften sich Telegramm auf Telegramm, Glückwünsche und Anfragen. Da dies vorauszusehen war, hatte Ell einige seiner persönlichen Freunde in Friedau gebeten, ihn zu unterstützen. Sie ordneten die Eingänge der Depeschen und empfingen die Besuche. Ell und Grunthe ließen sich nicht sehen. Beide trafen die Vorbereitungen zu ihren Reisen. Grunthe mußte allein nach Berlin gehen, was ihm nicht sehr angenehm war. Ell gab ihm die fertiggestellten Manuskripte mit. Ein Berliner Verleger hatte ihm bereits telegraphisch einen hohen Preis geboten für alles, was er über die Martier schreiben wolle. Ell verlangte das Zehnfache und erhielt es sofort zugestanden, da der Verleger wußte, daß man von London aus das Zwanzigfache geben würde. Ell bestimmte das Honorar für die Teilnehmer der Expedition.

Isma hatte auf Ells Rat ihre Besorgungen sogleich am Vormittag gemacht, soweit sie dazu in die Stadt gehen mußte. Denn es ließ sich erwarten, daß sie keine Ruhe mehr finden würde, sobald die Nachricht bekannt geworden sei. Sie fühlte sich zu angegriffen, um die sich drängenden Besuche anzunehmen, fand aber ebenfalls einige Freundinnen, die ihr diese Mühe abnahmen und sich ein Vergnügen daraus machten, ihr spezielles Wissen immer wieder aufs neue mitzuteilen. Von ihrer Absicht, zu verreisen, sagte sie nichts. Nur ihrem Mädchen teilte sie mit, daß sie in den nächsten Tagen auf etwa eine Woche von Friedau fortgehen würde; sie konnte ihr vertrauensvoll die Wohnung überlassen.

Am folgenden Tag reiste Grunthe frühzeitig, bald nachdem sich das Luftschiff der Martier unbemerkt entfernt hatte, nach Berlin ab. Die Flut der Anfragen bei Ell nahm noch zu. Es kamen jetzt auch auswärtige Besucher, und nicht alle durfte er abweisen. Vor dem Gittertor der Sternwarte stand den ganzen Tag über eine Menge Neugieriger und guckte in den Hof, als ob dort etwas zu sehen wäre. Gegen Abend verließ Ell durch die Parkpforte sein Grundstück und begab sich zu Isma, um sie zu fragen, ob er ihr noch irgendwie behilflich sein könne. Isma dankte.

»Es ist ja nur eine kurze Reise«, sagte sie wehmütig lächelnd.

Man verabredete, daß sie am andern Morgen frühzeitig an der Parkpforte sein solle. Ihren kleinen Handkoffer konnte das Dienstmädchen tragen.

Auf dem Rückweg besorgte Ell noch einigen Proviant, den er auf Grunthes Rat mitnehmen wollte, weil die Lebensmittel der Martier für den Anfang vielleicht Isma und ihm nicht zusagen würden. Er nahm daher seinen Weg durch die Stadt. Hier aber heftete sich bald die Straßenjugend neugierig an seine Fersen und folgte ihm auf jedem Schritt. Anfänglich hielten die Kinder sich scheu zurück, dann brachte ein Witzbold das Wort auf: »Das ist der vom Monde, der Mann vom Monde! Guck här, 's kummt eener vom Monde!« Ell beeilte sich, nach Hause zu gelangen. Er nahm sich nicht Zeit, eines der Extrablätter zu kaufen, zu denen sich das ›Friedauer Intelligenzblatt‹ in Ermangelung einer Abendausgabe aufgerafft hatte.

Das Extrablatt brachte bereits einen Bericht über den Empfang Grunthes beim Reichskanzler, der indessen offenbar der Phantasie eines Berliner Korrespondenten entsprungen war. Dann aber enthielt es Depeschen aus Rom, Florenz, von der meteorologischen Station des Montblanc, aus Paris und London über die Beobachtung eines Luftschiffs. Das Luftschiff war zuerst in Rom wahrgenommen worden, wo es am Morgen schon um sieben Uhr auftauchte, die Stadt umkreiste und nach allen Richtungen hin überflog. Es entfernte sich nach einer Stunde, wurde im Laufe des Vormittags noch in verschiedenen italienischen Städten gesehen, um 11 Uhr umflog es in unmittelbarer Nähe die Spitze des Montblanc, so daß die anwesenden Touristen die Bemannung des Fahrzeugs erkennen konnten. In Paris und London waren diese Nachrichten schon durch Extrablätter bekanntgegeben, man achtete also am Nachmittag gespannt darauf, ob sich das Schiff zeigen würde. Alsbald verbreitete sich in Paris das Gerücht, das Luftschiff sei eine Erfindung der Preußen und speziell dazu bestimmt, die Befestigungen von Paris auszukundschaften. In der Tat erschien das Luftschiff um 3 Uhr nachmittags am Horizont und umkreiste in langsamem Segelflug die Forts im Südosten der Stadt. Man wurde unruhig und löste einen Warnungsschuß. Darauf stieg das Schiff etwas höher und umflog nun den ganzen Kreis von Befestigungen, aber auf der inneren Seite nach der Stadt zu, so daß man ihm nichts anhaben konnte, ohne die Stadt selbst zu gefährden. Um fünf Uhr schoß es in die Höhe und erschien eine halbe Stunde später in London. Es überschritt die Themse bei Greenwich, zog dann in einem weiten Halbkreis nördlich um die Stadt, wandte sich am Hyde Park wieder nach Osten und kreuzte über dem Häusermeer. Auf allen freien Plätzen standen dichtgedrängte Volksmassen, welche mit Tüchern winkten und Hurra schrien. Böllerschüsse wurden gelöst, und die Schiffe auf dem Fluß hißten ihre Flaggen. Das Luftschiff aber kümmerte sich um nichts. Sobald die Sonne sich zum Untergang neigte, zog es die Flügel ein und stieg senkrecht so hoch in die Lüfte, daß es den Blicken entschwand, und man nicht angeben konnte, wohin es sich gewendet hatte.

Um zehn Uhr abends senkte sich eine dunkle Masse langsam auf den Garten der Sternwarte von Friedau.

Es war zwischen zwei und drei Uhr nachts, als Ell davon erwachte, daß die Sonne hell in sein nach Norden gelegenes Schlafzimmer hineinschien. Verwirrt richtete er sich auf, aber ehe er bis an das Fenster gelangte, war die Erscheinung verschwunden. Die Nacht war nur vom matten Schimmer des aufgehenden Mondes erhellt. Plötzlich aber leuchtete ein beschränkter Bezirk der Landschaft wieder im Sonnenlicht, und diese erhellte Stelle veränderte ihren Ort, in gerader Linie von Norden nach Süden laufend, bis sie den Garten der Sternwarte, jetzt etwas westlich vom Haus, wieder erreichte. Da die Richtung des in der Luft deutlich erkennbaren Lichtstreifens unter einer Neigung von etwa 24 Grad direkt nach Norden lief, so war es Ell sofort klar, daß man die Gegend von der Ringstation der Martier aus mit einem riesigen Reflektor systematisch absuchte. Denn dieser Punkt lag für die Friedauer Warte in einer Höhe von 23 Grad 56 Minuten. Ell kleidete sich daher schleunigst an und begab sich nach dem Garten, wo das Luftschiff lag.

Er bemerkte, daß das Schiff seine Lage verändert hatte. Es befand sich jetzt auf der Südseite des geräumigen Rasenplatzes, so daß der Blick nach Norden über die Bäume freier wurde und die Spitzen derselben tiefer als 24 Grad lagen. Als er auf den Platz trat, war das Schiff und die südliche Baumwand so stark von der Sonne beleuchtet, daß er geblendet wurde. Aber noch hatte er das Schiff nicht erreicht, als das Licht verschwand. Sein Weg wurde jetzt nur durch den schwachen Schein einer Lampe aus dem Innern des Fahrzeugs erhellt.

Ill war damit beschäftigt, einen Ell unbekannten Apparat einzustellen. Ein Offizier des Schiffes war ihm dabei behilflich.

»Entschuldige, wenn ich störe«, sagte Ell, »aber ich glaubte bemerkt zu haben, daß man Zeichen von der Außenstation gibt.«

»Es ist so«, sagte Ill, »und sie haben uns jetzt gefunden. Es muß etwas Wichtiges passiert sein. Nimm Platz und gedulde dich ein wenig. Wir werden sogleich die Unterhaltung beginnen können. Die Verbindung ist bereits optisch hergestellt, wir müssen jetzt langwellige unsichtbare Strahlen anwenden, um telephonieren zu können.«

Ell fragte erstaunt: »Telephonieren? Du willst mit der Station sprechen?«

»Ja«, sagte Ill, »vermittels der Strahlen. Aber es muß nun vollständige Ruhe herrschen.«

Ell setzte sich still in den Hintergrund. Eine Hoffnung stieg in ihm auf. Sollte man vielleicht Torm gefunden haben?

Ill brachte sein Ohr an den Apparat. Ell vermochte nichts zu hören, auch was Ill sprach, konnte er nicht vernehmen, da es ganz leise in den telephonischen Apparat gesprochen wurde.

Etwa eine halbe Stunde mochte so vergangen sein. Dann wendete sich Ill zu seinem Neffen.

»Wir müssen unsern Aufbruch aufs möglichste beschleunigen«, sagte er. »Meine Anwesenheit auf der Insel ist dringend erforderlich, voraussichtlich unsere Hilfe.«

»Was ist geschehen? Keine Nachricht von Torm?«

»Bis jetzt nicht. Ich sagte dir bereits, daß wir noch ein kleineres Luftboot in Betrieb setzen wollten. Das ist geschehen. Es bedarf nur vier Mann zur Besatzung, kann aber auch nur die halbe Geschwindigkeit im Mittel erreichen wie hier unser Luftschiff. Für die Fahrten im Polargebiet hat es sich jedoch, wie ich eben erfahre, als sehr geeignet erwiesen. Die Unsern sind damit in drei Stunden bis zum 80. Breitengrad nach Süden gelangt. Mit diesem Boot sind die Nachforschungen nach Torm aufgenommen worden. Und bei dieser Gelegenheit ist es zu dem unangenehmen Zwischenfall gekommen, der meine sofortige Rückkehr erfordert.«

»Ein Unglücksfall?«

»Ein Konflikt mit einem europäischen Kriegsschiff.«

»Nicht möglich! Wo?«

»Auf 81 Grad Breite, 294 Grad Länge ungefähr. Infolge eines Mißverständnisses jedenfalls – ich sehe darin noch nicht ganz klar – sind unsre Leute am festen Land, während sie verunglückten Matrosen des Kriegsschiffs Hilfe zu bringen versuchten, von anderen überfallen worden. Zwei gerieten in Gefangenschaft der Menschen, die beiden anderen konnten auf dem Luftboot entfliehen. Das Boot selbst ist beschossen worden und scheint dabei gelitten zu haben. Ich muß also mit unserm Schiff hin, um auf jeden Fall die beiden Leute zurückzuholen. Und so bleibt gar nichts übrig, du mußt dich sogleich aufmachen und versuchen, Frau Torm zu wecken und hierherzubringen, wenn sie dabei beharrt, uns zu begleiten. Größte Eile tut not. Wir machen inzwischen unser Schiff klar.«

Es war für Ell eine recht peinliche Aufgabe, mitten in der Nacht und möglichst ohne Aufsehen zu erregen Isma zur Reise nach dem Nordpol abzuholen. Doch es mußte geschehen. Schließlich kam es jetzt schon nicht mehr darauf an, ob sich die bösen Zungen von Friedau noch etwas mehr aufregten.

Isma, die in dieser Zeit stets gefaßt war, durch eine Nachricht aus dem Schlaf geweckt zu werden, eilte ans Fenster, als Ell die Hausklingel ertönen ließ. Sie erkannte Ell. Wenige Worte genügten zur Verständigung. Eine halbe Stunde später verließ sie das Haus, ohne daß ihr Mädchen, das auf der andern Seite der Wohnung schlief, erwacht wäre. Ein paar Worte, die Isma auf einem Zettel zurückließ, besagten nur, daß sie ihre Reise unerwartet schnell hätte antreten müssen. Aus der Dunkelheit tauchte Ell neben ihr auf und nahm ihr den Handkoffer ab. Ein verschlafener Nachtwächter sah ihnen verwundert nach.

In tiefer Ruhe, wie ausgestorben lag die Stadt Friedau, als im ersten Grauen der Morgendämmerung das Luftschiff der Martier sich erhob, um alsbald mit der größten Anspannung seiner Maschine sich durch die Höhen des Luftmeers nach Norden zu schnellen.

25. Kapitel

Engländer und Martier

Das englische Kanonenboot ›Prevention‹ hatte den Auftrag, die im Interesse der Polarforschung angelegten Depots im Smith-Sund und weiter nach Norden, soweit es die Eisverhältnisse ohne Gefährdung des Schiffes gestatteten, zu revidieren und zu vermehren. Kapitän Keswick traf die Lage sehr günstig. Die Kane-Bai war in ihrer Mitte völlig eisfrei, sie wurde in rascher Fahrt passiert, die ›Prevention‹ dampfte in den Kennedy-Kanal hinein und drang ohne Schwierigkeiten bis über 80,7 Grad Breite vor; hier legte sie sich an einer günstigen Stelle vor Anker und schickte ein Boot zur Aufsuchung eines passenden Ortes aus, um an dem felsigen Ufer eine Niederlage von 3600 Rationen zu errichten. Man fand in einer kleinen Bucht eine natürliche Felsenhöhle, in welcher die Vorräte sicher geborgen werden konnten. Während die Bemannung des Bootes zum größten Teile mit dieser Arbeit beschäftigt war, erstieg Leutnant Prim mit zwei Matrosen den Hügel über der Höhle, um dort als Signal einen Cairn zu errichten. Die Spitze des Hügels sah auf eine breite, teilweise mit Eis bedeckte Ebene, so daß der Cairn auf weithin, sowohl vom Land als vom Wasser aus, zu sehen sein mußte. Denn dieser zu errichtende ›Steinmann‹ sollte dazu dienen, in seinem Innern die Dokumente aufzunehmen, welche die Lage der in der Umgegend niedergelegten Depots bezeichneten, er mußte daher einen Platz erhalten, wo er für etwa hierher vordringende Reisende auf weithin wahrgenommen werden konnte. Der Steinmann war soweit fertig, daß der Offizier die Blechbüchse mit den Papieren darin deponieren konnte, und die Matrosen waren damit beschäftigt, den Bau zu schließen und noch mehr zu erhöhen. Als Leutnant Prim inzwischen auf dem Hügel herumkletterte, bemerkte er in der Ferne einige dunkle Punkte, die er alsbald als weidende Moschusochsen erkannte. Sie zogen nach Süden und näherten sich langsam seinem Standpunkt. Alsbald war die Jagdlust in ihm erwacht, er ergriff eines der mitgebrachten Gewehre und bedeutete seine Leute, ihre Arbeit zu vollenden und ihm dann nachzukommen. Er hoffte rasch einen guten Schuß tun zu können. Bald war er hinter einigen Felsvorsprüngen verschwunden.

Die Matrosen schlenderten ebenfalls in der Umgebung umher, um noch einige große Steine aufzusuchen, als sie im Norden, rechts von der Seite, wohin der Offizier, nur die Moschusochsen im Auge haltend, gegangen war, einen dunklen Punkt über dem Horizont auftauchen sahen. Derselbe nahm schnell an Größe zu und erwies sich zu ihrem nicht geringen Erstaunen als ein riesiger Vogel, der seinen Flug mit großer Geschwindigkeit direkt auf sie zu nahm. Eine Weile standen sie still und starrten auf die merkwürdige Erscheinung. Dann liefen sie nach dem Cairn zurück, um ihre Gewehre zu holen. Da sich das rätselhafte Tier bereits stark genähert hatte, ergriff sie Furcht, und sie zogen es vor, so schnell wie möglich den Hügel hinabzulaufen, um Zuflucht bei ihren Gefährten zu finden. Zwischen den Felstrümmern, von Zeit zu Zeit nach dem Ungeheuer sich umblickend, das sich jetzt in weitem Bogen nach dem Steinmann hin zu senken schien, verfehlten sie jedoch die Richtung und kamen an eine mit Eis gefüllte, steil abfallende Schlucht. Plötzlich stieß der Vorangehende einen Schrei aus. Er hatte auf dem steilen Abhang einen Fehltritt getan und stürzte, auf die Felsvorsprünge aufschlagend, in die Schlucht. Sein Gefährte blickte ihm mit Entsetzen nach und wollte den Versuch machen, zu ihm hinabzuklettern. Mit den Händen sich anklammernd, ließ er sich eben auf einen tiefer liegenden Felsen nieder, als plötzlich über ihm der glänzende Leib des Riesenvogels mit eingezogenen Flügeln erschien. Er bebte in abergläubischer Furcht, seine Glieder zitterten, er vermochte sich nicht länger zu halten und stürzte ebenfalls in die Tiefe.

Kaum hatten die vier Martier in dem vom Pol herkommenden Luftboot, das die Matrosen für ein Luftungeheuer gehalten hatten, das Unglück erkannt, das sie durch ihr Erscheinen unschuldigerweise angerichtet hatten, als sie das Luftboot langsam und vorsichtig sich in die Schlucht hinabsenken ließen. Bald hatten sie die Körper der Unglücklichen erreicht. Blutüberströmt lagen sie vor ihnen. Obgleich keine Hoffnung war, die Menschen ins Leben zurückzurufen, wollten sie doch ihre Leichen nicht in der Schlucht liegen lassen. Da es unzweckmäßig war, sie in das Boot hineinzunehmen, legten sie die Verunglückten in das Netz, das sich unter ihrem Boot ausspannen ließ. Dann erhoben sie sich mit ihnen und dirigierten das Boot nach der Spitze des Hügels. Sie überzeugten sich hier, daß beide Menschen tot seien. Sie legten sie am Fuße des Cairn nieder und brachten dann ihr Luftboot in eine gesicherte Lage in der Nähe. Zwei von ihnen blieben im Boot zurück, während die beiden andern noch einmal nach dem Steinmann zurückgingen, um ihn näher zu untersuchen. Die Öffnung war noch nicht vermauert, und sie entdeckten bald die Büchse mit den Dokumenten. Sie öffneten diese und musterten den ihnen unverständlichen Inhalt. Während sie hiermit beschäftigt waren, kehrte Leutnant Prim zurück. Das Boot der Martier konnte er von seinem Standpunkt aus nicht sehen, auch hatte er es vorher, nur auf das Wild und seinen Weg achtend, nicht wahrgenommen. Jetzt erblickte er zwei fremde, seltsam gekleidete Männer, die sich seiner Papiere bemächtigt hatten. Und neben ihnen – entsetzt wich er zurück – lagen die beiden Matrosen, entseelt, mit blutigen, zerschmetterten Stirnen. Er konnte nicht anders glauben, als daß er ihre Mörder vor sich habe. Er riß das Gewehr in die Höhe und rief sie an.

Die Martier blickten erstaunt empor. Sie deuteten auf die verunglückten Matrosen und riefen Prim zu, daß sie sie aus der Schlucht herausgebracht hätten. Er dagegen befahl ihnen, die Papiere hinzulegen und sich zu ergeben. Natürlich verstanden sie sich gegenseitig nicht. Noch einige Rufe hin und her, ohne daß die Martier Miene machten, sich zurückzuziehen, wie es Prim verlangte, da knallte sein Gewehr, und die Kugel durchbohrte die blecherne Büchse, welche der eine der Martier in der Hand hielt. Ein zweiter Schuß aus dem Repetiergewehr folgte sofort, aber der Martier hatte sich bereits beiseite geworfen, die Kugel ging fehl. Im nächsten Augenblick ließ Prim das Gewehr machtlos aus der Hand fallen. Er war nicht verwundet, aber die Hand war gelähmt, er konnte sie nicht bewegen. Der andere Martier hatte mit seinem Telelyt-Revolver die motorischen Nerven der Hand gelähmt.

Inzwischen hatten die mit der Hinterlegung des Depots beschäftigten Mannschaften ihre Arbeit beendet. Die im Boot zurückgelassene Wache war auf das Erscheinen des Luftboots, das jedoch bald wieder durch die Felshöhe über ihnen verdeckt wurde, aufmerksam geworden und hatte die übrigen Seeleute verständigt. Diese machten sich sofort unter Führung eines Unteroffiziers daran, den Hügel zu ersteigen. Da ertönten die beiden Schüsse, welche ihre Schritte beschleunigten. Im Augenblick darauf rannten sie mit Geschrei auf den Gipfel des Hügels zu. Prim, der sich von seiner augenblicklichen Verwirrung erholt hatte, riß mit der linken Hand seinen Revolver aus dem Gürtel und stürzte auf die Martier zu, indem er rief: »Hierher, Leute, hier sind die Mörder! Faßt sie!«

Der Martier erhob aufs neue seine Waffe – sein Begleiter war unbewaffnet –, und auch der Revolver entfiel dem Offizier – er konnte seine linke Hand ebenfalls nicht mehr bewegen. Gleichzeitig aber wurde der Martier durch einen Stoß in den Rücken niedergeworfen. Die Matrosen waren im Sturmlauf herangekommen. Im Handgemenge waren die Martier ohnmächtig. Sie wußten dies und machten daher auch keinen weiteren Versuch, sich zu wehren. Auf den Befehl des wütend gewordenen Offiziers wurden sie gefesselt, und die Matrosen trieben sie mit Fauststößen vor sich her, um sie in das Boot zu bringen.

Die Schüsse und das nachfolgende Geschrei hatten die beiden im Boot zurückgebliebenen Martier aufmerksam gemacht; da sie aber nicht schnell genug über die Felsen hätten klettern können, die sie vom Schauplatz des Kampfes trennten, ließen sie das Luftboot so weit aufsteigen, daß sie beobachten konnten, was geschehen. Sobald sie ihre Kameraden gefangen sahen, versuchten sie, ihnen mit dem Luftboot zu Hilfe zu kommen. Aber kaum näherte sich dieses, als die Engländer ein Schnellfeuer eröffneten. Die Geschosse drangen in die Rob-Wände des Bootes ein, und wenn sie dieselben auch nicht durchschlugen, so lag doch die Gefahr nahe, daß sie Stellen trafen, an denen der feine Mechanismus des Steuerapparates beschädigt werden konnte. Die Martier stiegen daher mit ihrem Boot schleunigst so hoch, daß sie von den Kugeln nicht mehr gefährdet waren, und überlegten, was zu tun sei. Sie besaßen zwei Telelytgewehre, mit denen sie imstande gewesen wären, aus sicherer Entfernung die ganze Mannschaft zu vernichten oder wehrlos zu machen, um dann ihre Kameraden zu befreien. Aber da sie sowohl selbst, der Luftströmung wegen, nicht völlig ruhig liegen konnten, und auch die Gefangenen mitten zwischen den Matrosen in Bewegung waren, konnten sie aus so großer Entfernung nicht auf ein sicheres Zielen und genau berechenbare Wirkung vertrauen. Während sie zögerten, wurden ihre Kameraden in das Boot gebracht, das sich mit schnellen Ruderschlägen vom Ufer entfernte. Sie folgten ihm in der Höhe und sahen bald das Kriegsschiff in der Ferne. Als sie dieses nun in schnellem Flug erreichen und umkreisen wollten, bemerkten sie zu ihrem Schrecken, daß der Mechanismus des Steuerruders nicht mehr völlig funktionierte. Sie konnten ihr Boot nur langsam und in beschränkter Weise lenken. Unter diesen Umständen beschlossen sie, so schnell wie möglich nach der Insel am Pol zurückzukehren. Sie brauchten dazu die doppelte Zeit wie gewöhnlich. Von hier aus wurde nach der Außenstation gesprochen, von der aus es möglich war, Ill mit seinem größeren Luftschiff, das zur Verteidigung wie zum Angriff mit Repulsitgeschützen ausgerüstet war, zur Hilfe herbeizurufen.

Kapitän Keswick scheitelte bedenklich den Kopf zum Bericht des Leutnants Prim, der es übrigens nicht für nötig hielt, sich über seinen mißglückten Jagdversuch näher auszulassen. Keswick konnte sich nicht recht vorstellen, wie diese beiden Männer, die sich offenbar nur mit Mühe aufrecht zu erhalten vermochten, ohne Waffen die harten Köpfe seiner Matrosen hätten zerschlagen können. Noch mehr freilich wunderte ihn die Lähmung der Hände seines Leutnants. Eine nähere Untersuchung erforderte aber vor allem, daß mit den beiden Fremdlingen ein Verhör angestellt wurde. Diese indessen sprachen kein Wort.

Keswick trat zu ihnen und betrachtete sie näher. Er redete sie auf englisch und französisch an und auch in der einzigen Sprache, von der er noch etwas wußte, auf chinesisch. Sie verstanden ihn offenbar nicht. Aber sie öffneten jetzt zum erstenmal ihre bisher halb geschlossen gehaltenen Augen. Finster blickten sie auf ihre Fesseln und richteten dann ihre Augen voll auf den Kapitän. Es lag nichts Feindseliges in diesem Blick, aber ein tiefer Vorwurf und zugleich ein mächtiger Stolz. Unwillkürlich wich Keswick zurück. Auch die herumstehenden Offiziere und Matrosen fühlten sich seltsam betroffen.

»Nehmen Sie den Leuten die Fesseln ab«, sagte der Kapitän. »Das ist hier nicht nötig. Und behandeln Sie sie anständig.«

Sobald die Stricke entfernt waren, begann der ältere der Martier zu sprechen. Obgleich der Kapitän kein Wort verstand, machte die Rede doch den Eindruck, daß er hier etwas noch nie Vorgekommenes und Unerklärliches erfahre. Er wußte nichts zu tun, als die Achseln zu zucken.

»In dieser Sache entscheide ich nicht allein«, sagte er dann zu seinem ersten Offizier. »Die Geschichte mit dem Luftschiff ist zu rätselhaft. Hätten wir nicht selbst in der Ferne so ein Ding gesehen, ich würde nichts glauben. Die Leute sehen nicht aus, als ob sie von der Erde stammten. Und verstehen kann man sie nicht. Ich nehme sie mit nach England. Wir sind überdies hier mit unserer Aufgabe fertig.«

Die ›Prevention‹ machte Dampf auf und steuerte nach Süden.

*

Mit rasender Geschwindigkeit jagte Ills Luftschiff in einer Höhe von zwölf Kilometern über das europäische Nordmeer, der Küste Grönlands entgegen. Im Osten glänzten schillernde Nebensonnen, während das Tagesgestirn selbst unterm Horizont blieb. Denn die Fahrt war nach Nordwesten gerichtet, und die aufgehende Sonne konnte das Luftschiff nicht einholen. Ein ewiger Dämmerschein erleuchtete die unter leichtem Cirrusgewölk lagernde Meeresflut, daß sie wie eine ungeheure Schale von dunklem, mit lichten Streifen durchzogenem Marmor schimmerte. Still war's ringsum. Nur das gleichmäßige Zischen des Reaktionsapparats und das Pfeifen der durchschnittenen Luft um den zusammengepreßten Robpanzer des Schiffes ließ seine eintönige Weise vernehmen.

»Luftdruck 170 Millimeter.« Ell las die Angabe an seinem eigenen Barometer ab. Er warf einen nachdenklichen Blick auf die Wand, hinter welcher Isma schlummerte. Ill hatte dort selbst aufs umsichtigste für ihr Wohlbefinden gesorgt.

»Schlafen Sie«, hatte er gesagt. »Sie müssen jetzt Ruhe haben. Wenn wir in die hohen Breiten gekommen sind, werden wir unseren Flug mäßigen und in die Nähe der Erdoberfläche hinabsteigen. Dann wollen wir Sie wecken.«

In einen warmen Pelz gehüllt ruhte Isma in ihrer Hängematte. Über Mund und Nase schloß sich die weiche Maske, die mit dem Ventil des Sauerstoffapparats verbunden war, um ihr Handgelenk war ein elastischer Ring gelegt, der ihren Pulsschlag auf ein Meßinstrument übertrug. An der Außenwand ihrer Kabine, die Ell jetzt beobachtete, zeigten zwei Zifferblätter den Gang, die Frequenz und die Stärke der Atmung und des Pulses. »Vollständig normal«, sagte Ill lächelnd, der Ells Augen gefolgt war. Dann blickte er wieder auf die Orientierungsscheibe. Der Projektionsapparat, welcher auf der Unterseite des Schiffes angebracht war, bildete auf der Scheibe die überflogene Gegend ab.

»Im Nordwesten taucht die Küste auf«, begann Ill wieder. »Es ist die Gegend, die auf euren Karten als ›König-Wilhelms-Land‹ bezeichnet ist. Noch eine Stunde, bis das Festlandeis überflogen ist, dann wollen wir hinabsteigen. So lange laß sie nur schlummern.«

»Ich denke«, sagte Ell, »daß wir das Schiff im Kennedy-Kanal oder in der Kane-Bai treffen. Ich bin nur neugierig, was es für ein Landsmann ist.«

»Unser Feind, leider«, sagte Ill ernst, »wer es auch sei.«

Ill war längere Zeit schwankend gewesen, ob er zuerst nach dem Pol fahren solle, um noch nähere Erkundigungen einzuziehen, oder ob er besser täte, direkt das Kriegsschiff aufzusuchen. Er entschloß sich für das Letztere. Denn jede Minute konnte kostbar sein, jede mußte die Leiden der Nume verlängern, jede konnte ihr Leben gefährden. Dazu stand die Wichtigkeit dessen, was er am Pol erfahren konnte, in keinem Verhältnis, selbst eine genauere Ortsangabe für den Schauplatz des Ereignisses hätte nichts ihm genützt. Es waren seitdem über zwölf Stunden vergangen, und das Schiff konnte inzwischen seinen Ort um hundert und mehr Kilometer verändert haben. Er durfte darauf rechnen, von seinem Luftschiff aus die Fahrstraße in jenen Gegenden verhältnismäßig schnell zu durchforschen. Schwere Bedenken erregte ihm die Frage, wie er verfahren solle, wenn man ihm die friedliche Herausgabe der Martier verweigere. Zwar besaß er die Mittel, selbst ein mächtiges Kriegsschiff zu vernichten. Aber dazu hätte er sich nie entschließen können, es sei denn, wenn er die eigene Existenz nicht anders retten konnte. Mußte er Gewalt anwenden, so sollte es nur so geschehen, daß die Menschen doch nachträglich imstande waren, mit ihrem Schiff in ihre Heimat zurückzukehren. Ob es aber möglich sein würde, bei den Menschen etwas durchzusetzen, ohne sie zuvor schwer zu schädigen, das war die Sorge, die Ill beschäftigte. Er mußte die schließliche Entscheidung den Verhältnissen überlassen, wie der Augenblick sie bieten würde.

Nach einer Stunde war das ewige Eis des grönländischen Festlands überflogen. Die weiten Felder des Humboldtgletschers senkten sich zum Meer hinab. Das Luftschiff mäßigte seinen Flug und stieg abwärts, so schnell es die Rücksicht auf die Insassen gestattete, die sich an den höheren Luftdruck erst gewöhnen mußten. Jetzt war die Höhe von 1500 Metern erreicht.

Ill schob leise die Tür zu Ismas Schlafraum beiseite und entfernte die Maske von ihrem Gesicht. Sie erwachte und schaute sich erstaunt um. Er löste den Ring von ihrem Handgelenk und sagte ihr, daß sie jetzt, falls sie es wünsche, sich erheben könne. Darauf entfernte er sich und zog die Tür wieder zu.

Wenige Minuten darauf trat Isma in die Kajüte. Ihre Wangen waren gerötet. Verlegen blickte sie umher.

»Wo sind wir?« fragte sie.

»An der Westküste von Grönland, auf dem 80. Grad nördlicher Breite«, sagte Ell, ihr die Hand reichend. Sie ließ sich auf einen Sessel fallen und bedeckte die Augen mit den Händen. Sie schwieg lange.

»Lassen Sie mich sehen«, sagte sie dann.

Man trat aus der Kajüte in das Schiff. Die seitlichen Fenster waren jetzt teilweise geöffnet. Man konnte hinausblicken.

Ein farbenprächtiges Nordlicht entsandte seine zuckenden Strahlen über das Firmament, während im Nordosten die Morgendämmerung ihren bleichen Schein entfaltete. Tief unten, in undeutlichen Reflexen schimmernd, erstreckten sich die zerrissenen Eismassen des Humboldtgletschers, der als eine Riesenmauer von Eis über dem Meer abbrach. Am westlichen Horizont erhob sich wie eine dunkle Wand der eisfreie Meeresspiegel der Kane-Bai.

Isma stand lange in den überwältigenden Anblick versunken.

»Es ist ja noch Nacht?« sagte sie dann fragend. »Wie spät ist es denn?«

»Es ist sogar, nach Ortszeit, noch eine Stunde früher, als bei unsrer Abfahrt in Friedau«, antwortete Ell, »weil wir nach Westen gefahren sind. Trotzdem sind wir vier Stunden unterwegs. In Friedau ist es jetzt etwa acht Uhr morgens.«

»In Friedau!« Isma zog den Pelz dichter um ihre Schultern. Und unter ihr die Gletscher Grönlands!

Ein Schwindel drohte sie zu erfassen.

»Kommen Sie in die Kajüte«, sagte Ill. »Es ist jetzt erst wenig da unten zu erkennen, aber wir steigen noch tiefer und reisen nicht weiter nach Westen. Nun wird die Sonne bald aufgehen, es wird heller und wärmer werden. Inzwischen lassen Sie uns für ihre Kräftigung sorgen. Auch in den ungewohntesten Situationen ist Frühstücken eine empfehlenswerte Handlung. Ell hat daran gedacht, daß Sie ihren Friedauer Morgenkaffee nicht zu entbehren brauchen.«

Ell übersetzte getreulich die Worte des Oheims.

Ein Lächeln glitt über Ismas Züge. »Sie denken an alles«, sagte sie, Ell anblickend, »und ich – was werde ich nicht alles vergessen haben! Hoffentlich hat Luise meinen Zettel gefunden.«

»Etwas habe ich doch vergessen«, sagte Ell zu Ill, »nämlich ein Signalbuch, für den Fall, daß uns das Schiff Signale macht. Übrigens würden wir sie doch nicht beantworten können.«

»Richtig, es ist schade«, antwortete Ill, »dafür besitzen wir ein vorzügliches Sprachrohr, mit dem wir uns verständlich machen können.«

Sie begaben sich in die Kajüte, und ausnahmsweise, um Isma zu ehren, wohnte Ill dem gemeinschaftlichen Frühstück bei, obwohl er sich auf einige Züge aus einem martischen Mundstück beschränkte. Er verfolgte inzwischen den Gang des Schiffes auf der Projektionsscheibe.

Als Ell und Isma wieder den offenen Schiffsraum betraten, war es Tag geworden. Das Schiff strich in mäßiger Bewegung – immerhin noch mit Schnellzugsgeschwindigkeit – mit weit ausgebreiteten Flügeln in etwa dreihundert Meter Höhe über die Meeresoberfläche hin. Es hatte sich der Ostküste von Grinnell-Land genähert und folgte nun dem offenen Fahrwasser in ihrer Nähe nach Norden. Isma spähte mit Ells Relieffernrohr eifrig nach der Küste hinüber. Auf den Uferschollen sonnten sich Seehunde, zahllose Vögel saßen auf den Klippen, selbst einige Moschusochsen konnte sie auf einer entfernten Ebene mit Hilfe des vorzüglichen Glases erkennen. Überall glaubte sie Menschen oder Hütten von Eskimos zu sehen, es war ihr, als müßte sie jeden Augenblick auf Torms Spuren stoßen, und erst allmählich begann sie ruhiger zu werden. So also sah die Gegend aus, die er im Geleit der tranduftenden Gastfreunde durchzog! Ob es wohl glücken würde?

Der Anruf des Martiers, der den Ausguck im Vorderteil des Schiffes hielt, unterbrach ihr Sinnen.

26. Kapitel

Der Kampf mit dem Luftschiff

Am Horizont zeigte sich eine Rauchwolke, die sich vergrößerte. Das Dampfschiff, nach Süden steuernd, und das nach Norden fliegende Luftschiff, das seine Geschwindigkeit sogleich steigerte und die Flügel verkürzte, näherten sich rasch. Bald konnte man die Formen des Schiffes durch das Glas unterscheiden. Der Wimpel am Großtopp ließ es als Kriegsschiff erkennen. Jetzt hatte man auch an Bord der ›Prevention‹ das Luftschiff gesehen. Dieses senkte sich bis auf hundert Meter über die Oberfläche des Meeres und schoß direkt auf das Kanonenboot zu. Dort stieg eine weiße Dampfwolke in die Höhe, und ein Kanonenschuß donnerte über die Flut. Man konnte jetzt die Flagge erkennen.

»Es ist ein Engländer«, sagte Ell. »Er fordert uns auf, unsere Flagge zu zeigen.«

Eine Flagge führte zwar das Luftschiff nicht, man hatte aber diesen Fall vorgesehen und, um keine besonderen Verwicklungen hervorzurufen, eine Flagge improvisiert, die dem Banner der vereinigten Marsstaaten nachgebildet war. Sie bestand einfach in einem schwarzen Tuch von dreieckiger Gestalt, das in der Mitte einen großen orangenfarbigen Kreis trug.

Die Flagge wurde jetzt gehißt, das Luftschiff setzte aber seinen Lauf fort. Ill wollte denselben erst in unmittelbarer Nähe des Schiffes anhalten. Vorsichtshalber stieg er jedoch schnell in größere Höhe.

Ell beobachtete mit dem Glas die Vorgänge an Deck des Schiffes.

»Die gefangenen Martier sind jedenfalls unter Deck«, sagte er. »Das Schiff ist klar zum Gefecht – ich glaube, man will auf uns schießen. Willst du nicht lieber anhalten?«

»Wie ist das Schiff bewaffnet?« fragte Ill.

»Es ist, soviel ich davon verstehe, ein sogenannter Torpedo-Rammkreuzer. Den Rammsteven und die Torpedos haben wir freilich nicht zu fürchten, aber das 25-Zentimeter-Geschütz auf dem Deck ist eine furchtbare Waffe. Es schleudert mit einer Geschwindigkeit von über 600 Metern Granaten, die vielleicht den dritten Teil des Gewichts unseres ganzen Schiffes haben. Ein einziger Schuß zerschmettert uns in Atome.«

»Wenn er uns trifft. Aber wie du siehst, sind wir bereits wieder auf achthundert Meter gestiegen und dem Schiff so nahe, daß sie dem Geschütz nicht die genügende Erhebung geben können.«

Ein gewaltiger Knall unterbrach ihn. Kapitän Keswick hatte sein Riesengeschütz sprechen lassen. Aber das Geschoß flog, bedeutend tiefer als das Luftschiff, unter ihm hin, ohne Schaden zu tun.

»Die Sache ist nicht so gefährlich«, sagte Ill, »selbst wenn wir in der Schußlinie wären, könnten wir den Schuß aufnehmen – da wir dreimal so viel Masse haben als das Geschoß, würde es uns nur eine Geschwindigkeit von höchstens zweihundert Metern geben, und das ist für uns das Gewöhnliche.«

Ell sah ihn erstaunt an.

»Ich meine, wenn wir den Stoß auffangen.«

»Aber wir werden doch zerschmettert.«

»Keine Sorge! Wir müssen nur aufpassen. Jetzt aber wollen wir verhandeln.«

»Wollen Sie sich nicht lieber in die Kajüte begeben?«

Diese Frage richtete Ill an Isma, die den Vorgängen mit Herzklopfen gefolgt war. »Diese Herren sehen mir gerade so aus, als wollten sie uns mit ihren Flintenschüssen begrüßen.«

»O lassen Sie mich hier«, bat Isma. »Könnte nicht vielleicht – mein Mann – auf dem Schiff sein?«

»Das werden wir alles erfahren. Ell soll durch das Sprachrohr die Verhandlung als Dolmetscher führen.«

Wirklich beschoß man das Luftschiff jetzt aus den Gewehren. Es schwebte aber bereits so hoch und so nahe senkrecht über dem englischen Kanonenboot, daß die Kugeln ihm keinen Schaden tun konnten, obwohl sich die Engländer zum Zielen auf den Rücken legten. Jetzt fiel eines der abgeschossenen Langbleie auf das Verdeck des Schiffes selbst zurück und durchschlug seine Planken. Das Feuer mußte eingestellt werden, da die Kugeln die Schützen selbst zu treffen drohten.

Die Martier entfalteten nunmehr eine große, weiße Fahne als Zeichen der Freundschaft und des Friedens. Alsdann senkte sich das Luftschiff, immer mit gleicher Geschwindigkeit senkrecht über dem Kriegsschiff bleibend, zu diesem herab, erst schnell, dann langsamer, bis es sich in einer Höhe von etwa fünfzig Metern über den Spitzen der Masten hielt.

Die Besatzung des Schiffes bestand aus tapferen Männern. Aber bei diesem Anblick pochte allen das Herz in der Brust. Wenn die Fremden Verräter waren? Wenn sie jetzt eine Dynamitbombe herabfallen ließen jeder sagte sich, daß das Schiff dann verloren war. Und sie waren wehrlos. Aber hätte das Luftschiff feindlich vorgehen wollen, so hätte es dies sicherer aus der früheren Höhe tun können.

Der Kapitän stand mit finsteren Blicken auf der Kommandobrücke.

Jetzt zuckte er zusammen. Aus der Höhe kam ein Anruf in englischer Sprache.

»Wer seid Ihr?« fragte er durch das Sprachrohr entgegen.

Ell versuchte eine Erklärung zu geben. Das Luftschiff habe keine feindlichen Absichten. Es gehöre demselben Staat an wie die beiden Gefangenen, die sich auf dem englischen Schiff befänden. Sie seien Bewohner des Planeten Mars, die auf dem Nordpol der Erde eine Kolonie angelegt hätten. Die beiden würden zu Unrecht gefangengehalten, sie hätten sich an den Engländern nicht vergriffen, vielmehr die in den Abgrund gestürzten heraufbefördert. Das Luftschiff wolle nichts als die beiden Gefangenen zurückhaben. Man möge sie in der Nähe ans Land setzen, wo das Luftschiff sie abholen werde. Außerdem wolle man wissen, ob das Schiff Nachricht von der deutschen Nordpolexpedition Torm habe.

Kapitän Keswick erwiderte, von der Tormschen Expedition habe er bis jetzt keinerlei Spuren gefunden. Was die andere Frage beträfe, so verböte es ihm seine Ehre, mit dem Luftschiff zu verhandeln, so lange es sich über seinem eigenen Schiff in bedrohender Stellung befände. Der Kommandant möge zu ihm an Bord kommen; er garantiere ihm unbehinderte Rückkehr.

Es trat eine Pause ein. Auf beiden Schiffen wurde Kriegsrat gehalten.

Ill wollte ohne weiteres dem Wunsch des Kapitäns nachgeben und ihn besuchen, aber Ell riet ihm dringend davon ab.

»Traust du ihm nicht?« fragte Ill.

»Das nicht«, sagte Ell, »sein Wort wird er halten. Aber nach den Anschauungen der Menschen würden wir damit anerkennen, daß wir uns den Bestimmungen des englischen Kriegsschiffs unterordnen. Der Hochmut der Engländer würde dadurch nur wachsen und die Verhandlungen erschweren. Wir nehmen für uns selbst den Charakter eines Kriegsschiffs in Anspruch.«

»Es mag sein, doch liegt kein Grund vor, unsre Stellung über dem Schiff beizuhalten, wenn sie den Kapitän beunruhigt. Ich habe mich nur hierhergelegt, um überhaupt zu Wort zu kommen. Wir können ja auch jeden Augenblick hierher zurückkehren, wenn wir wollen; nur nützt es uns wenig. Mit einer Vernichtung des Schiffes zu drohen, geht nicht an, da ich sie doch nicht ausführen würde und auch die Leute sich sagen dürften, daß wir das Schiff nicht in Grund bohren werden, so lange unsere Kameraden sich darauf befinden.«

Ell rief nun durch das Sprachrohr hinab, daß sich das Luftschiff in einiger Entfernung niederlassen werde. Auf demselben befinde sich einer der höchsten Beamten des Mars, der nicht daran denke, sich zuerst dem Kapitän vorzustellen. Der Kapitän möge daher entweder zu ihm an Bord kommen oder eine Stelle am Ufer zur Zusammenkunft bestimmen. Im übrigen genüge es, wenn der Kapitän die beiden Martier ans Land sende. Das Luftschiff werde sich dann sogleich entfernen, sobald es die beiden aufgenommen hätte.

Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Ill das Luftschiff nach dem Land zu lenken.

Der Engländer hatte inzwischen seinen Lauf angehalten und lag jetzt still. Ihm gegenüber, etwas über einen Kilometer entfernt, in geringer Höhe über dem Ufer, schwebte das Luftschiff der Martier in vollkommener Ruhe. Flügel und Steuer waren eingezogen. Der Hinterteil des Fahrzeugs war gegen das Kriegsschiff gewendet und zeigte die Öffnung eines bis dahin nicht sichtbar gewesenen Rohres. Kapitän Keswick hatte seinen Zweck erreicht, Zeit zu gewinnen und das unheimliche Fahrzeug über seinem Kopf zu entfernen. Er fühlte sich wieder sehr erhaben. Er dachte nun erst recht nicht daran, die Gefangenen auszuliefern. Verhielt es sich wirklich so, daß sie Marsbewohner waren – und eine bessere Erklärung angesichts des Luftschiffes wußte keiner seiner Offiziere –, so wollte er sich den Triumph nicht nehmen lassen, diese seltsamen Geschöpfe nach London zu bringen. Daß man auf dem Mars auch englisch verstand und sich nach der deutschen Nordpolexpedition erkundigte, war schließlich nicht wunderbarer als die Existenz des Luftschiffes überhaupt. Die Zumutung, einem englischen Kriegsschiff Bedingungen zu stellen, hielt Kapitän Keswick für eine Frechheit. Seiner Ansicht nach hatte das fremde Schiff einfach zu gehorchen.

Er signalisierte daher jetzt, das Schiff möge sofort die Flagge streichen und sich ergeben. Da er sich aber allerdings selbst sagte, daß man drüben die Signale nicht verstehen würde, so schickte er einen Offizier in der Jolle soweit vor, bis er durchs Sprachrohr mit dem Luftschiff reden konnte, und ließ durch ihn seinen Befehl ausrichten. Das Luftschiff solle landen und die Besatzung sich von demselben ohne Waffen auf tausend Schritt zurückziehen. Geschähe das nicht, bis das Boot wieder an Bord sei, so würde er Gewalt anwenden.

Ill ließ antworten, es würde ihm sehr leid tun, wenn er seinerseits Gewalt anwenden müßte, um seine Genossen wieder zu erhalten. Bei der geringsten Feindseligkeit seitens der Engländer würde er sich jedoch gezwungen sehen, ihr Schiff kampfunfähig zu machen. Sollte einem der Martier Leides geschehen, so hafteten Kapitän, Offiziere und Mannschaft mit ihrem Leben.

Der Offizier brachte diese Antwort zurück.

»Wir werden mit den Leuten deutlicher reden«, sagte Keswick.

Leutnant Prim hätte sich gern aus Vergnügen die Hände gerieben, aber sie waren immer noch steif. Er konnte nicht einmal seinen Feldstecher halten. Das Luftschiff lag vollkommen ruhig, es konnte gar kein besseres Ziel für das 25-Zentimeter-Geschütz geben, es war nicht zu verfehlen.

Ell beobachtete, daß das Boot kaum beim Schiff angekommen war, als man das Geschütz richtete.

»Wir sind verloren«, rief er Ill zu.

Dieser hatte schon seine Vorkehrungen getroffen. Er sah scharf auf die Mündung des Geschützes.

»Halte dich fest und befürchte nichts«, sagte er zu Ell gewendet. Seine Hand lag am Griff des Repulsitapparates. Von dem Moment, in welchem der Schuß an Bord des Kriegsschiffs gelöst wurde, bis zu demjenigen, in welchem das Geschoß das Luftschiff treffen konnte, mußten fast zwei Sekunden vergehen. Das genügte ihm.

Jetzt blitzte drüben der Schuß auf. Das vernichtende Geschoß war entsandt. Ell fühlte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte, aber er vertraute auf die Kraft der Nume. Isma hatte sich auf seine Bitte schon vorher zurückgezogen und war sich der unmittelbaren Gefahr glücklicherweise nicht bewußt.

Ill hatte gleichzeitig den Griff des Repulsitgeschützes gedreht. Das Luftschiff erhielt einen Stoß und sauste durch die Luft. Hinter ihm, etwa in der Mitte zwischen dem englischen Schiff und dem martischen, gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Die Granate zersprang in der Luft, als sei sie an eine feste, unsichtbare Mauer gestoßen. Die Bruchstücke flogen nicht weiter, sie fielen direkt nach unten und ließen das Meer unter sich aufschäumen.

Im Moment aber spannte das Luftschiff seine Flügel aus, in engem Kreis kehrte es zurück, binnen zehn Sekunden war es wieder bei der ›Prevention‹ angelangt, hinter dem Kanonenboot sank es bis zur halben Höhe seiner Masten. Ein zweiter Repulsitschuß knickte die eisernen Masten wie Strohhalme, die mit einer scharfen Sense abgeschnitten werden. Zugleich aber wurden sie wie von einem Sturmwind fortgetragen, der sie über das Schiff hinwegfegte und gegen hundert Meter weiter ins Meer fallen ließ. Auf dem Verdeck selbst wurde nichts direkt von dem Schuß betroffen; nur die entstehende gewaltige Luftwelle warf die gesamte Mannschaft über den Haufen und setzte das ganze Schiff in schwankende Bewegung. Ehe sich die Engländer wieder auf ihre Füße gefunden hatten, war das Luftschiff, in kurzer Wendung aufsteigend, umgekehrt und ruhte in etwa tausend Meter Höhe senkrecht über dem Kanonenboot.

Ill hatte nur die Wirkung seiner Waffen zeigen wollen. Der im Repulsitgeschütz sich entspannende Äther entwich mit einer Geschwindigkeit, welche der des Lichtes vergleichbar war, und riß die Luft und alles, was in seinem Weg lag, mit sich fort, obgleich seine Masse nur wenige Gramm betrug. Er breitete sich kegelförmig aus und mußte daher das ihm entgegenfliegende Sprenggeschoß auffangen und zur Ruhe bringen. Ill wollte jetzt das Luftschiff wieder sich herabsenken lassen, um neue Verhandlungen zu beginnen, aber die zur Wut gereizten Feinde beschossen es aus ihren Gewehren ohne Rücksicht auf die Gefahr, von ihren eigenen Kugeln getroffen zu werden. Wie sollte er nun, ohne Menschenleben zu vernichten und das Schiff selbst unbrauchbar zu machen, die Herausgabe der Gefangenen erzwingen?

Ill hätte durch den Telelyten das Geschütz demontieren oder das Schiff leck machen können. Der Telelyt ist ein Apparat, durch welchen chemische Wirkung in jeder beliebigen Form erzeugt werden kann, soweit nur die direkte Bestrahlung des Gegenstandes vom Apparat aus möglich ist. Wenn man zum Beispiel glühenden Sauerstoff durch den Telelyten treten ließ, so wurde die chemische Energie durch Strahlung fortgepflanzt und kam auf dem bestrahlten Körper, etwa dem Gußstahl des Geschützes, wieder als chemische Energie zum Vorschein, so daß der Stahl einfach verbrannt wurde.

Ill hätte auch sein Repulsitgebläse auf das Schiff richten und dieses an beliebiger Stelle auf den Strand treiben können.

Aber er wollte sich nicht dazu entschließen. Das Geschütz konnte ihm nicht schaden, wenn er sich über dem Schiff hielt, und auch sonst nicht, wenn er die Abgabe des Schusses rechtzeitig bemerkte. Und das Schiff selbst wollte er nicht untauglich zur Fortsetzung der Reise machen. Er versuchte daher nochmals zu verhandeln und ließ zu diesem Zweck wieder die weiße Fahne aufziehen, obwohl Ell meinte, daß dieses Entgegenkommen falsch verstanden werden würde.

»Was wollen die Schufte?« rief der Kapitän wütend, ließ aber das Feuer einstellen. Das Luftschiff senkte sich. Als es so nahe gekommen war, daß man sich durchs Sprachrohr verständigen konnte, fragte Ell, ob man jetzt bereit sei zu kapitulieren.

»Mit euch Freibeutern gibt es keine Verhandlungen«, schrie Keswick zurück. »Ehe ich meine Flagge streiche, sprenge ich das ganze Schiff samt euren sauberen Brüdern in die Luft.«

»Wir verlangen nicht, daß ihr die Flagge streicht«, lautete die Antwort. »Es genügt, wenn ihr die Gefangenen ans Land setzt. Aber unsere Geduld ist jetzt zu Ende. Stößt das Boot mit unseren Landsleuten nicht binnen zehn Minuten vom Schiffe ab, so macht euch auf das Schlimmste gefaßt. Bis jetzt haben wir euch nur eine Probe gegeben.«

»Der Teufel soll euch holen. Feuer auf die Hunde!« schrie Keswick wütend.

Aber schon hatte sich das Luftschiff fortgeschnellt. Nach wenigen Sekunden war es bereits wieder über einen Kilometer vom Schiff entfernt, das jetzt mit voller Dampfkraft nach Süden strebte.

Da Ill keine Zeit dadurch verlieren wollte, daß sich die Entfernung des Schiffes von der Küste vergrößerte, beschloß er zunächst, den Dampfer aufzuhalten. Er erhob sich so hoch, daß er nicht beschossen werden konnte, und richtete dann einen Repulsitstrom gegen die Meeresoberfläche in einiger Entfernung vor dem Schiff. Das Meer kochte auf, als hätte man einen Berg hineingestürzt. Ein haushoher Wogenwall wälzte sich von der getroffenen Stelle im Kreise nach außen und zwang das englische Schiff, seinen Kurs zu ändern. Alsbald erregte das Luftschiff durch einen zweiten Repulsitschuß an geeigneter Stelle einen neuen Wirbel, und so zwangen die Martier ihren Gegner, sich dahin zu wenden, wohin sie ihn haben wollten. Bald aber war die ganze Umgebung wie von einem Sturm aufgewühlt, und die ›Prevention‹ hatte die größte Mühe, sich in dem tollen Wogengang zu halten. Von einem Gebrauch des Geschützes konnte beim Schwanken des Schiffes jetzt nicht die Rede sein. Inzwischen waren die zehn Minuten Frist längst abgelaufen. Ill ließ dem Schiff noch Zeit, um einen Felsenvorsprung herum in ruhigeres Wasser zu gelangen. Hier erwartete er den Engländer.

Der Kapitän sah nun wohl ein, daß er dem Luftschiff nicht entkommen könne. Aber er war immer noch zu hartnäckig, um nachzugeben. Das Luftschiff lag wieder vollständig ruhig und ließ das Kanonenboot herankommen, während die Vorgänge auf demselben aufs genaueste beobachtet wurden. Ill konnte mit seinem Sprachrohr sich bis auf tausend Meter verständlich machen. Er rief nochmals hinüber, wenn man jetzt nicht gehorche, werde er auf das Schiff selbst schießen.

Der Dampfer machte eine Wendung und stoppte. Die Martier glaubten, es geschehe, um ein Boot auszusetzen; aber das Manöver hatte nur den Zweck, zum Schuß zu kommen. Ehe die Martier es erwarten konnten, blitzte der Schuß auf. Die Entfernung war zu kurz, um den Gegenschuß der Martier genau abzumessen. Er erfolgte sofort, aber er war zu heftig. Mit rasender Geschwindigkeit schleuderte der Rückstoß das Luftschiff fort. Die Insassen wurden von ihren Plätzen geworfen. Isma stieß einen Schrei aus und klammerte sich schreckensbleich an die Wand. Zum Glück hatte sie keinen Schaden genommen. Das Luftschiff gehorchte wieder dem Steuer, die Bewegung wurde gemäßigt, es kehrte in weitem Bogen zurück und lagerte sich in einer Entfernung von etwa acht Kilometern vom Kriegsschiff auf der Spitze eines Hügels, von wo aus man mit dem Fernglas die Vorgänge auf dem Schiff gut beobachten konnte.

Hier sah es schlimm aus. Unter dem Gegenstoß des Repulsits war das Sprenggeschoß explodiert, aber die Trümmer waren nicht in das Meer gefallen, sondern, weil die Wirkung zu stark gewesen war, auf das Schiff zurück. Ein Teil der Mannschaft und der Kapitän selbst waren verwundet. Der Verschluß des Geschützes war abgeschlagen. Dichter Qualm drang aus einem der zertrümmerten Schornsteine.

Ill nahm das Glas vom Auge. Ein finsterer Ernst lagerte über seinen Zügen.

»Es ist schrecklich«, sagte er. »Ich habe das Meinige getan, um Blutvergießen zu vermeiden. Auch das jetzige Unglück ist gegen meine Absicht geschehen, wir hatten bei der Plötzlichkeit des Überfalls nicht länger Zeit, unsern Schuß abzuwägen. Die Menschen sind wahnsinnig.«

Er sann lange nach.

»Ich erwäge«, sagte er dann, »ob ich es gegen unsere Genossen verantworten kann, wenn ich jetzt nachgebe und das Schiff entlasse. Aber ich bin ja nicht einmal sicher, ob man ihr Leben schonen wird, nachdem dieses Blut geflossen ist. Das also ist unser erstes Zusammentreffen mit den Menschen, das ist die Verbrüderung der Planeten! Ich hatte es mir anders gedacht. Ich höre, die Menschen haben unsern Planeten nach dem Gott des Krieges genannt; wir wollten den Frieden bringen, aber es scheint, daß die Berührung mit diesem wilden Geschlecht uns in die Barbarei zurückwirft. Gott gebe, daß diese Begegnung kein Vorzeichen ist. Indessen – wir können nicht mehr zurück. Wir wollen aus dem einen Fall noch keine Schlüsse ziehen.«

Er wandte sich zu Isma und sagte ihr bedauernde Worte, daß ihre Reise mit so schrecklichen Ereignissen begönne. Ell wollte eben seine Äußerungen übersetzen, als der wachthabende Martier meldete:

»Das Schiff setzt ein Boot aus.«

Es war so, man sah, daß die beiden Martier in das Boot hinabgelassen wurden. Dieses ruderte dem Land zu. In einer kleinen Bucht, deren Ufer mit Eisschollen bedeckt waren, landeten die Engländer. Sie warfen die Gefangenen rücksichtslos auf eine Scholle, feuerten ihre Gewehre in die Luft ab, um ein Signal zu geben, und kehrten dann schleunigst zurück an Bord ihres Schiffes.

Sofort befahl Ill, daß das Luftschiff aufsteigen solle, um die Genossen abzuholen. Der Weg war nicht weit, doch lag die kleine Bucht auf der anderen Seite des Kriegsschiffs, das man in einem Bogen umgehen mußte, um sich nicht etwaigem Gewehrfeuer auszusetzen. Dann senkte sich das Schiff mit eingezogenen Flügeln nahe am felsigen Abhang hinab. Hierbei streifte es einmal bis dicht an einen Felsen und legte sich stärker nach der Seite, als beabsichtigt war. Der Ingenieur machte ein bedenkliches Gesicht. Es kam bei diesen langsamen Bewegungen auf und nieder auf die äußerste Präzision in der Funktion des diabarischen Apparats an, und es schien ihm, als ob das Schiff auf der linken Seite nicht mit derselben Geschwindigkeit seine Schwere ändere wie auf der rechten. Man war jetzt auf der breiten Eisscholle angelangt.

Die gefangenen, nunmehr befreiten Martier befanden sich in üblem Zustand. Sie waren zwar nicht gefesselt, aber der Druck der Erdschwere, dem sie seit achtzehn Stunden – denn es war inzwischen Mittag geworden – ausgesetzt waren, die beim Kampf und zuletzt beim Transport erlittenen Mißhandlungen und der Mangel an für sie genießbarer Nahrung hatten sie körperlich schwer mitgenommen. Sie atmeten beglückt auf, als im Innern des Luftschiffes ihre Leiden gemildert wurden. Ill wandte sich betrübt ab, als er erfuhr, welche Behandlung ihnen zuteil geworden war. Die Strafe der Engländer war hart, dachte er, aber verdient. Und doch, im Grunde waren sie unschuldig an ihrem Irrtum.

Und nun vorwärts zum Pol! In anderthalb Stunden konnte er erreicht sein. Das Luftschiff erhob sich langsam, und wieder bemerkte der Steuermann die Ungleichmäßigkeit der Diabarie auf den beiden Seiten des Schiffes. Er machte Ill darauf aufmerksam, doch konnte man die Ursache nicht sogleich auffinden. Inzwischen war die Höhe des Felsufers überstiegen. Die Flügel wurden nun ausgebreitet, und vom Reaktionsapparat getrieben glitt das Schiff auf schiefer Ebene weiter aufwärts und nordwärts.

Plötzlich vernahm man einige scharfe Schläge gegen die Flügel des Schiffes.

»Höher!« rief Ill. »Höher und schneller!«

Mit dem Schiff und den geretteten Gefährten beschäftigt, hatte man kaum noch auf den Engländer geachtet. Auch war man so weit von ihm entfernt, daß die Martier außer Schußweite zu sein glaubten. Die Engländer aber hatten, als sie sahen, daß das Luftschiff sich entfernte, ihm auf gut Glück noch einige Schüsse aus ihren weittragenden Gewehren nachgesendet, und einige Kugeln hatten es erreicht.

»Höher«, lautete der Befehl. Aber als der diabarische Apparat dementsprechend gestellt wurde, legte sich das Schiff auf die Seite. Infolge der Flügelstellung beschrieb es sofort eine Spirale nach rückwärts und kam dadurch nochmals in den Bereich der feindlichen Geschosse. Man mußte die Diabarie der rechten Seite wieder vermindern, da die linke nicht folgte. Das Schiff schwebte zwar, aber man konnte es nur langsam und in engen Grenzen heben und senken. Der Repulsitapparat war dagegen in Ordnung und trieb das Schiff vorwärts. Es entfernte sich nun vom Schauplatz des Kampfes nach Norden, in verhältnismäßig geringer Höhe über der Erde. Ein Gebirge, das noch zu überwinden war, konnte nur durch das Vorwärtstreiben mit schräggestellten Flügeln genommen werden. Infolgedessen nahm die Fahrt bis zum Pol die vierfache Zeit wie gewöhnlich in Anspruch.

Endlich kam die Polinsel Ara zu Gesicht, und das Schiff senkte sich vorsichtig auf das Dach derselben. Aufs äußerste ermüdet entstiegen die Martier dem Fahrzeug, von den Bewohnern der Insel freudig bewillkommt. Isma wurde der Obhut der Gemahlin Ras übergeben und von ihr aufs freundlichste aufgenommen. Ehe sie die Treppe in die Wohnung hinabstieg, warf sie noch einen forschenden Blick auf die Umgebung und suchte in Gedanken die Stelle zu finden, wo der Fallschirm des Ballons herabgestürzt war. Dann reichte sie Ell die Hand. Sie wollte zu ihm sprechen, aber sie fand keine Worte. Nur ihr Blick dankte ihm. »Auf Wiedersehen!«

*

Bereits vierundzwanzig Stunden hatte Isma auf der Polinsel zugebracht, ohne daß die in Aussicht genommenen Entdeckungsfahrten nach ihrem Mann angetreten wurden. So sehr sie sich danach sehnte, hatte sie doch keine Zeit, ungeduldig zu werden, denn die Fülle der neuen Umgebung beschäftigte sie ausreichend. Die Gegenwart Ells gab ihr die erforderliche Zuversicht in den neuen Verhältnissen. Saltner mit Se, La und Fru waren bereits nach dem Mars abgegangen, aber unter den noch anwesenden Martiern befanden sich noch mehrere, mit denen sie sich deutsch unterhalten konnte, so vor allem der Vorsteher Ra, dessen Frau und der Arzt Hil. Von ihnen erhielt sie nicht nur Nachricht über die Verhältnisse des Mars, sondern auch Einzelheiten über die Schicksale der Gefährten ihres Mannes, die ihr Gemüt lebhaft bewegten.

Man begab sich eben zu der üblichen Plauderstunde ins Empfangszimmer, wo Isma und Ell jetzt die Plätze einzunehmen pflegten, die für Grunthe und Saltner eingerichtet waren, als Ell mit bekümmertem Antlitz eintrat.

Isma sah ihn erschrocken an.

»Was ist geschehen?« rief sie.

»Fassen Sie sich, liebste Freundin.«

»Hugo ist –?«

»Nein, nein – wir wissen nichts – aber wir können ihn nicht suchen.«

»Warum nicht?«

»Das Luftschiff ist unbrauchbar geworden.«

»Um Gottes willen!«

»Der diabarische Apparat hat durch den übermäßigen Luftdruck bei unserm zweiten Verteidigungsschuß auf das Kanonenboot einen Fehler erhalten. Außerdem ist eine verirrte Gewehrkugel in denselben eingedrungen und hat den Differential-Regulator verletzt. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, daß die Reparatur hier nicht möglich ist. Der auseinandergenommene Apparat läßt sich nur in der Werkstätte auf dem Mars mit den dortigen Mitteln wieder einsetzen. Leider ist auch das kleine Luftboot für weitere Fahrten nicht mehr zu verwenden. Wir müssen die Nachsuchungen aufgeben.«

Isma saß starr. »Mein armer Mann!« sagte sie tonlos.

»Geben Sie sich um seinetwillen nicht so großer Sorge hin«, suchte Ell sie zu trösten. »Er wird sicherlich glücklich heimkehren. Vielleicht früher als wir«, setzte er zögernd hinzu.

Isma sah ihn an. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und ließ sie endlich langsam herabsinken.

»Wir können nicht – zurück –?«

»Es ist unmöglich – in diesem Jahr.«

»Und ich – ich glaubte – in acht Tagen – – o ich Törin! Was hab ich getan! O wäre ich nicht so eigensinnig gewesen.«

»Es ist der Fall, vor dem Ill uns warnte.«

Isma weinte still. Ell saß ratlos neben ihr.

»Was nun?« fragte sie endlich.

»Es bleibt uns nichts übrig, als mit Ill und Ra nach dem Mars zu gehen. Im ersten Frühjahr kehren wir mit neuen Luftschiffen zurück. Bis dahin hilft uns nichts als Fassung.«

»Nach dem Mars!« flüsterte Isma wie geistesabwesend. Dann stand sie auf. Sie trat vor Ell. Ihren Schmerz bezwingend, reichte sie ihm beide Hände.

»Vertrauen Sie mir!« sagte er.

Sie sahen sich in die Augen.

»Ich werde tun, was Sie verlangen«, erwiderte Isma. »Ich habe das Geschick herausgefordert. Ich muß es tragen.«

»Ob auf dem Mars oder auf der Erde – wir können dieselben bleiben.«

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