27. Kapitel

Auf dem Mars

Über dem Südpol des Mars, um den Halbmesser des Planeten von seiner Oberfläche entfernt, also in einer Höhe von 3390 Kilometern, schwebt die ausgedehnte Außenstation für die Raumschiffahrt.

Ungleich gewaltiger ist die Anlage als die am Nordpol der Erde, denn über siebzig Raumschiffe vermögen gleichzeitig hier Platz zu finden. Das abarische Feld, das die Außenstation in der Richtung der Achse mit dem Pol des Planeten verbindet, befördert stündlich einen geräumigen Flugwagen.

Heute waren die aufsteigenden Wagen bis auf den letzten Platz besetzt. Nicht nur die Bevölkerung der nächsten Umgebung drängte sich zu den Flugwagen, selbst aus den entlegeneren Gegenden waren Neugierige auf den schnellen Bahnwagen herbeigeeilt, um der Rückkehr des Regierungsschiffes von der Erde beizuwohnen. Denn heute wurde der ›Glo‹ erwartet. Die Lichtdepesche hatte gemeldet, daß der Repräsentant Ill auf der Erde den Sohn seines verunglückten Bruders, des verschollenen Raumfahrers All, aufgefunden habe und zurückbringe. Man durfte auf merkwürdige Neuigkeiten von der Erde rechnen. Auch das Raumschiff ›Meteor‹, Kapitän Oß, welches bereits vor dem ›Glo‹ die Erde verlassen hatte, wurde erwartet. Es sollte den ersten Menschen von der Erde auf den Mars bringen. Man erzählte die wunderbarsten Geschichten von seiner furchtbaren Stärke. Zehn Nume seien notwendig, um ihn in Schranken zu halten.

»Ist es denn wahr«, fragte eine besorgte Mutter, ihr Töchterchen ängstlich an sich ziehend, »daß die Menschen kleine Kinder fressen?«

Ihre Nachbarin im Flugwagen antwortete: »Ich weiß es nicht im allgemeinen, aber der, den wir jetzt erwarten, frißt keine Kinder. Ich weiß es ganz genau, denn ich erwarte meine Schwester Se, die ihn kennt; wir haben mit dem ›Kometen‹, Kapitän Jo, Briefe von ihr bekommen, und sie schreibt, daß er ein ganz netter, beinahe zivilisierter Mann sei. Sie sehen, ich habe ja auch meinen kleinen Wast und sogar meine Ern mitgebracht. Haltet euch fest, Kinder, wir sind gleich da!«

Die weiten Galerien des Ringes der Außenstation waren seit Stunden dicht mit Zuschauern besetzt, die sich vor den Projektionsfernrohren drängten und bald die Aussicht auf den Mars bewunderten, bald den gestirnten Himmel durchmusterten. Mit besonderer Vorliebe wurde die Erde aufgesucht, doch da sie fast in derselben Richtung wie die Sonne stand, konnte sie nicht gut beobachtet werden.

Der ›Glo‹ war bereits nahe herangekommen, sein roter Glanz ließ ihn im Fernrohr nicht verkennen. Man konnte die Landung in zwei bis drei Stunden erwarten. Aber auch der ›Meteor‹ war schon signalisiert. In acht bis zehn Stunden mochte er eintreffen.

Die Reise des ›Glo‹ war so beschleunigt worden, wie man es nie bei einem Raumschiff gewagt hatte. Die allgemeine Aufregung, die in allen Marsstaaten aufgrund der neuen Depeschen von der Erde entstanden war, machte wichtige politische Erwägungen und die Anwesenheit Ills im Zentralrat notwendig. Ill hatte außerdem das persönliche Interesse, Isma, der er sehr zugetan war, die Beschwerden der Reise möglichst abzukürzen. So war, durch die Stellung der Planeten begünstigt, das Außerordentliche gelungen; die Reise von der Erde zum Mars, also der Sonnenanziehung entgegen, war in acht Tagen zurückgelegt worden. Man hatte den ›Meteor‹, welcher sieben Tage früher von der Erde abgegangen war, überholt. Freilich durfte er sich nicht die Repulsitverschwendung gestatten wie das im Auftrag des Zentralrats fliegende Eilraumschiff.

Mit rührender Sorgfalt hatte Ill, den Ratschlägen Ells folgend, Isma den Aufenthalt im Raumschiff behaglich zu machen gesucht. Die Raumkrankheit, eine Folge der zeitweiligen Aufhebung der Gravitation, pflegte selbst erprobten Raumschiffern nicht ganz fernzubleiben. Auch Isma hatte unter ihr zu leiden. Aber die Beschwerden, die ihr durch die geringe Schwere innerhalb des Raumschiffes drohten, waren ihr durch eine sinnreiche Konstruktion ihres Schlafraumes sehr erleichtert worden. Derselbe stellte zwar nicht viel mehr als einen durch geeignete Ventile ausreichend gelüfteten Kasten vor, aber es war darin künstlich Schwere und Luftdruck der Erde erzeugt. Und so konnte Isma nicht nur während des Schlafes ganz nach ihrer Gewohnheit ruhen, sondern auch im Laufe des Tages sich von Zeit zu Zeit zur Erholung dahin zurückziehen. Sie fühlte sich daher vollkommen wohl, als der ›Glo‹ sich bereits dem Mars näherte.

Wie oft auch ihre Gedanken sehnsüchtig nach der Erde zurückeilten und sich um das Schicksal ihres Mannes mit Bangen bewegten, so war doch die Fülle der neuen Eindrücke gewaltig genug, um sie aufs lebhafteste zu beschäftigen und zu zerstreuen. Die Notwendigkeit, nun ein halbes Erdenjahr auf dem Mars zuzubringen, ließ sie die Muße der Reise benutzen, mit Ells Hilfe in die Sprache der Martier einzudringen, während sich Ill gleichzeitig das Deutsche aneignete. Auch an weiblicher Gesellschaft während der Überfahrt fehlte es Isma nicht, da gegen zehn Frauen verschiedenen Lebensalters mit dem ›Glo‹ von der Erde zurückkehrten.

Längst war die schmale Sichel der Erde als ein lichter Stern unter die übrigen zurückgesunken, und die Verkleinerung des Sonnenballs infolge der größeren Entfernung von ihm ließ sich, wenn man die Strahlung durch ein dunkles Glas abblendete, sichtlich bemerken. Immer mächtiger trat das Ziel der Reise, der Mars, als hell leuchtende Scheibe hervor. Jetzt hatte man sich über die Marsbahn erhoben, um, in unmittelbarer Nähe des Planeten, sich in der Richtung der Achse auf seinen Südpol hinabsinken zu lassen. Nur noch etwa 13 000 Kilometer trennten das Raumschiff von der Außenstation. Aber um diese Strecke zu durchfliegen, die man bei der vollen Fahrtgeschwindigkeit fern vom Planeten in zwei bis drei Minuten zurücklegte, bedurfte man jetzt ebenso vieler Stunden. Es galt, die Geschwindigkeit zuletzt durch Repulsitschüsse so zu vermindern, daß man gerade auf dem Ring der Außenstation zur Ruhe kam. Die Schwierigkeit der Landung erforderte die volle Aufmerksamkeit des Kapitäns Fei.

Als bevorzugte Gäste des Zentralrats konnten sich Isma und Ell bei Ill auf einer kleinen reservierten Tribüne dicht neben der Kommandobrücke aufhalten. Isma mit bangem Herzen, Ell in freudiger Aufregung, die nur durch die Teilnahme am Geschick der Freundin gedämpft war, hefteten ihre Blicke erwartungsvoll auf die neue Welt, die sich zu ihren Füßen auftat.

Es war Sommer am Südpol des Mars, und so zeigten sich, hier von der Achse aus gesehen, etwa zwei Drittel von der Scheibe des Planeten beleuchtet, während ein Drittel in tiefem Dunkel lag. Auf dem erhellten Teil vermochte man jetzt die Südhalbkugel bis gegen den zehnten Grad südlicher Marsbreite zu überblicken. Dieser Horizont verengte sich mehr und mehr beim Herabsinken des Raumschiffes, während infolge der größeren Annäherung das Bild des Planeten an Ausdehnung zunahm und die Einzelheiten immer deutlicher hervortraten. Infolge der dünnen, durchsichtigen, wolkenlosen Atmosphäre lag die Gestaltung der Oberfläche bis an den Rand der sichtbaren Fläche klar vor Augen. in der Nähe des Poles und nach der Schattengrenze hin dehnten sich weite Gebiete von grauer, ins Blaugrüne spielender Färbung, das Mare australe der Astronomen der Erde. Der Pol selbst war eisfrei, aber westlich von ihm lagen zwischen den dunklen Landesteilen noch langgestreckte Schneeflächen bis zum 80. Breitengrad hinab. Zwei ausgedehnte große Flecken, die weiter nördlich zwischen dem 60. und 70. Breitengrad hellrot im Sonnenschein glänzten, bezeichnete Ill als die Wüsten Gol und Sek; sie werden auf der Erde die beiden Inseln Thyle genannt. Im übrigen Teil der sichtbaren Scheibe herrschte diese hellrote Farbe vor, doch an mehreren Stellen von breiten und ausgedehnten grauen Gebieten unterbrochen. Alle diese dunkeln Stellen waren untereinander durch dunkle Streifen verbunden, die sich geradlinig durch die hellen Gebiete hindurchzogen. Die hellen Teile sind teils sandige, teils felsige Hochplateaus, trockene und fast vegetationslose Gegenden, in denen sich nur spärliche Ansiedlungen zur Gewinnung der Mineralschätze des Bodens befinden. Dicht bevölkert dagegen sind die dunklen Teile, deren Erdreich von Feuchtigkeit durchdrungen und mit einem üppigen Pflanzenwuchs bedeckt ist.

Ein seltsames Farbenspiel entwickelte sich an der Schattengrenze, an welcher die Sonne für die Marsbewohner im Aufgehen und die Nacht zu entschwinden im Begriff war. Während der Nacht bedeckte sich die Oberfläche des Planeten infolge der starken Abkühlung weithin mit einer Nebelschicht. Wo diese dichter war, dauerte es einige Zeit, ehe sie von den Strahlen der Sonne aufgesogen wurde, und hier erschienen glänzende Lichter durch den Reflex der Strahlen auf den Nebeln. Einzelne der Hochplateaus erhoben sich so weit, daß sie mit Schnee oder Reif bedeckt waren, der aber bald in den Strahlen der Sonne verschwand.

Ill wies nach einer Stelle nahe am nördlichen Rand des Vegetationsgebiets, schon an der Grenze des Horizonts, wo der graue Grund eine Mannigfaltigkeit von teils helleren, teils dunkleren Konturen aufwies und wohin durch die benachbarten roten Wüsten eine besonders große Anzahl dunkler Streifen zusammenliefen.

»Dort liegt Kla«, sagte er, »der Sitz des Zentralrats, und dort werden wir zunächst wohnen. Nur wenn der Sommer noch weiter fortgeschritten ist, rücken wir weiter nach dem Südpol vor.«

»Es wird mir leicht werden«, bemerkte Isma mit einem wehmütigen Lächeln, »denn ich werde nicht viel Gepäck haben.«

»Daran wird es Ihnen nicht fehlen, ich werde es mir nicht nehmen lassen, Ihnen eine vollständig eingerichtete Wohnung zur Verfügung zu stellen. Sie werden sich dann wohl bequemen, unsere Tracht anzunehmen, denn es wird Ihnen nicht angenehm sein, aufzufallen. Übrigens müssen Sie wissen, daß ein Umzug von einem Ort zum andern kein Einpacken und Umräumen erfordert. Wir ziehen mit unserm ganzen Haus. Sie bestellen nur beim nächsten Transportbüro, wann und wohin Sie befördert sein wollen, legen sich ruhig schlafen und sind am andern Morgen an Ort und Stelle.«

»Es wird nämlich meistens in der Nacht gezogen«, erklärte Ell weiter. »Die Häuser stehen auf Rollschlitten und werden auf unsern Gleitbahnen befördert. Größere Lasten lassen sich vorteilhafter in der Nacht fortbringen, am Tag würden wir bei der herrschenden Trockenheit stärkeren Wasserverbrauch haben.«

»Hat denn jede Familie ihr eigenes Haus?«

»In den wohlhabenden Staaten gewiß, und wo man es sich gestatten kann, sogar jede einzelne Person. Die Häuser sind nicht sehr groß, es werden aber diejenigen einer Familie zu einer zusammenhängenden Gruppe verbunden. Sie werden es bald sehen, denn wir nähern uns dem Ziel. Blicken Sie gerade unter uns. Der glänzende Punkt – es ist schon eine kleine Scheibe – ist der Ring der Außenstation. Von dort bringt uns der Fallwagen nach Polstadt, wo wir zunächst übernachten.«

»Das Letztere«, bemerkte Ill, »ist noch nicht gewiß. Vielleicht müssen wir unsre Reise sogleich fortsetzen. Doch gehen unsre Wagen so ruhig und sind so bequem eingerichtet, daß Sie keinerlei Anstrengung zu fürchten haben.«

An der unteren Wölbung des Raumschiffs flammte das Zeichen der Marsstaaten auf. Der ›Glo‹ hatte sich bis dicht über die Station gesenkt, deren Raumschiffe wie eine Stadt aus riesigen Kuppeldomen im Sonnenschein strahlten. Alle diese Schiffe ließen jetzt ihre Symbole und Flaggenzeichen an ihren Wölbungen zur Begrüßung aufleuchten. Fast unmerklich langsam glitt das Schiff auf seinen Platz nieder. Kein Laut unterbrach die Stille, durch die Leere des Weltraums pflanzte sich kein Schall fort. Aber hinter den durchsichtigen Wänden der Galerien sah man eine gedrängte Menge, die dem nahenden Schiff mit Schleiern ihr Willkommen zuwinkte.

Der aufnehmende Zylinder senkte sich in die Empfangshalle, der ›Glo‹ ruhte an seinem Ziel; der Stationsbeamte betrat durch die Eingangsluke das Schiff. Ill mit seinen Gästen zog sich zunächst in das Innere des Schiffes zurück. Nach Erfüllung der erforderlichen Förmlichkeiten wurde das Verlassen des Schiffes gestattet. Zunächst strömten die von der Erde abgelösten Martier heraus und wurden von ihren Verwandten und Freunden jubelnd bewillkommnet. Erst nachdem dieses rege Gewühl sich einigermaßen gelegt hatte, nahte sich eine Deputation von Mitgliedern des Zentralrats und andern offiziellen Persönlichkeiten und betrat das Innere des Raumschiffs. Hier erfolgte die Begrüßung und formelle Vorstellung von Ell und Isma, indem Ill in Kürze die notwendigsten Erklärungen gab. Ein erster telephotischer Bericht war bereits von der Erde aus vorangegangen.

Obgleich dieser Empfang im Innern des Schiffes ziemlich lange währte, hatten die Zuschauer es sich doch nicht nehmen lassen, in der Empfangshalle zu warten. Absperrungen gab es nicht. Es verstand sich von selbst, daß die Martier den Ausgang des Schiffes und den Weg nach der Abfahrtshalle des Fallwagens im abarischen Feld freiließen.

Endlich erschien die Empfangsdeputation wieder und schritt den Weg nach dem Fallwagen voran. Hinter ihr kam Ill, der Isma führte, während Ell an seiner linken Seite ging.

Isma hatte den Schleier dicht vor ihr Gesicht gezogen, sie wagte nicht, sich umzuschauen. Ill und Ell dankten nach martischer Sitte für die Willkommrufe, die ihnen entgegenschallten. Erst als Isma bereits auf der Treppe des Fallwagens stand, schob sie ihren Schleier zurück und warf einen Blick auf das bunte Bild der bewegten Menge. Ein enthusiastischer junger Mann, der sich bis dicht an die Treppe gedrängt hatte, warf ihr einen Gegenstand zu, den sie nicht kannte; doch ahnte sie wohl, daß dies eine Huldigung sein sollte. Es war allerdings nicht, wie sie vermutete, ein Blumenstrauß, sondern ein buntes Spielzeug, wie man sie kleinen Kindern schenkte. Hier auf der Außenstation, um den Marsdurchmesser vom Mittelpunkt des Planeten entfernt, herrschte nur der vierte Teil der Marsschwere, also nur ein Zwölftel der Erdschwere. Der Gegenstand, etwas höher als Ismas Kopf geworfen, schwebte daher so langsam herab, daß sie ihn bequem mit der Hand ergreifen konnte. Sie tat es und verneigte sich in ihrer natürlichen Anmut gegen die Anwesenden, für welche die Fremdartigkeit ihres Grußes einen besondern Reiz hatte.

»Sila Ba!« – »Es lebe die Erde!« rief der Jüngling, und die Versammlung stimmte in den Ruf ein. »Sila Ill, Sila Ell, Sila Ba!«

In der Tür des Wagens wandte sich Isma nochmals zurück. Sie faßte Mut und rief: »Sila Nu!« Sie erschrak über ihre eigene Stimme. Denn selbst die Hochrufe der Martier klangen tief und halblaut, sie aber hatte ihre helle Menschenstimme nicht gedämpft, und so hob sich ihr Gruß deutlich in dem allgemeinen Geräusch ab. Die Martier waren entzückt.

*

Der Verkehr auf weite Strecken und mit großer Geschwindigkeit wurde auf dem Mars durch zwei Arten von Bahnen vermittelt, Gleitbahnen und Radbahnen. Die Kraftquelle war die Sonnenstrahlung selbst; sie wurde auf den glühenden, trockenen Hochplateaus in ausgedehnten Strahlungsflächen gesammelt und den Motoren in Form von Elektrizität zugeleitet. Bei den Gleitbahnen befand sich zwischen der Schienenbahn und der Last, die auf Schlittenkufen mit eingelassenen Kugeln ruhte, eine dünne Wasserschicht, wodurch die Reibung so vermindert wurde, daß man riesige Massen mit großer Geschwindigkeit transportieren konnte. Noch viel rascher indessen fand der Personenverkehr auf den Radbahnen statt. Die zwischen drei Schienen laufenden Einzelwagen legten in der Stunde 400 Kilometer zurück. Der Verkehr durch Luftschiffe hatte sich bis jetzt nicht als vorteilhaft bewährt, doch beabsichtigte man nunmehr nach den neuen Entdeckungen, zu denen die Fahrten nach der Erde geführt hatten, den Bau neuer Luftschiffe mit Repulsitmotoren in Angriff zu nehmen. Ill hatte beim Empfang erfahren, daß er die Reise sogleich fortsetzen solle. Er bestieg daher mit seinen Gästen den von der Regierung gestellten Zug, um ohne Aufenthalt nach Kla zu gelangen. Trotzdem war hierzu eine zwölfstündige Fahrt erforderlich.

Jene Bahnen wurden aber nur dann benutzt, wenn es sich darum handelte, große Strecken in kürzester Zeit zurückzulegen. Das Hauptverkehrsmittel war stets der Radschlitten, ein leichter, teils auf Kufen, teils auf Rädern ruhender Wagen für ein oder zwei Personen, den ein unter dem Sitz befindlicher kleiner Motor bewegte. Ferner kamen dazu die Stufenbahnen, die in regelmäßigen Abständen von etwa zehn Kilometern alle bewohnten Gegenden mit ihrem dichten Netz überspannten. Diese Stufenbahn war das Ideal einer Straße, in ihr war jene Phantasie des Märchendichters realisiert, daß statt des Reisenden die Wege selbst sich bewegten. Die Breite der eigentlichen Fahrstraße betrug etwa 30 Meter, und ebenso breit waren die parallellaufenden Zugangsstraßen. Diese bestanden aus zwanzig eng nebeneinander befindlichen Streifen von anderthalb Meter Breite, von denen der äußere sich mit einer Geschwindigkeit von drei Metern in der Sekunde fortschob. Jeder folgende, nach innen zu, hatte eine um drei Meter größere Geschwindigkeit, so daß die Bahn in der Mitte, die eigentliche Fahrstraße, sich mit einer Geschwindigkeit von 60 Metern in der Sekunde bewegte. Jeder Punkt derselben legte also in der Stunde über 200 Kilometer zurück. Die Streifen selbst erhielten ihre Bewegung durch Walzen, über welche sie in der Art von Transmissionsriemen gezogen waren. Man konnte die Stufenbahn sowohl zu Fuß als auf dem eigenen Radschlitten benutzen. An jeder Stelle konnte sie betreten und verlassen werden. Die Geschwindigkeit des ersten Streifens von drei Metern konnte man auf dem Mars, wo wegen der geringeren Schwere das Springen eine jedermann geläufige Sache war, leicht erreichen, noch bequemer mit Hilfe des Radschlittens. Man sprang oder fuhr also einfach auf diesen Streifen, und da jeder folgende Streifen zum vorhergehenden dieselbe relative Geschwindigkeit besaß, so gewann man, von Streifen zu Streifen schräg vorwärts gehend oder fahrend, die Geschwindigkeit der Hauptstraße. Diese benutzte man, ebenfalls fahrend oder gehend, soweit man wollte, um alsdann in derselben Weise sie wieder zu verlassen. Die linke Seite war zum Aufstieg, die rechte zum Abstieg bestimmt. Über die Stufenbahn führten alle hundert Meter leichte Brücken.

Über den Bahnen erhoben sich, die ganze Breite in kühnen Bogen überspannend, die Riesengebäude des gewerblichen und Geschäftsverkehrs. Diese stiegen bis zur Höhe von hundert Meter an. Das leichte, feste Baumaterial gestattete bei der geringen Marsschwere diese gewaltigen Wölbungen und Säulenmassen. Gleich Palästen und Domen, in zierlichen Formen und lichten Farben, stiegen die Gebäude wie spielend in die klare Luft, überall auf ihren Dächern die Sonnenstrahlen sammelnd, um ihre Kraft zu verwerten. So zogen diese Hallen ohne Unterbrechung durch das Land, es in große Abschnitte von durchschnittlich hundert Quadratkilometer Fläche zerlegend. Eigentliche Städte oder Dörfer gab es hier nicht, die Orte gingen ineinander über, und nur als Verwaltungsbezirke schieden sich die Gebäude in zusammengehörige Gruppen. Diese Bauten überbrückten auch die Kanäle und die Bahnen, die sich meist in derselben Richtung mit ihnen hinzogen.

Entfernte man sich aber von diesen Industriestraßen nur um einige hundert Schritte, so befand man sich in einer vollständig anderen Gegend. Gewaltige Riesenbäume, deren Gipfel zum Teil sogar die hundert Meter hohen Gebäude noch überragten, verdeckten mit ihren Zweigen die Nähe der Bauwerke. Es waren teils den Platanen, teils den Fichten gleichende Pflanzen, mit denen sich kein irdischer Baum, selbst nicht die berühmten Riesen des Yosemite-Tales, vergleichen konnte. Erst in einer Höhe von etwa vierzig Metern begann der Astansatz, und von hier aus bildete das Laubdach eine natürliche Wölbung, auf den geradlinig aufsteigenden Pfeilern der Stämme ruhend. Kein direkter Sonnenstrahl vermochte den Boden zu treffen, aber ein mildes, bläulich-grünes Licht schimmerte von den Blättern hernieder und verteilte sich gleichmäßig im Raum. Diese lebendigen Kuppeln ersetzten den Martiern den Schutz einer dichteren Atmosphäre, sie milderten den Gegensatz der Einstrahlung am Tag und der Ausstrahlung in der Nacht und schützten den Boden vor Verdunstung. Der gesamte Raum der von den Industriestraßen begrenzten Bezirke war eine solche entzückende Waldlandschaft, die übrigens nach der Mitte der Bezirke zu auch zuweilen von Lichtungen unterbrochen wurde und eine reiche Abwechslung des Pflanzenwuchses darbot.

Auf beiden Seiten der Industriestraßen, in einem Streifen von etwa tausend Metern Breite, erstreckten sich die Privatwohnungen der Martier. Unter dem Riesendach der Bäume dehnte sich ein reizendes Gewirr von Garten- und Parkanlagen aus, Blumenbeete und kleine Teiche wechselten mit Gebüsch und Baumgruppen, deren Höhe das auf der Erde gewohnte Maß nicht überstieg. Mitten in diesen Gärten, die bald aufs anmutigste gepflegt, bald als einfache Rasenplätze sich darstellten, standen die Häuser der Martier, kleine einstöckige Gebäude, manchmal zu Gruppen zusammengeschlossen, im allgemeinen aber villenartig durchs Gelände zerstreut. Sie reihten sich, vom Blaugrün der Sträucher und bunten Blumenbosketts umgeben, unregelmäßig zu beiden Seiten der Wege, auf deren festem Moosteppich sich, für das Auge wenig bemerkbar, die Geleise der Gleitbahn hinzogen. Sämtliche Martier in den kulturell entwickelten Teilen des Planeten hielten sich in solchen ländlichen Wohnsitzen auf, sofern sie nicht gerade geschäftlich oder dienstlich in den Industrieräumen zu tun hatten. Es kamen hier auf einen Quadratkilometer ungefähr tausend Einwohner, so daß ein solches Straßenviertel von zehn Kilometern Länge und Breite in dem Streifen, der es umfaßte, gegen vierzigtausend Einwohner zählte. Hatte man diese Zone von Wohnstätten durchschritten und drang man auf einer der schmalen, sauber angelegten Straßen weiter in das Innere des Bezirks vor, so nahm die Landschaft wieder einen neuen Charakter an. Die Gärten hörten auf, an ihre Stelle trat die Wildnis des Waldes. Tiefe Stille herrschte ringsum, nur unterbrochen durch das leichte Summen kleiner Vogelarten oder das Zwitschern der singenden Blüten, die sich auf ihren schwanken Stengeln wiegten. Zahlreiche Wasseradern verzweigten sich unter den breiten Blättern einer Sumpfpflanze und sammelten sich zu einem stillen See, dessen dunkle Fläche seine Ufer widerspiegelte. Und alles dies war überragt und geschützt von dem sanft leuchtenden Blätterdach der Riesenbäume, das sich wie ein grünes Himmelszelt über die niedere Waldlandschaft hindehnte. Man war entrückt in die Einsamkeit ungestörter Natur, und nichts verriet, daß man auf dem eilenden Radschlitten in wenigen Minuten auf die Weltstraße gelangen konnte, wo Millionen geschäftiger Bewohner, die Kräfte der Sonne und des Planeten ausnutzend, arbeiteten. Es war ein Gesetz, daß in jedem Bezirk drei Fünftel des Flächenraums im Innern als Naturpark von jeder Ausbeutung und Bewohnung geschützt blieb, was jedoch eine geregelte Forstkultur darin nicht ausschloß. Je nach der areographischen Breite wechselte natürlich die Art der vorherrschenden Pflanzen. Ihr Wuchs wurde üppiger in der Nähe des Äquators, spärlicher nach den Polen zu. Doch gab es in den Niederungen nirgends eine eigentliche Waldgrenze, da nach den Polen hin die Feuchtigkeit das Klima milderte.

Einen starken Gegensatz zu dem reichen Kulturleben und der Lebensfülle der Niederungen boten die felsigen Hochplateaus, auf denen es an einigen Stellen sogar beträchtliche Gebirge gab. Im allgemeinen erhoben sie sich jedoch nicht bedeutend über die Tiefebenen. Auch durch jene Wüsten zogen sich, uralten Kulturwegen folgend, die Industriestraßen hin, nur daß sie hier nicht ein dichtes Netz bildeten, sondern parallel verliefen und dadurch Streifen von dreißig bis dreihundert Kilometern Breite darstellten, die mit Bewohnern besetzt waren. Denn jeder solcher Streifen war von einem Kanal begleitet, der das Wasser von den Polen über den ganzen Planeten verbreitete. Nicht immer reichte die Wassermenge aus, alle diese Kanäle zu füllen, so daß die Breite des Vegetationsstreifens je nach der Stärke der Bewässerung wechselte. Es schien dann, von der Erde aus gesehen, als ob die dunklen Streifen, welche die Wüstengebiete auf die Länge von Tausenden von Kilometern durchsetzen, sich seitlich verschoben, verengten, verbreiterten oder auch verdoppelten. Sobald der Wasserzufluß hier aufhörte, verloren die schützenden Bäume ihr Laub und der Boden verdorrte, wenige Tage aber genügten auch wieder, dem Pflanzenwuchs seine Frische zurückzugeben.

Die Bevölkerung dieser Weltstraßen stand unter ungünstigeren Lebensbedingungen als die der immer feuchten Niederungen, aber sie war doch ungleich besser gestellt als die Bewohner der Wüsten. Hier hausten in der Kultur zurückgebliebene Gruppen der Bevölkerung des Planeten, die zum Teil sogar noch Ackerbau trieben, wo geringe Einsenkungen infolge der nächtlichen Niederschläge den Anbau von Früchten gestatteten, zum größeren Teil aber im Bergbau und in den Strahlungs-Sammelstätten tätig waren. Denn jene Wüstengegenden, einst leer und unbewohnt, waren in der gegenwärtigen Kulturperiode des Planeten das Hauptreservoir und die Hauptquelle für die Energie geworden. Aus den Kalkfelsen, dem ausgetrockneten Ton- und Lehmboden und den darunter befindlichen, von Erzgängen reich durchsetzten Schichten zog die Bevölkerung des ganzen Planeten ihre Nahrung und ihre Macht. Aber die klimatischen Verhältnisse gestatteten nicht, die Verarbeitung an Ort und Stelle vorzunehmen. Die Gesteinsmassen wurden an den Rändern der Verkehrsstreifen gebrochen, wodurch diese sich allmählich verbreiterten. Die Sonnenstrahlung wurde auf der ganzen Hochfläche gesammelt und in der Form von Elektrizität über den Planeten verteilt. Die Bergleute an den Rändern der Kulturstreifen gelangten dabei zu Wohlstand, vermischten sich stetig mit der Bevölkerung der Niederungen und rekrutierten sich immer aufs neue aus dem Stand der Beds, den Wüstenbewohnern, die für die Besorgung der Sammelwerke unentbehrlich waren. Diese abgehärteten Wüstensöhne durchzogen im Sonnenbrand die weiten Hochflächen, um im Dienst der großen Strahlensammelkompagnien die Stromleitungen bei Sonnenaufgang in Tätigkeit zu setzen und bei Sonnenuntergang wieder abzustellen. Sie erhielten einen reichlichen Lohn, der ihnen wohl gestattet hätte, nach einer Reihe von Jahren ihren beschwerlichen Beruf aufzugeben, aber sie liebten ihre Hochflächen, wie ihre Väter sie geliebt hatten, wo in der Nacht der Himmel mit Millionen Sternen leuchtete, wo wallende Nebel der Morgensonne vorauszogen und dann das Glutgestirn den Boden unter den Füßen brennen ließ. Sie liebten die Wüste und schüttelten die Köpfe, sobald einer der Ihren in die Schächte am Wüstenrand hinabstieg. Sie betrachteten die Bewohner der Täler nur als die Lieferanten ihrer Bedürfnisse und fühlten sich als die eigentlichen Spender der Kraft des Planeten; aber sie wußten auch, daß sie trotz ihrer Sonne und Sterne verhungern müßten, wenn nicht die klugen Männer der Tiefe ihnen Steine in Brot verwandelten.

Steine in Brot! Eiweißstoffe und Kohlenhydrate aus Fels und Boden, aus Luft und Wasser ohne Vermittlung der Pflanzenzelle! – Das war die Kunst und Wissenschaft gewesen, wodurch die Martier sich von dem niedrigen Kulturstandpunkt des Ackerbaues emanzipiert und sich zu unmittelbaren Söhnen der Sonne gemacht hatten. Die Pflanze diente dem ästhetischen Genuß und dem Schutz der Feuchtigkeit im Erdreich, aber man war nicht auf ihre Erträge angewiesen. Zahllose Kräfte wurden frei für geistige Arbeit und ethische Kultur, das stolze Bewußtsein der Numenheit hob die Martier über die Natur und machte sie zu Herren des Sonnensystems.

28. Kapitel

Sehenswürdigkeiten des Mars

In einem der großen Bezirke, welche den Sitz der Zentralregierung des Mars umschlossen und den Gesamtnamen Kla führten, lag die Wohnung Ills nahe an der Grenze der Waldwildnis. Sie bestand aus mehreren miteinander verbundenen Einzelhäuschen, so daß das Ganze eine geräumige Villa darstellte. Die Anlagen, die sich um die Gebäude erstreckten, zeugten von sorgfältiger Pflege und feinem Geschmack. Am Eingang des Gartens saßen rechts und links in anmutiger Haltung zwei Frauengestalten, die sich im Scherz eine Blumengirlande zu entreißen suchten; sie zogen quer über den Weg an den entgegengesetzten Enden derselben und versperrten dadurch den Zutritt.

Auf der schmalen, glatten Straße, die zwischen den Nachbargärten von dem Hauptweg abzweigend auf diesen Eingang hinführte, näherte sich rasch ein leichter, zweisitziger Radschlitten. Ein jüngerer Mann in der anliegenden Sommerkleidung der Martier lenkte denselben; der Sitz neben ihm war leer. Wer Ell mit dem grauen Haar und der Falte zwischen den Augen nachdenklich von seiner Sternwarte in Friedau hatte herabsteigen sehen, hätte ihn in diesem Martier nicht wiedererkannt. Ell fühlte sich in der Tat wie verjüngt, gleich als ob seine Erdenjahre ihm nach der Rechnung des Mars, zwei auf ein Marsjahr, angerechnet werden sollten. Ein unaussprechliches Glücksgefühl durchzog seine Seele; das Bewußtsein, dem Planeten zurückgegeben zu sein, den er für seine Heimat hielt, mitzuleben unter den Numen und ihren Götterwandel zu teilen, erhob ihn zunächst über alle die Sorgen, die bei dem Gedanken an das Geschick der Erde und seiner irdischen Freunde sich ihm aufdrängten. Es war ihm, als müßten alle diese Schwierigkeiten unter den Händen der Nume von selbst sich lösen, und er genoß in vollen Zügen die Seligkeit, all das Große und Herrliche zu sehen, von dem sein Vater mit dem Schmerz des Verbannten in unstillbarer Sehnsucht geredet hatte.

Der Radschlitten glitt auf den Eingang des Gartens zu, und Ell ließ den Strahlenkegel einer kleinen, an der Lenkstange des Radschlittens befestigten Lampe einen Moment auf die Augen der rechts sitzenden Frau fallen. Sogleich richteten beide Figuren sich in die Höhe und erhoben wie zum Gruß die Arme, indem sich dabei die Girlande wie ein Triumphbogen emporschwang und den Eingang freigab. Der Schlitten glitt hindurch und hielt gleich darauf vor der Veranda des Hauses.

Die beiden anmutigen Pförtnerinnen waren Automaten. Die Bestrahlung der Augen der rechtssitzenden löste eine chemische Reaktion aus und öffnete dadurch die Pforte. Zugleich wurde damit der Eintritt eines Ankommenden im Innern des Hauses signalisiert.

Ell sprang aus dem Schlitten und eilte die Stufen der Veranda empor.

Eine schlanke Frauengestalt trat ihm aus dem Haus entgegen.

Ell blieb erstaunt stehen. Er erkannte nicht sogleich, wen er vor sich hatte. Er hatte Isma noch nicht im Kostüm der Martierinnen gesehen.

»Isma!« rief er jetzt, mit bewundernden Blicken sie anstarrend. Er wollte nach Martiersitte die Hände auf ihre Schultern legen, aber sie ergriff sie nach alter Gewohnheit mit den ihrigen und drückte sie freundschaftlich.

»Ich kann nicht dafür«, sagte sie, verlegen errötend, »Frau Ma hat es nicht anders gewollt.«

»Sie konnte es nicht besser treffen«, sagte Ell heiter, »ich wünschte, ich könnte so mit Ihnen durch die Straßen von Friedau gehen. Passen Sie auf, das kommt auch noch.«

Isma schüttelte leise den Kopf. »Lassen Sie uns jetzt nicht an die Erde denken. Wenn ich allein bin, kommen meine Gedanken nicht fort davon, immer sehe ich den Zettel auf dem Tisch meines Zimmers, als ich die Lampe abdrehte, und dann die Gletscher zwischen den Felsen, wo – –. Nein, Ell, bis wir nicht handeln können und nichts Neues erfahren, lassen Sie mich in Ihrer Gegenwart versuchen, mit Ihnen auf dem Mars zu leben. Versuchen – wie ich dies Kleid versuche.«

»Verzeihen Sie mir«, sagte Ell, »ich bin so überrascht von allem Neuen, daß ich nicht sogleich den richtigen Ton traf. Aber ich werde es. Und jetzt wollen Sie mir die Freude machen, mich zu begleiten?«

Sie blickte wieder lächelnd an sich herab und zupfte an den dichten Falten des Schleiergewandes.

»Ich will nur fragen, was noch zur Straßentoilette gehört«, sagte sie. »Nehmen Sie Platz.« Sie schlüpfte in das Zimmer.

Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Sie trug jetzt den leichten Kopfputz der Martierinnen, wie er im Sommer üblich war, der nur den Vorderkopf bedeckte. Ein Kranz sehr feiner und zarter Federn schützte die Stirn und die Augen, indem er als ein halbkreisförmiger Schirm vortrat. Die Farbe war genau das tiefe Blau ihrer Augen, und von derselben Farbe war das den schlanken Formen sich anschließende weiche Panzerkleid, das, stärker als Seide, metallisch, wie die Flügeldecken mancher Käfer schimmerte. Der Schleier, auf beiden Schultern befestigt, wurde von einem Gürtel zusammengehalten, dessen Grund unsichtbar war, er erschien nur wie ein Kranz ineinander verschlungener Zweige. Vom Gürtel ab floß der Schleier, dessen Farbe genau dem Lichtbraun des Haares angepaßt war, in dichten Falten um die ganze Gestalt bis zu den Knöcheln, wurde aber von scheinbar vom Gürtel herabhängenden Blütengewinden durchsetzt. Dunkelblaue Schuhe vollendeten den Anzug. Es war, als hätte sich der schimmernde Lichtglanz der Augen und das zarte Gewölk des Haares um den ganzen Körper verbreitet.

Hinter Isma erschien eine ältere, würdige Dame, Frau Ma, die Gattin Ills.

»Guten Morgen«, rief Ell, ihr freudig entgegentretend. »Darf ich dir deinen Gast entführen?«

Ma warf mit jugendlicher Frische den Kopf zurück und blinzelte Ell mit ihren gutmütigen Augen vergnügt an, ihn von oben bis unten musternd.

»Ganz wie eingeboren!« sagte sie lachend. »Eigentlich hatte ich mich auf einen Menschenneffen gefreut, der in Felle gekleidet umherläuft. So macht man's wohl? Nicht?«

Dabei streckte sie Ell ihre linke Hand entgegen.

»Die rechte, Tante!« sagte Ell.

»Na also dann wohl die?«

Ell ergriff die Hand und zog sie an seine Lippen.

»So also wird das gemacht?«

»Herren gegen Damen, wenn sie besonders aufmerksam sein wollen. Einer Tante darf man sogar um den Hals fallen.«

»Na, ein andermal. Aber nun sag einmal, Neffe, wie gefällt dir das Kind?« Dabei faßte sie Isma am Arm und drehte sie ohne weiteres um sich selbst. »Mir gefällt bloß nicht«, fuhr sie sogleich fort, »daß sie so traurige Augen macht. Das ist nichts, auf dem Nu muß man lustig sein. Nun nimm sie einmal mit und zeig ihr die Welt. Du sollst mir sie ein bißchen munter machen.«

Sie ließ Isma gar nicht zu Wort kommen, sondern schob die beiden, sie freundlich auf die Schulter klopfend, nach der Treppe. Schon hatte Isma den Wagen bestiegen, und Ell wollte ihn eben in Bewegung setzen, als Ma rief:

»Halt, halt! Isma, Frauchen, Sie haben ja Tuch und Schirm vergessen. Bleiben Sie nur sitzen. Ich hab's schon drin zurechtgelegt.«

Im Augenblick erschien sie wieder und warf ein kleines Rohr hinab. Ell fing es auf.

Isma dankte.

»Wenn Sie auf der einen Seite ziehen, ist's ein Schirm, und auf der andern bekommen Sie ein Umschlagetuch. Da, an den Gürtel hängt man's – – zeig's ihr doch, Ell! Fahrt wohl, ihr Kinder.«

Isma betrachtete das zierliche Röhrchen. »Ich denke«, sagte sie, »hier regnet es nur in der Nacht. Wozu braucht man da einen Schirm?«

»Es ist auch eigentlich ein Sonnenschirm.«

»Aber hier ist überall der wunderbare Baumschatten, und die Straßen draußen sind alle überwölbt.«

»Es gibt auch Lichtungen und Übergänge, wo der Schirm unentbehrlich ist; denn wo die Sonne scheint, brennt sie gewaltig. Obwohl wir soviel weiter von ihr entfernt sind als auf der Erde, schützt uns doch nicht die dichte Erdenluft; es ist, als ob wir auf dem Gaurisankar ständen.«

»Aber diese herrliche Vegetation.«

»Den Verhältnissen angepaßt, und die sind doch wieder ganz andere als auf einem Gebirge. Hier in den Niederungen halten wir alle Wärme fest und geben keine wieder heraus. Dafür sorgen die großen pelzverbrämten Blätter unsrer Riesenbäume. Aber Sie sind an das Klima nicht gewöhnt, es ist vielleicht besser, wenn Sie während des Fahrens sich in das Tuch hüllen. Erlauben Sie.«

Ell nahm Isma das Schirmröhrchen aus der Hand und zog an dem Ring, welcher das eine Ende abschloß. Eine kleine Rolle, nicht größer als ein Zeigefinger, schob sich heraus, scheinbar schwarz; aber unter Ismas Händen entfaltete sich das Röllchen zu einer großen Decke, in die man den ganzen Körper einhüllen konnte. Das Gewebe war ganz weich, locker und vollständig unsichtbar, die eingewebten dunklen Fäden dienten nur dazu, überhaupt erkennen zu lassen, wo das Tuch sich befand und wie weit es reichte. Isma hüllte sich behaglich hinein, und man bemerkte nicht, daß sie überhaupt ein Tuch umgeschlagen hatte; ihre Toilette blieb vollständig sichtbar.

»Das ist ja wie das Zelt der Fee Paribanu«, sagte sie lächelnd. »Aber wie bekommt man denn das Tuch wieder in das Futteral?«

»Man knüllt es einfach in der Hand zusammen und stopft es hinein. Diesen Lisfäden ist es ganz gleichgültig, wie sie zu liegen kommen, man kann sie zusammenpressen wie Luft.«

»Jetzt ist es erst behaglich«, sagte Isma. »Und wie still und schön. Das ist ja wie in unserem Wald, nur Felsen scheint es nicht zu geben. Aber so viel Wasser! Und ich denke, der Mars ist so wasserarm?«

»Das ist auch richtig, wir haben kein Meer, wenigstens kein nennenswertes. Unser ganzer Reichtum ist auf dem Land verteilt, da nutzen wir ihn aus.«

Es war am frühen Vormittag. Die Wege hier im Waldesdickicht waren einsam, nur hin und wieder begegnete man einem Gleitwagen oder einem Spaziergänger. Ell hatte sein Gefährt langsam durch den Naturpark gelenkt, es näherte sich jetzt der gegenüberliegenden Grenze des Bezirks, die Wege wurden belebter, und die ersten Häuser der Wohnungszone erschienen. Ein starkes Geräusch wie das einer Säge unterbrach die Ruhe der Umgebung. Bei einer Wegbiegung wurde die Ursache sichtbar. Es war in der Tat eine große Säge, die, von einem elektrischen Motor getrieben, den sieben Meter im Durchmesser haltenden Stamm eines der Waldriesen bereits bis auf einen kleinen Rest durchnagt hatte. Das Alter – er zählte über sechstausend Jahre – hatte ihn vollständig gehöhlt und der Zusammensturz war zu befürchten; man mußte ihn beseitigen.

»Mitten zwischen diesen anderen Bäumen«, rief Isma, »wie ist das möglich? Er muß ja in seinem Fall ringsum alles zermalmen.«

Auch Ell wußte keine Auskunft zu geben. »Vielleicht sehen wir bald, was geschieht, wenn wir ein wenig warten, die Säge ist ja schon fast hindurch. Man muß doch keine Gefahr befürchten, denn nur ein kleiner Kreis ringsum ist abgesperrt.«

Nach wenigen Minuten war die Säge aus der Rinde vollends herausgedrungen. Die Maschine schob sich beiseite, und die Arbeiter zogen sich außerhalb des abgesperrten Kreises zurück. Der Arbeitsleiter sprach in ein Telephon, dessen Drähte sich nach oben zwischen den Ästen der Bäume verloren. Gleich darauf vernahm man ein gewaltiges Rauschen zwischen den Blättern, einzelne Zweige wurden geknickt, und Blätter fielen herab. Der Riesenbaum schwankte ein wenig und hob sich langsam in die Höhe. Wie er gestanden, senkrecht, schwebte er aufwärts zwischen seinen gesunden Nachbarn, von denen nur einzelne Äste und Zweige mitgerissen wurden, die sich zu eng mit denen des gefällten Baumes verbunden hatten. Ein Streifen Sonnenlicht durchbrach das blaugrüne Laubdach.

»Ich sehe es jetzt«, rief Ell. »Sie heben den Baum mittels Luftballons in die Höhe. So wird er sogleich bis zur Fabrik transportiert werden, wo man das Holz verarbeitet. Und raten Sie, was in dem hohlen Baum steckt!«

»Nichts, vermutlich.«

»Hier, Ihr Tuch. Vielleicht hunderttausend solcher Tücher. Sehen Sie, da –«

Eine Anzahl Neugieriger, besonders aber Kinder, hatten sich um den abgesperrten Kreis gesammelt. Als die Schranken fielen, stürzten sie mit Jubel auf den Stumpf des Baumes zu und kletterten auf den Rand. Gleich darauf sah man sie, die Hände fest zusammengedrückt, davonlaufen.

»Was haben sie da?« fragte Isma.

»Das Gewebe der Lisspinne, es füllt die Höhlung des Baumes zum großen Teil aus, und was unten im Stumpf bleibt, gehört dem, der es nimmt.«

Ein kleiner Junge rannte auf Ells Wagen zu, den er im Eifer so spät bemerkte, daß er beim Ausweichen hinstürzte. Gleich war er wieder auf den Beinen, aber jetzt suchte er nach seiner Handvoll Lis, die ihm entfallen und nun kaum zu sehen war. Isma, die den Wagen verlassen hatte, sah das Gewebe zufällig am Boden glitzern und hob es auf. Sie betrachtete es neugierig. Der Knabe bemerkte es. Es war ein kleines, dickes, pausbäckiges Kerlchen, sehr ärmlich gekleidet. Er starrte Isma an. Sie hielt ihm das wirre, weiche Fadenknäuel hin. Seine Augen leuchteten groß auf, als er es wieder erhielt, aber er blieb wie angenagelt mit gespreizten Beinchen vor Isma stehen. Seine Blicke gingen jetzt zwischen Isma und seinen Händen hin und her. Er kämpfte offenbar einen großen Kampf. Dann hielt er das Päckchen Isma wieder hin und sagte, als wenn er ein Königreich vergäbe:

»Ich schenke es dir.«

»Warum?« fragte Isma lächelnd.

»Weil du kleine Augen hast.«

Isma wußte nicht, ob sie recht verstanden habe, und sah Ell zweifelnd an.

»Weil ich kleine Augen habe?« wiederholte sie fragend.

»Kleine Augen sind traurig, man schenkt ihnen«, sagte der Knirps.

»Ich will dir –« Isma unterbrach sich. »Ich will dir auch etwas schenken, weil du große Augen hast«, wollte sie sagen. Aber es fiel ihr ein, daß sie nichts zu verschenken habe. Der kleine Nume auf seinen Wackelbeinchen – was konnte sie ihm als Gegengabe bieten?

Ell verstand sie. Er griff in die Wagentasche, in der sich einige kleine Erfrischungen befanden, und gab Isma ein Stückchen Naschwerk.

»Das ist etwas für ihn«, sagte er.

Der Junge lachte über das ganze Gesicht, als ihm Isma den Kuchen reichte. Diese Sprache verstehen die Kinder aller Planeten. Aber er biß nicht sogleich hinein.

»Gib ihr auch«, sagte er zu Ell. »Du hast große Augen. Große Augen dürfen nicht essen, wenn kleine hungern.«

Er beruhigte sich nicht eher, bis Isma einen Kuchen in der Hand hielt. Dann rannte er spornstreichs davon.

Isma stieg ein. Der Wagen rollte weiter.

»Was meinte er mit den kleinen Augen?« fragte Isma.

»Das ist eine sprichwörtliche Redensart. ›Kleine Augen‹ nennt man unglückliche, kranke, armselige Leute. Der Junge hat die Sache wörtlich genommen.«

Man durchfuhr die Zone der Wohnhäuser, die Bäume hörten auf, der Wagen glitt unter die Säulenhallen der Industriestraße. Ell beschleunigte sein Tempo, er fuhr auf den Außenstreifen der Stufenbahn und war schnell auf der breiten Mittelstraße. In einem Gewühl von Fahrzeugen legte er hier seinen Weg zurück.

Aus der Ruhe des ländlichen Hauses, in der Isma sich zunächst einige Tage bei der liebenswürdigen Pflege ihrer Wirte hatte erholen sollen, und jetzt aus der Einsamkeit des Waldfriedens fand sich Isma plötzlich in das Gedränge des Weltverkehrs, der Weltstadt im wörtlichen Sinn, versetzt. Denn diese Palastreihen bildeten in der Tat den Zusammenhang einer Riesenstadt, die sich über den größten Teil des Planeten verbreitete, nur mit der glücklichen Anordnung, daß sie meilenweite Wälder und auch Hunderte von Meilen ausgedehnte Wüsten zwischen ihren Mauern umschloß. Wenn Isma den Blick auf die Wagen und Fußgänger richtete, die sich in ununterbrochener Kolonne in derselben Richtung mit ihr bewegten oder auf der andern Seite der Straße ihr in rascher Gangart entgegenkamen, so glaubte sie in einer ungeheuern Völkerwanderung zu stecken. Dabei war das Geräusch keineswegs betäubend, denn auf diesem Planeten wickelte sich alles verhältnismäßig leise ab. Auch die relative Geschwindigkeit der Wagen und Fußgänger gegeneinander war nicht groß. Nur wenn sie nach den kühn aufstrebenden Säulen blickte, welche die mächtigen Wölbungen trugen, nach den Treppen und Aufzügen, die an den Seiten in die oberen Stockwerke führten, nach den Plakaten und Anschlägen, die sie von hier aus nicht zu entziffern vermochte, erkannte sie, daß der Weg selbst, auf dem ihr Radschlitten hinglitt, mit der dreifachen Geschwindigkeit eines irdischen Schnellzugs sie fortriß.

Mit Erstaunen blickte sie auf ihren Nachbar zur Rechten, der den Wagen mit einer Sicherheit zwischen den übrigen hinlenkte, als wäre er seit Jahren an diese Beschäftigung gewöhnt. Allerdings hatte Ell bereits die wenigen Tage seines Aufenthalts benutzt, um sich gründlich in der Umgebung umzusehen. Er wohnte nicht weit von der Illschen Villa in einem eigenen Häuschen, hatte sich aber immer nur des Abends auf eine Stunde bei seinen Verwandten sehen lassen. Isma empfand diese Zurückhaltung nicht gerade als Zurücksetzung. Hatten sich doch beide auch in Friedau stets nur kurze Zeit gesprochen, und mußte sie sich doch sagen, daß ihn die neue Umgebung voll in Anspruch nahm. Aber nach dem gemeinsamen Erlebnis der Reise und hier, in der völligen Fremde, vermißte sie die Nähe des Freundes stündlich, des einzigen, der sie ganz zu verstehen vermochte. Gestern abend war dann der heutige Ausflug verabredet worden.

Beide hatten, seitdem sie die Stufenbahn benutzten, kaum miteinander gesprochen. Ell mußte seine Aufmerksamkeit ganz auf den Weg richten, und Isma musterte neugierig und überrascht die Gesichter und Trachten rings um sie her. Offenbar strömten hier alle Klassen der Bevölkerung durcheinander, das ärmlichste Kleid erschien neben der elegantesten Toilette, der einfache Arbeitsanzug herrschte vor. Sie bemerkte bald, daß ihre von Ma ausgewählte Toilette sich sehen lassen durfte und sie sowohl wie ihr Gefährte nur durch ihre Züge und ihre bleichere Gesichtsfarbe auffielen.

Nun wendete sich Ell wieder zu ihr. »Wir sind am Ziel«, sagte er. »jene helle Zahl dort – 608 – zeigt es an; bei 609 müssen wir die Bahn verlassen.«

Er lenkte das Gefährt nach rechts. Die Bewegung verminderte sich merklich, Isma mußte sich fest im Wagen zurücklehnen. Jetzt glitt der Wagen auf die ruhende Straße. Nach wenigen Augenblicken hielt er unter einem Riesenportal hinter einer langen Reihe ähnlicher Fahrzeuge.

Ell half Isma aus dem Wagen.

»War es Ihnen unangenehm?« fragte er, ihre Hand festhaltend. Sie erwiderte den leisen Druck seiner Finger. Sie freute sich, in seinen Augen wieder die gewohnte Sorge um sie zu lesen, die sie daheim so oft im stillen beglückt hatte.

»Zuletzt begann ich etwas schwindlig zu werden«, antwortete sie. »Ich bin ganz froh, wieder einmal ein Stück zu Fuß gehen zu können. Wo führen Sie mich denn hin?«

Er sah sie noch immer an. »Ich bin so glücklich, Sie hier zu haben!«

Sie hob die Augen bittend zu ihm auf.

»Was wollen Sie sehen?« fragte er in anderem Ton. »Wir sind hier am Museum der Künste. Eine oder die andre Abteilung wollen wir betrachten.«

»Was Sie wollen!« sagte Isma heiter. »Wir ziehen nun einmal auf Abenteuer aus.«

Ein Beamter befestigte eine Marke an Ells Wagen und reichte ihm die Gegenmarke. Dann schritten sie beide der Tür eines Aufzugs zu und ließen sich in das erste Stockwerk heben.

29. Kapitel

Das heimliche Frühstück

Isma und Ell standen vor einem prachtvollen Portal, das die Aufschrift trug: ›Museum der schönen Künste‹. Es führte auf eine kreisförmige Galerie, die eine mächtige Rotunde umschloß. Der Blick öffnete sich sowohl nach unten wie nach oben. Man glaubte unten in das Gewühl des wirklichen Lebens zu blicken, in rascher Veränderung, von den Seiten immer neu herandrängend, sah man Gestalten in ihren gewohnten Beschäftigungen, in der Arbeit des Tages, andere mit dem Ausdruck des Leidens und den Mängeln der Wirklichkeit. Aber in der Mitte emporwallende Nebel umhüllten diese Figuren und hoben sie langsam in die Höhe. Je höher sie emporstiegen, um so mehr verschwand der Nebel und löste sich nach oben in immer helleres Licht auf. Die Gestalten wechselten ihren Ausdruck, ihre Blicke wurden frei, ihre Mienen verklärt, sie waren zu Werken der Kunst, zu reinen Formen geworden. Sie schienen zu ruhen, und doch stiegen immer neue Gestalten auf, ohne daß jene Bilderwelt an der Kuppel der Wölbung zunahm oder sich überfüllte. Es wär nicht möglich zu verfolgen, wie dieser Übergang in die Höhe sich vollzog, ein lebendiges Abbild des Mysteriums in der Seele des Künstlers.

»Eine symbolische Darstellung des künstlerischen Schaffens«, sagte Ell.

»Aber wo kommen diese Gestalten her und wohin gehen sie?«

»Das Ganze beruht auf einer optischen Täuschung, und nach einigen Stunden würde man bemerken, daß dieselben Gruppen wiederkehren. Aber die Illusion ist vollständig. Nun suchen Sie sich eine dieser Überschriften aus.«

Sie umschritten die Galerie. Die äußere Seite war ringsum von schmalen Türen umgeben, deren Aufschriften die Abteilungen nannten, zu denen man durch jene gelangte. Aber jede Hauptgruppe hatte wieder eine große Zahl Unterabteilungen, die historisch geordnet waren. Da zählte zum Beispiel bei der Malerei die ältere Malerei in der archaistischen Periode, das heißt vor Erfindung der selbstleuchtenden Farben, allein 30 Abteilungen, die jede mehrere Jahrhunderte umfaßte; die agrarische Periode zählte aus der Zeit der Handarbeit 315, aus der Zeit der Dampfkraft 56, der Elektrizität 212, der Energiestrahlung 25 Abteilungen. Die neuere Malerei begann erst seit der Erfindung der künstlichen Darstellung der Nahrungsmittel. Zwischen beiden lag eine Periode des Verfalls, die man den dreitausendjährigen sozialen Krieg nannte. Es war dies eine jetzt etwa 18 000 Jahre zurückliegende Zeit, in welcher ein allgemeiner Niedergang der Marskultur stattgefunden hatte. Sie war nämlich ausgefüllt durch furchtbare Kämpfe zwischen der ackerbautreibenden und der industriellen Bevölkerung. Durch die Darstellung der Lebensmittel aus den Mineralien ohne Vermittlung der Pflanzen glaubte sich die agrarische Bevölkerung in ihrer Existenz bedroht, obwohl sie längst nicht mehr den Bedarf an Lebensmitteln hatte decken können. Die Besitzer des Grund und Bodens waren als Herren der Nahrungsmittel zu unumschränkter Macht gelangt und wollten die Verbilligung der Volksernährung durch die neuen gewaltigen Fortschritte der Wissenschaft und industriellen Technik nicht dulden. Dieser Kampf füllte fast drei Jahrtausende in wechselnden Formen aus und endete erst mit der Vernichtung der Macht der Ackerbauer und der Begründung der vereinigten Marsstaaten. Während dieser Zeit hatte die Kunst keinerlei Förderung empfangen. Sie war erst wieder aufgeblüht, als statt der nüchternen Getreidefelder die anmutigen Wälder entstanden waren und der Erwerb von Grund und Boden für den einzelnen auf ein mäßiges Maximum beschränkt war.

Isma ging ratlos an der Reihe der Überschriften entlang, die ihr Ell zu entziffern behilflich war. Sie schüttelte mutlos den Kopf.

»Das ist mir zu viel und macht mich nur verwirrt. Suchen wir zunächst etwas ganz Einfaches, das ich verstehen kann. Was ist denn hier hinter der Malerei für eine Kunst?«

»Die Tastkunst.«

»Was ist das?«

»Ich muß gestehen, ich weiß es selbst nicht recht.«

»Lassen Sie uns sehen.«

Ell öffnete die Tür. Sie führte in einen kleinen, mit zwei gepolsterten Bänken ausgestatteten Raum. Ell sah jetzt erst, daß sich in demselben ein Anschlag befand: ›Abgang alle zehn Minuten‹; eine Uhr zeigte, daß nur noch eine Minute zur Abgangszeit fehlte. Es war also nicht ein Zimmer, sondern eine Art Omnibus, worin man sich befand. Alle die Türen aus der Galerie führten in solche Coupés, die zu bestimmten Zeiten die Insassen nach den betreffenden Abteilungen des Museums beförderten. Denn die Anlagen waren zu ausgedehnt, um sie zu Fuß zu erreichen und sich bis dahin zurechtzufinden. Die Tür öffnete sich jetzt noch einmal, und zwei Damen flogen förmlich in den Raum. Gleich darauf setzte sich der Wagen in Bewegung.

Die ältere der beiden Damen schnappte nach Luft; sie war eine sehr korpulente Erscheinung und nahm wenigstens zwei Plätze des Sofas ein.

»Das war gerade die höchste Zeit!« rief sie erhitzt und atemlos, indem sie ein feines Tuch hervorzog und fortwährend zwischen ihren kurzen, dicken Fingern rieb. »Diese Wagen gehen ja nur alle zehn Minuten. Der Besuch ist so schwach! Ja, es ist nur eine Kunst für Auserwählte. Sie schwärmen auch dafür?« wandte sie sich zu Isma. »Sie sind Spitzistin? Nicht wahr?« sagte sie, indem sie einen Blick auf Ismas schlanke und zarte Finger warf. »Ich bin natürlich Rundistin, aber das tut nichts. Sie wollen gewiß auch das neue Meisterwerk tasten? Blu hat sich wieder selbst übertroffen! Das ist das hohe Lied des Widerstandes, die Sphärenmusik des Hautsinns!« Und sie kniff die Augen schwärmerisch zusammen, daß sie zwischen den Fettpolstern ihrer Augenlider verschwanden.

»Ich muß gestehen«, sagte Isma schüchtern, »ich bin noch ganz unerfahren in der Tastkunst. Ich weiß gar nicht –«

»Was? Wie? Sie wissen nicht?« Sie betrachtete Isma näher. »Sie sind wohl aus dem Norden von den Streifen, wenn ich fragen darf? Sie waren noch nie in Kla?«

»Nein, meine Heimat ist fern von hier.«

»Aber Blu sollten Sie doch kennen. Sie ist doch die größte – neidlos gestehe ich es, obwohl ich selbst Künstlerin bin. Und von allen Künsten ist wieder die Tastkunst die höchste. Auge, Ohr, Geruch, selbst Geschmack – was will das alles sagen! Der Tastsinn ist doch der intimste aller Sinne. Hier berühren wir die Dinge unmittelbar, sie bleiben uns nicht in der Ferne. Und schmecken ist ja eigentlich auch ein Tasten, nur ein unreines, gestört durch Gerüche und durch Salziges, Saueres, Bitteres, Süßes – aber die Fingerspitzen, die Handflächen, das sind die wahren Schlüssel zur Schönheit. Und hier im Tasten enthüllt sich die Kunst in ihrer höchsten Freiheit. Hier überwindet sie am reinsten die Macht des Wirklichen, das vitale Interesse. Was wir sehen, was wir hören, bleibt uns immer noch fern. Es ist keine Kunst, das ohne Verlangen zu betrachten, was wir doch nicht erreichen können. Aber die Gegenstände in den Händen halten und doch nichts von ihnen zu wollen als das reine, freie Spiel des Wohlgefallens, das ist echte Kunst. Spielt nicht ein jeder unwillkürlich mit dem, was er zwischen den Fingern hält? Dies zur Kunst zu erheben, das ist das wahrhaft Geniale! Das Rauhe, Glatte, Scharfe, Spitzige, Runde, Nachgebende, Elastische, Harte, Kratzende, Kribblige – ohne Gedanken, ohne Wünsche –, das ist das wahrhaft Ästhetische. Eine Tastsymphonie von Blu ist für mich das Höchste. Kommen Sie nur mit, ich werde sie Ihnen zeigen.«

Isma blickte zu Ell hinüber.

»Ich fürchte«, sagte er deutsch – es fiel auf dem Mars nicht auf, wenn man in Sprachen redete, die andere nicht verstanden, da die meisten Familien eigene Mundarten besaßen –, »ich fürchte, das wird für uns nichts sein. Wir sind wohl zu wenig auf diesen Kunstgenuß vorbereitet.«

Die Dicke begann eben einen neuen Redestrom, als der Wagen hielt. Sie stürzte schleunigst hinaus. Ihre Begleiterin, die stumm geblieben war, folgte ihr, und Isma und Ell taten das gleiche.

Man befand sich in einem großen Saal, in welchem man nichts erblickte als zahllose Kästen verschiedener Größe. Aufschriften gaben Verfasser und Inhalt des Tastkunstwerkes an, das sie enthielten. Vor einigen saßen Besucher in stiller Andacht und hielten die Arme bis zum Ellenbogen in zwei Öffnungen der Kästen versenkt.

Die beleibte Dame suchte nach ihrem Katalog eine bestimmte Nummer. Vor dem betreffenden Kasten angelangt, streifte sie die Ärmel auf und steckte die Arme zunächst in ein Becken. Es war nicht mit Wasser gefüllt, sondern ein Luftstrom führte ein fein verteiltes ätherisches Öl gegen die Haut und bereitete durch diese Reinigung auf den nachfolgenden Kunstgenuß vor. Alsdann brachte die Kunstjüngerin durch einen Handgriff ein Uhrwerk in Gang, setzte sich auf einen Stuhl vor dem Kasten, steckte ihre Arme in die Öffnungen und versank in Schwärmerei. Isma und Ell hatten ihr auf gut Glück an dem ersten besten Kasten, der unbesetzt war, alles nachgeahmt. Aber nach wenigen Minuten zog Isma ihre Hände zurück.

»Wollen Sie noch bleiben?« fragte sie Ell.

»Fällt mir nicht ein, wenn Sie nicht Lust haben. Ich wollte Sie nur nicht stören.«

»Ich verzichte auf den Genuß. Ich kann nichts spüren als ein abwechselndes Drücken, Ziehen, Prickeln, Reiben – für mich ist das nur eine Art Massage.«

»Mir ging es auch so. Es ist eine Kunst für Blinde. Wir müssen nicht tastkünstlerisch veranlagt sein. Wir wollen lieber nur einen kurzen Gang durch einen der andern Säle machen, und dann will ich Sie in das technische Museum führen.«

Ohne von der Tast-Enthusiastin bemerkt zu werden, gingen die untastlichen Erdgeborenen nach dem Coupé zurück, das sie bald wieder in der Rotunde absetzte. Ein anderer Wagen, dicht von Besuchern erfüllt, trug sie in eine der Abteilungen für Skulptur. Hier fand sich Isma leichter zurecht. Es war eine Kunst für menschliche Sinne, eine Fülle großer Gedanken in wunderbarer Ausführung, aber doch im Grunde dieselbe unsterbliche Schönheit aller Vernunftwesen, wie sie auf der Erde auch schon vor Jahrtausenden ihre Meister fand. Das Neue und Überraschende lag nur in der Verfeinerung der Technik, in der Zartheit des Materials, in der spielenden Überwindung der Schwere, wodurch sich ungeahnte Effekte darboten. Nicht minder bewundernswert erschien die Architektur dieser Hallen, Wölbungen, Galerien. Oft sprangen die einzelnen Gemächer aus einem breiten Grundpfeiler in der Form von Blumenkelchen vor, die auf schlanken Stielen sich zu wiegen schienen. Diese Stiele enthielten die Treppen verborgen, auf denen man in die Gemächer gelangte. Isma erhielt den Eindruck, daß das Eigentümliche der martischen Kunst, das sie von der menschlichen unterschied, nicht in einer neuen Auffassungsform des Schönen lag; hier wirkten offenbar zeitlose Gesetze als bestimmende Ideen für die freie Gestaltung des Schönen bei allen bewußten Wesen. Der Fortschritt hing vielmehr ab von dem überlegenen Standpunkt der Technik, wodurch sich das Gebiet für die Anwendung des Ästhetischen ins Unermeßliche erweiterte. Nur die Intelligenz ist es, welche der ewigen Idee entgegenwächst. Ell bestätigte diese Bemerkung und stimmte Isma bei, nun zunächst ein oder das andre der technischen Wunderwerke aufzusuchen.

»Ich fürchte nur, ich werde nichts davon verstehen«, sagte Isma.

Sie waren inzwischen wieder in der Eingangsrotunde angelangt und hatten sich nach dem Ausgang hinabsenken lassen, wo ihr Schlitten bereitstand.

»Was soll ich jetzt sehen?«

»Frau Ma hat mir auf die Seele gebunden, Sie nach dem Retrospektiv zu führen. Das ist wohl die neueste und großartigste Entdeckung.«

»Ich habe davon gehört und auch zu lesen versucht, aber Sie müssen mir die Sache noch einmal erklären. Ist es weit bis dorthin?«

»Mit der Stufenbahn wenige Minuten. Aber wir können auch in einer halben Stunde quer durch den Wald fahren, und das will ich eben tun.«

Er lenkte den Radschlitten über eine der Brücken, welche, die Bahnen und Kanäle überschreitend, in die Waldregion führten. Rasch glitt das Gefährt unter den Schatten der Bäume in die Zone der Wohnungen. Isma atmete auf.

»Wie schön, daß wir bald wieder in die Waldeinsamkeit kommen!« sagte sie. »Da denke ich, wir sind daheim unter unsern Tannen, und Sie erzählen mir wieder von den Märchen des Mars –«

»Und dabei packen wir unsre Butterbrote aus und frühstücken.«

»Ach, Ell, ich wünschte, das ginge hier! Mir armem Menschenkind ist es schrecklich langweilig, immer so allein bei verschlossenen Türen essen zu müssen.«

»Hier an der Straße und zwischen den Wohnungen geht es natürlich nicht. Sehen Sie, da ist die großartige Restauration, aber wenn wir zu speisen verlangten, würde man uns sofort jedem ein Extrakabinett anweisen, anders ist es unmöglich. Doch ich habe daran gedacht. Ich habe aus meinem Reisevorrat ein richtiges Erdenfrühstück eingesteckt; zwar das Brot ist trotz des luftdichten Verschlusses etwas altbacken, aber denken Sie, Friedauer Wurst und wirklichen Rheinwein! Wir suchen uns ein Plätzchen, wo uns niemand sehen kann. Ich freue mich wie ein Kind! Jedoch die gute Tante darf um Himmels willen nichts erfahren! Das wäre schlimmer, als wenn ich Ihnen auf dem Marktplatz von Friedau um den Hals fallen wollte!«

»Stille von Friedau! Aber das Frühstück nehme ich an. Wir wollen dem Nu ein Schnippchen schlagen.«

Ihre Augen glänzten schelmisch, indem sie zurückblickte, als fürchtete sie, gehört zu werden.

»Eigentlich darf ich's ja nicht als Nume. Ich bin da in meine Menschlichkeit zurückgefallen –«

Isma richtete die Augen auf Ell. Er sprach im Scherz, aber sie hörte an der Art, wie er den Satz abbrach, daß ein ernstes Bedenken in ihm aufzutauchen begann.

Ell sah, wie das glückliche Lächeln aus ihren Zügen zu verschwinden drohte, und er griff schnell nach ihrer Hand.

»Nein, nein«, rief er, »geliebte Freundin, für Sie will ich nichts sein als der Mensch, der glücklich ist, wenn er Ihnen dienen kann. Aber ganz leicht ist es nicht. Denn sehen Sie – ein Nume soll ich nicht sein, damit Sie mich nicht verändert finden; und von der Erde soll ich nicht reden, damit Sie nicht traurig werden –«

»Sie haben recht, mein treuer Freund – ich weiß ja selbst nicht, was ich will – ich verdiene gar nicht, daß Sie so gut sind –«

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Seine Rechte lenkte den Radschlitten mühelos auf der glatten Bahn. Die letzten Wohnungen verschwanden. Dichtes Buschwerk bildete auf dem freien Rasen des Bodens ein Labyrinth von Plätzen und Gängen. Ein leichter, erfrischender Luftzug strömte über den Boden, denn die Lichtungen und die Industriestraßen, auf denen die Sonne brannte, wirkten um die Mittagszeit wie Schornsteine, welche die Umgebung ventilierten und die erwärmte Luft in die Höhe führten. Die Straße war einsam. Die Blumen musizierten leise, und kleine eichkätzchenartige Tiere spielten an den Stämmen der Bäume.

Ell löste mit einem Druck des Fußes den Mechanismus aus, der die Kugelkufen emporhob und den Wagen auf zwei hochachsigen Rädern laufen ließ, so daß er sich auch auf unebenem Weg ohne Schwierigkeit bewegen konnte. Er verließ die Fahrstraße und fuhr auf dem Waldrasen zwischen Buschwerk und Bäumen dahin. Ein kleiner Weiher kam in Sicht, von einem klaren Bächlein genährt. Am Rande desselben hielt Ell den Wagen an; es war ein reizendes, stilles Ruheplätzchen. Kein Liebespaar konnte sich besser verstecken.

»Hier können wir es wagen«, sagte Ell.

Sie wollten nur frühstücken.

Isma sprang aus dem Schlitten. Ell reichte ihr die Tasche mit dem heimlichen Vorrat. Beide sahen sich vorsichtig um und lachten dann über ihre Furcht. Sie packten ihre Schätze aus und vergaßen in heiterem Geplauder, daß über den Baumzweigen zu ihren Häuptern nicht der blaue Himmel der Erde, sondern das Blätterdach des martischen Riesenwaldes sich wölbte.

»Kann man durch das Retrospektiv alles Vergangene sehen?« fragte Isma.

»Nein«, erwiderte Ell, »nur dasjenige, was unter freiem Himmel und bei genügender Beleuchtung vorgegangen ist. Der Erfolg beruht ja darauf, daß wir das Licht, welches damals von den Gegenständen ausgestrahlt wurde, auf seinem Lauf durch den Weltraum wieder einholen, sammeln und zurückbringen.«

»Und wie ist das möglich?«

»Ich habe Ihnen schon früher gesagt – was mir freilich die andern Menschen noch nicht glauben wollen –, daß die Gravitationswellen sich eine Million Mal so schnell fortpflanzen als das Licht. Sie können also das Licht auf seinem Weg einholen. Wenn zum Beispiel vor einem Erdenjahr irgend etwas unter freiem Himmel geschehen ist, so hat sich das von diesem Ereignis ausgesandte Licht jetzt bereits gegen zehn Billionen Kilometer weit in den Raum verbreitet. Die Gravitation aber durchläuft diesen Weg in einer halben Minute, trifft also nach einer genau zu berechnenden Zeit mit den damals ausgesandten Lichtwellen zusammen. Nun haben die Gelehrten der Martier ein Verfahren entdeckt, wodurch man bewirken kann, daß die den Lichtwellen nachgeschickten Gravitationswellen jene selbst in Gravitationswellen von entgegengesetzter Richtung verwandeln und somit zu uns zurückwerfen; sie laufen also in der nächsten halben Minute in der Form von Gravitationswellen den Weg zurück, den sie als Licht im Laufe eines Jahres durcheilt haben. Hier werden sie im Retrospektiv – und das ist die Großartigkeit dieser Erfindung – in Licht zurückverwandelt und durch ein Relais verstärkt, so daß man auf dem Projektionsapparat genau das Ereignis sich abspielen sieht, wie es sich vor einem Jahr vollzogen hat. Man kann den Versuch natürlich auf jeden beliebigen Zeitraum ausdehnen, aber die Bilder werden immer schwächer, je größer die vergangene Zeit ist, weil das Licht inzwischen im Weltraum zuviel Störungen erfahren hat. Es erfordert nun eine sorgfältige Berechnung, wann und wo ein Ereignis stattgefunden hat, das man zu sehen wünscht. Man kann daher das Retrospektiv – wenigstens vorläufig – nicht nach Belieben und schnell wie ein Fernrohr einstellen, sondern es gehört dazu ein umfangreicher Apparat, ein ganzes Laboratorium.«

»Wir können also nicht zu sehen bekommen, was wir wollen?«

»Nein, wir müssen uns mit dem begnügen, worauf der Apparat gegenwärtig eingestellt ist. Aber wenn es für einen bestimmten Zweck gerade notwendig ist, zum Beispiel um eine wichtige Rechtsfrage oder dergleichen zu entscheiden, so wird für diesen Zweck eine Berechnung und Einstellung vorgenommen.«

»Kann man damit auch sehen, was zum Beispiel zu einer bestimmten Zeit auf der Erde vorgegangen ist?«

»Ich zweifle nicht, daß sich das ermöglichen läßt.«

»Und was kostet so eine Beobachtung, wenn man sie für einen besonderen Zweck machen lassen will?«

»Dazu ist überhaupt die Erlaubnis der Staatsbehörde erforderlich. Es gibt nämlich, soviel ich weiß, bis jetzt kein Privat-Retrospektiv.«

Isma schwieg nachdenklich. Dann sagte sie: »Nun weiß ich ja, was es mit dem Retrospektiv auf sich hat, und gefrühstückt haben wir auch, so daß wir eigentlich aufbrechen könnten. Aber es ist so schön hier, und ich bin gar nicht sehr neugierig, den Apparat zu sehen, denn was man wirklich dabei beobachtet, kann ja nicht viel sein, wenn man an dem vergangenen Ereignis kein Interesse hat.«

»Das ist schon wahr, indessen Ma würde –«

»Ich will es mir ja auch auf jeden Fall ansehen. Aber wir können wohl noch hier ein wenig ruhen.«

Sie legte ihr Listuch unter den Kopf und streckte sich behaglich hin. »Wenn ich noch einen Schluck Wasser bekommen könnte!« sagte sie.

Ell nahm den mitgebrachten Becher und füllte ihn am Quell. Isma trank und gab das Glas dankend halb geleert zurück. Eben setzte es Ell an seine Lippen, um den Rest selbst zu trinken, als sich in der Ferne ein dumpfes Brausen erhob. Isma richtete sich erschrocken auf.

»Was ist das?« fragte sie. »Kommt jemand?«

Ell hatte das Glas ohne zu trinken abgesetzt. Er lauschte. Das Brausen nahm zu. Er zog seine Uhr.

»Es ist nichts«, sagte er, »es ist das Mittagszeichen.« Er verglich sorgfältig die Uhr. Das Brausen mochte eine Minute gedauert haben, dann brach es mit einem hellen Schlag plötzlich ab.

»Der Anfangspunkt der Planetenzeitrechnung wird so markiert. Hier bei uns, nicht weit von der Zentralwarte, fällt er nur kurze Zeit nach dem wahren Mittag. Aber ich glaube, wir müssen doch aufbrechen.«

Er hatte nicht getrunken, sondern das Wasser unbemerkt, wie er glaubte, auf die Erde fließen lassen, und bückte sich jetzt, um alle Spuren des gemeinsamen Frühstücks zu beseitigen.

Isma stand schweigend auf und begab sich in den Wagen. »Wir sind auf dem Mars«, seufzte sie leise. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen.

Bald darauf kam Ell. Er betrachtete sie mit einem innigen Blick. Der Mittagston hatte ihn wieder auf den Mars zurückgeführt. Ein tiefes Mitleid mit dem Geschick der Freundin überkam ihn, und die ganze Fülle seiner Liebe fühlte er in sich aufsteigen. Er hätte sich zu ihr herabbeugen und ihre Lippen mit Küssen bedecken mögen. Und doch war etwas Trennendes zwischen sie getreten, dessen er sich nicht zu erwehren wußte. Er küßte die schmale Hand, die auf der Seitenlehne des Wagens ruhte.

Isma öffnete die Augen und schüttelte leicht den Kopf.

»Sie sind müde, Isma«, sagte Ell. »Hier, nehmen Sie von diesen Pillen, und Sie werden sich erquickt fühlen wie nach einem festen Schlaf.«

»Nein, nein, solche Nervenreize mag ich nicht, das ist eine falsche Erquickung.«

»Diese nicht. Es ist kein anregendes Nervengift, das den Körper zur Abgabe seiner letzten Energiereserve veranlaßt wie unsre irdischen Reizmittel. Es führt dem Blut und damit dem Gehirn wirklich die verbrauchte Energie wieder zu, und zwar genau in der Form, wie es durch den Schlaf geschieht. Die Pillen sind ganz unschädlich. In einer halben Stunde sind Sie wieder frisch wie am Morgen. Sie sind noch zu wenig an unsere Luft gewöhnt, Sie brauchen eine Hilfe in diesem Klima.«

Isma nahm die Pillen. Ell schwang sich an ihre Seite, und der Wagen rollte nach der Straße zu. Der übrige Teil des Waldes und die Wohnungsräume wurden durchschnitten und die Industriestraße im Quartier Tru erreicht. Ell hemmte den Wagen vor einem Tor, das er für den Zugang zum Retrospektiv hielt. Er hatte sich jedoch in der Richtung getäuscht, in der er durch den Wald gefahren war, und bemerkte jetzt erst, daß er sich vor dem Erdmuseum befand.

»Corsan ba«, las Isma die Rieseninschrift, »das heißt ja doch wohl ›Sammlungen von der Erde‹?«

»Ja«, antwortete Ell, »ich habe mich geirrt. Wir müssen nach der anderen Seite – die Stufenbahn bringt uns in einer Minute hin.«

»Ich hätte eigentlich Lust –«, sagte Isma zögernd, »könnten wir nicht hier einmal uns umsehen?«

»Gewiß, aber Sie wollten ja heute nichts von der Erde wissen.«

»Es ist schon wahr – aber ich bin neugierig, was ihr hier von dem wilden Planeten gesammelt habt. Und man wird die alte Erde doch nicht los.« Sie seufzte. Unentschieden sah sie abwechselnd auf die Menge, die in den Eingang strömte, und dann auf Ell.

»Es ist heute besonders stark besucht«, sagte dieser, »alles redet jetzt von den Menschen. Wenn man uns nur nicht erkennt – wir tun vielleicht besser, eine andere Zeit zum Besuch zu wählen.«

»Sie sehen, man achtet gar nicht auf uns.«

»Weil diese Leute erst hineingehen. Wenn wir am Ausgang ständen, wäre es vielleicht anders, unsere Gesichter würden auffallen.«

»Ach was«, rief Isma lebhaft. »Nun will ich gerade hinein. Ich habe meinen dunklen Schneeschleier eingesteckt, durch den man nicht hindurchsehen kann. Wir sind nun einmal hier – kommen Sie, Ell!«

Ell lächelte. »Das kommt von den Energiepillen«, sagte er. »Jetzt haben Sie wieder Mut. Nun, man wird uns nichts tun, aber wenn man Ihnen wieder Spielzeugtüten zuwirft, wie an der Polstation, so halten Sie sie nicht für Blumensträuße.«

Isma schlug ihn mit ihrem Schirmröhrchen auf die Hand. »Zur Strafe kommen Sie mit«, sagte sie, »damit Sie meine Trophäen tragen können. Und nun gehe ich auch ohne Schleier trotz der kleinen Augen.«

Sie traten in das Gebäude.

30. Kapitel

Das Erdmuseum

Die einströmende Menge verteilte sich in den weiten Räumlichkeiten des Erdmuseums, so daß Isma und Ell zwar nirgends allein, aber doch nicht gerade beengt waren. Isma wollte gern sehen, was an der Erde die Aufmerksamkeit der Martier besonders fessele, und wandte sich daher solchen Gängen und Sälen zu, in denen sich die Hauptmasse der Besucher zusammendrängte; Ell folgte ihr und musterte wie sie nicht weniger die Beschauer als die Gegenstände. Ein riesiger Saal enthielt in historischer Darstellung eine vollständige Entwicklung der Raumschiffahrt. Ell hätte sich gern hier näher in die Einzelheiten vertieft, aber Isma interessierte sich wenig dafür und drängte weiter. Ein Wandelpanorama, das eine Reise nach der Erde darstellte, ließen sie beiseite liegen und hielten sich nur kurze Zeit bei der Darstellung des Luftexports von der Erde auf. Die Maschinen, die den Menschen auf der Polinsel nicht zugänglich gemacht worden waren, arbeiteten hier vor ihren Augen in gefälligen Modellen. Sie sahen, wie die Luft in starke Ballons gepumpt und im leeren Raum zum Erstarren gebracht wurde. Die gefrorenen Luftmassen hatten das Aussehen von bläulichen Eiskugeln und die Dichtigkeit des Stahls.

Sehr dürftig war die Sammlung der pflanzlichen und tierischen Produkte der Erde, da sie nur aus den polaren Regionen stammte. Was der ›Glo‹ mitgebracht hatte, war noch nicht dem Museum übergeben worden. Dagegen hatte man schon die Nachrichten, Gegenstände und Abbildungen verwertet, die Jo im ›Meteor‹ von der Tormschen Expedition mitgebracht hatte. Hier drängten sich die Zuschauer dicht zusammen, und Isma und Ell waren gezwungen, ihrem langsamen Zug zu folgen. Es berührte sie ganz seltsam, als sie hier Grunthe und Saltner in verschiedenen lebensgroßen Aufnahmen vor sich sahen und auf dem Tisch eine Reihe von Ausrüstungsstücken, Kleidern und Kleinigkeiten ausgebreitet bemerkten, die Grunthe den Martiern überlassen hatte. Isma mußte an sich halten, um sich nicht einzumischen, als sie die Bemerkungen der Martier und die Scherze vernahm, die sie über die Menschen und ihre Industrie machten.

Plötzlich faßte sie Ells Arm und drückte ihn, daß es schmerzte.

»Was gibt es?« fragte er.

»O sehen Sie!«

Eine Gruppe von Herren und Damen musterten eine Photographie.

»Eine weibliche Bat!« sagten sie. »Sie ist hübsch«, meinten die einen.

»Viel zu mager«, die andern.

Es war Ismas Bild. Die Photographie hatte sich unter Torms Effekten gefunden und war mit andern Kleinigkeiten hierhergekommen.

Die neben Isma stehende Dame, die sie eben zu mager gefunden hatte, warf zufällig einen Blick auf ihr Gesicht. Sie stutzte und stieß ihre Nachbarin an. Ell sah, daß man auf seine Begleiterin aufmerksam wurde. Die Umstehenden wurden still.

»Kommen Sie«, sagte er hastig zu Isma. »Man erkennt Sie.«

Er zog sie fort, beide drängten sich durch das Gewühl. Sie wandten sich nach einer Stelle, wo das Gedränge geringer war, und glaubten plötzlich auf dem Dach der Polinsel zu stehen. Das Panorama des Nordpols breitete sich in naturgetreuer Nachahmung vor ihnen aus. Dicht zu ihren Füßen schien das Meer zu branden. Das Jagdboot der Martier lag zur Abfahrt bereit – zwei Eskimos lösten das Seil, das es am Ufer hielt. Im Boot saßen Martier mit ihren Kugelhelmen. Und dort – auf der andern Seite –, da standen Grunthe und Saltner, wie sie leibten und lebten. Grunthe, mit zusammengezogenen Lippen, schrieb eifrig in sein Notizbuch, Saltner sah lächelnd einer verhüllten Gestalt nach, die auf zwei Krücken dahinschlich und die Wirkung der Erdschwere auf die Martier veranschaulichen sollte.

»Da sind unsre Freunde!« rief Ell, wirklich überrascht. Es waren meisterhaft nachgebildete Figuren.

Isma stand lange still. Die Plattform begann sich mit andern Besuchern zu füllen. »Wir wollen lieber gehen«, sagte sie. »Hier unten scheint es leer zu sein, vielleicht kommen wir dort an den Ausgang.«

Gegenüber dem Haupteingang führte von dem nachgeahmten Teil des Inseldaches eine schmale Treppe abwärts. Ell blickte hinunter. »Es scheint niemand da zu sein«, sagte er.

Sie stiegen hinab und befanden sich in einem Gemach, das einem der Gastzimmer auf der Insel nachgebildet war. Keiner von ihnen hatte beachtet, daß über der Tür die Inschrift ›Vorsicht‹ stand und vor derselben eine Anzahl Stöcke zum Gebrauch aufgestellt waren.

»Oh, hier ist es angenehm«, rief Isma, indem sie sich auf einen der an der Wand stehenden Lehnstühle setzte. »Hier wollen wir uns ein wenig ausruhen.« Sie bemerkte, daß irgendeine Veränderung mit ihr vorging, die ihr wohltat, wußte jedoch nicht, was der Grund sei.

Ell wollte seinen Sessel in ihre Nähe heben, mußte aber dazu eine ungewohnte Kraft aufwenden. »Sind diese Sessel schwer!« sagte er. Im selben Augenblick fiel ihm die Ursache ein.

»Hier herrscht ja Erdschwere«, rief er überrascht. »Das ist also auch eine Demonstration, und darum ist es so leer hier.«

»Das ist herrlich!« sagte Isma vergnügt.

Ein Martier trat in die Tür, knickte zusammen und zog sich sogleich zurück. Isma lachte laut. Sie sprang auf, drehte sich vor Vergnügen im Kreis und rief:

»Kommt nur herein, meine Herren Nume, hier ist die Erde, hier zeigt, ob ihr tanzen könnt!« Sie schlüpfte hierhin und dahin, rückte an den Stühlen und nahm ihren Hut ab. »Ich bin wie zu Hause!« sagte sie. »Jetzt sieht man erst, daß die angebliche Leichtigkeit dieser Federhaube eigentlich Schwindel ist. Sehen Sie nur, wie eilig sie es hat, hinabzufallen!«

Ell sah ihr schweigend zu. Er schüttelte leicht den Kopf. »Ein Kind der Erde«, dachte er bei sich. »Sie würde hier oben niemals heimisch werden.«

Isma war vor eine Tür getreten. »Ob es dahinten auch noch schwer ist?« fragte sie.

Ell zog den Vorhang zurück. Es zeigte sich ein Balkon, von dem aus man ins Freie unter die Wipfel der Bäume blickte. Die Gestalt eines Mannes lehnte am Geländer. Er drehte der Tür den Rücken zu und sah, mit der Hand die Augen schützend, auf die Straße hinab.

Ell und Isma blickten sich an. Dann lachte Isma auf.

»Da haben sie ja den Saltner noch einmal hingestellt«, rief sie. »Und wie natürlich! Man möchte meinen, er müßte sich umdrehen und ›Grüß Gott‹ sagen.«

Die Gestalt schnellte herum.

»Grüß Gott!« rief Saltners Stimme. Er sprang auf Ell und Isma zu und schüttelte ihnen die Hände.

»Das ist gescheit«, rief er, »daß man schon einmal Menschen trifft. Das ist eine Freud! Aber um alles in der Weit, wie kommen denn Sie alleweil hierher? Ich bin ja gerad auf dem Weg zu Ihnen. Haben's denn meine Depesche nicht erhalten?«

»Wir sind seit heute früh von Hause fort.«

»Ja, da wird sie halt dort liegen. Schauens, ich hab Ihnen heut früh telegraphiert, als wir von Frus Wohnort weggereist sind, um Sie zu besuchen. Unterwegs wollten sie mir den Kram hier zeigen, aber wie ich hier in das schöne schwere Zimmer gekommen bin, hab ich gesagt, nun lassens mich aus, jetzt bleib ich hier, bis Sie sich alles angeschaut haben, und dann holens mich wieder ab. Denn das hatt' ich satt, daß mir die Herren Nume alle nachschauten und die Kinder mir nachliefen und meine gute Joppe anfaßten.«

»Aber wie konnten Sie auch in Ihrem Reisekostüm von der Erde sich hier sehen lassen?«

»Wissen Sie, ich bin halt ein Mensch, und so bleib ich einer. Ich werd mich doch nicht in eine neue Haut stecken, wo ich nicht einmal eine richtige Westentasch' für meinen Zahnstocher hab? Und so gut wie Ihnen, Gnädige, würd mir's Marsröckel auch nicht stehn.«

Isma schüttelte ihm nochmals die Hand. »Sie sind der alte geblieben, Herr Saltner! Nun setzen Sie sich mit her, und lassen Sie sich erst einmal ordentlich von mir ausfragen!«

Saltner schilderte in seiner anschaulichen und drastischen Weise auf Ismas Fragen die Einzelheiten der Expedition, über die Grunthe nur in seiner knappen Formulierung berichtet hatte, und ließ sich von Isma die Ereignisse aus Deutschland und ihre eigenen Erlebnisse seit der Ankunft Grunthes in Friedau erzählen. Über die Reise Ills nach dem Pol, den Kampf der Schiffe und die Fahrt nach dem Mars hatte er bis jetzt nur die Darstellungen kennengelernt, welche die kurzen Depeschen gaben, und die Gerüchte und Betrachtungen, welche die Zeitungen daran knüpften. Letztere gründeten sich auf die mündlichen Mitteilungen der von der Erde zurückgekehrten Martier. Der offizielle Bericht sollte erst erscheinen, nachdem er vom Zentralrat dem Hause der Deputierten vorgelegt worden. Dies mußte inzwischen geschehen sein, denn heute sollte die betreffende Sitzung stattfinden. Es war zu vermuten, daß die Beratungen darüber sich noch einige Tage hinziehen würden. Dann erst, nach Anhörung der Deputiertenversammlung, konnte der Zentralrat einen definitiven Beschluß fassen über die der Erde gegenüber zu treffenden Maßnahmen. Da hierbei alle auf der Erde tätig gewesenen höheren Beamten als Sachverständige eventuell gebraucht wurden, mußte Fru seinen Urlaub, auf den er sonst nach der Rückkehr von der Erde Anspruch hatte, unterbrechen, um sich in Kla aufzuhalten. Saltner, der als Gast der Marsstaaten selbst die Rechte eines Numen erhalten hatte, war auf seinen eigenen Wunsch unter die spezielle Fürsorge Frus gestellt worden und wollte nun auch in Kla in seiner Obhut bleiben. Der weiten Entfernung wegen, welche den gewöhnlichen Wohnort Frus von Kla trennte, mußte der Transport der Wohnungen schon am Tag beginnen, und Fru war mit Frau und Tochter und seinem Gast Saltner vorangereist. Sie wollten sich das Erdmuseum ansehen, und hier hatte Saltner seine Freunde von der Erde getroffen.

Ill, von den Verhandlungen im Zentralrat völlig in Anspruch genommen, hatte sich zu Hause über die zu erwartenden Maßnahmen nicht geäußert und auch aus Schonung für Isma von den letzten Ereignissen nicht gesprochen. Ell war ganz in der Begeisterung für die wiedergefundene Heimat des Vaters aufgegangen. So erfuhr er sowohl wie Isma zuerst von Saltner, daß, wenigstens in den südlichen Teilen des Mars, aus denen Saltner kam und wo auch die Mehrzahl der auf der Erde gewesenen Martier herstammte, die anfängliche Begeisterung für die Erdbewohner sich stark abzukühlen begonnen hatte. Der Umschwung war durch das Verhalten der Engländer gegen das Luftschiff herbeigeführt worden, und sobald die Zeitungen Berichte über die Behandlung gebracht hatten, die den beiden gefangenen Martiern zuteil geworden war, begann in einigen Staaten, deren Bewohner sich durch lebhaftes Temperament auszeichneten, eine gereizte Stimmung Platz zu greifen. Man verlangte ein entschiedenes Vorgehen gegen das Barbarentum der Erdbewohner, und nur der Hinweis der ruhigeren Elemente darauf, daß man keinerlei Urteile abzugeben berechtigt sei, bevor nicht der amtliche Bericht vorliege, hielt die menschenfeindliche Bewegung in mäßigen Grenzen. Fru besorgte jedoch, wie Saltner mitteilte, daß die öffentliche Meinung nach dem Bekanntwerden des Berichts stark genug sein würde, um auf die Entschließungen des Zentralrats einen dem guten Verhältnis zur Erde ungünstigen Einfluß auszuüben.

Isma fühlte sich beängstigt. Sie fürchtete, wenn es zu Feindseligkeiten der Martier gegen die Erde käme, daß sich ihrer Rückkehr Schwierigkeiten in den Weg legen könnten, daß vielleicht die erneute Aufsuchung Torms im Frühjahr durch Maßregeln vereitelt werden würde, die den Martiern wichtiger erschienen. Ell suchte sie zu beruhigen. Er sah die Sachlage in viel günstigerem Licht. Ill werde seinen Bericht jedenfalls so mild wie möglich gestalten. Aus der ungerechtfertigten Handlungsweise eines einzelnen Kapitäns könne man unmöglich ein Zerwürfnis zwischen den Planeten herleiten. Momentane Stimmungen des Publikums hätten auf dem Mars niemals einen dauernden politischen Einfluß, da ein jeder der Belehrung des Besseren zugänglich sei.

»Aber wer weiß«, sagte Isma, »wie man auf der Erde denken mag!«

»Wir hätten uns nicht der Gefahr aussetzen sollen, sie verlassen zu müssen«, sagte Ell etwas verstimmt.

Isma wandte sich schmerzlich berührt ab, und Ell fuhr sogleich fort:

»Aber an dem feindlichen Zusammenstoß der Schiffe hätten wir ja doch nichts geändert, auch wenn wir zu Hause geblieben wären. Ich wollte Ihnen keinen Vorwurf machen, Frau Torm, ich meine nur, wir dürfen uns jetzt keinen trübsinnigen Grübeleien hingeben. Da wir nun einmal hier sind –«

»Da lassen wir ruhig die Nume weitersorgen, das will ich auch meinen«, sagte Saltner. »Es sind wirklich ganz prächtige Leute dabei, und wir Menschen müssen halt ein bissel zusammenhalten. Hier unser Doktor Ell, der wird sich ja wohl auch noch zu uns rechnen. Oder –«

»Wo bleiben Sie, Sal?« fragte eine tiefe Frauenstimme zur Tür herein. »Kommen Sie gefälligst heraus, wir haben auf der Erde Schwere genug genossen. Es ist übrigens irgend etwas Besonderes zu sehen, wo wir hingehen müssen.«

»Das ist La«, rief Saltner, eilig aufspringend. »Oh, kommen Sie mit, ich mache Sie gleich alle bekannt.« Und sich zu den Angekommenen wendend, rief er: »Da bringe ich Ihnen neue Menschen! Nun bin ich doch nicht mehr das einzige Wundertier.«

Fru und die Seinigen begrüßten Ell und Isma sehr freundlich. Isma fühlte sich trotzdem etwas verlegen; bei aller taktvollen Zurückhaltung der Martier wußte sie doch, daß sie von ihnen, die zum ersten Mal ein weibliches Wesen von der Erde sahen, einer lebhaften Prüfung unterworfen wurde. Aber Las Herzlichkeit half ihr sogleich über diesen Zustand fort. Sie gab Isma nach Menschenart die Hand und redete sie deutsch an.

»Ich weiß«, sagte sie, »welch bedauerliche Zufälle Sie zu uns führten, uns aber müssen wir es zum Glück anrechnen, eine Schwester von der Erde in Ihnen begrüßen zu dürfen. Unser Freund Saltner hat schon viel von Ihnen erzählt. Und Sie sind es ja gewesen, der die Martier die erste Gabe europäischer Arbeit verdanken – den Flaschenkorb nämlich, den Grunthe den unsrigen beinahe auf den Kopf geworfen hat. Ohne den Flaschenkorb hätten wir –«, sie wandte sich zu Ell, »Ihren prächtigen Leitfaden nicht gefunden, und ich könnte wahrscheinlich jetzt nicht in Ihrer Sprache mit Ihnen reden.«

Sie zog dabei die Reproduktion des Büchleins aus ihrem Reisetäschchen und zeigte sie Ell, mit dem sie jetzt martisch weitersprach.

Sie fragte ihn, welchen Eindruck das Denkmal auf ihn gemacht habe, das die Marsstaaten seinem Vater in der Ruhmesgalerie der Raumschiffer errichtet hatten. Aber dorthin war Ell noch gar nicht gekommen. Er wollte sogleich diesen Besuch nachholen, die andern aber wünschten einer soeben neu eröffneten Schaustellung beizuwohnen, nach der dichte Scharen von Besuchern hinströmten. Die Richtungsweiser, denen sie folgten, besagten nur ›Neues von der Erde‹, ohne nähere Angabe. Auch Isma war daher sehr gespannt, dieses Neue kennenzulernen, Ell ließ sich jedoch von seinem Vorhaben nicht abhalten. Er trennte sich am Eingang der Galerie von den übrigen, und man verabredete nur, sich in einer halben Stunde in der Lesehalle des Museums zu treffen.

Die Besucher drängten nach dem Theater des Museums, worin von Zeit zu Zeit Vorträge über die Erde oder die Raumschiffahrt gehalten wurden. Diese wurden durch bewegliche Lichtbilder illustriert, die mit aller Kraft martischer Malerei und Technik so plastisch wirkten, daß sie vollkommen den Eindruck der Wirklichkeit hervorriefen. Als Frus mit ihrer Begleitung ankamen, war das Theater, obwohl es Raum für zwanzigtausend Personen bot, schon überfüllt. Da jedoch Fru bei der Einrichtung des Erdmuseums tätigen Anteil genommen hatte, wußte er seine Gesellschaft einen von den weniger ortsbekannten Besuchern meist übersehenen Gang zu führen, der auf eine Reihe noch freier Plätze auslief. Sie befanden sich in ziemlich versteckter Lage zwischen den architektonischen Verzierungen über einem der Eingänge. Sehr bald ertönte ein Signal, das den Beginn der Vorstellung bezeichnete, und die Riesenhalle verdunkelte sich. Auf der Bühne, das heißt auf einer Kreisfläche von etwa dreißig Metern Durchmesser zeigte sich eine vorzüglich dargestellte Gegend aus dem Polargebiet der Erde, ein Teil des Kennedy-Kanals, mit felsigen Ufern und Gletscherabstürzen, wie er aus der Vogelperspektive des Luftboots in einigen hundert Meter Höhe erschien. Die Polardämmerung lag über der Landschaft, die von einem strahlenden Nordlicht erhellt wurde. Nun erfolgten die Lichteffekte des Sonnenaufgangs, und es erschien das kleine Luftboot der Martier. Im Vordergrund erkannte man den Cairn, an welchem die Engländer bauten, man sah, wie sie denselben verließen, in den Abgrund stürzten, von den Martiern herausgeholt und am Fuße des Steinmannes niedergelegt wurden. Die ganze Szene, von den Zuschauern mit lebhaftem Beifall begleitet, wurde durch die künstlich verstärkte Stimme eines gewandten Redners erklärt.

Es erschienen nun, vom Standpunkt der am Cairn befindlichen Martier aus nicht sichtbar, die englischen Seesoldaten; fratzenhafte Gestalten, wahre Teufel, in unmöglicher Kleidung, führten sie, ihre Gewehre schwingend, einen wilden Kriegstanz auf, der durchaus der Phantasie des martischen Wirklichkeitsdichters entstammte. Isma und Saltner war es peinlich, den Eindruck zu beobachten, den diese Szene auf das Publikum ausübte. Es nahm sie in vollem Glauben auf und wollte sich über die abenteuerlichen Wilden totlachen.

Saltner schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Freund der Englishmen«, sagte er, »aber so sehen sie doch nicht aus, und so benehmen sie sich auch nicht. Man bringt ja den Martiern ganz falsche Begriffe von den Menschen bei.«

»Unseren gefangenen Landsleuten, denen so übel mitgespielt wurde, sind sie jedenfalls so erschienen«, sagte La. »Sie haben ihre Schilderungen offenbar unter dem Eindruck der erlittenen Mißhandlungen gemacht.«

»Ich bedauere trotzdem«, bemerkte Fru unwillig, »daß man hier diese Aufführung veranstaltet, es ist unsrer nicht würdig. Aber seit jenem Zwischenfall ist leider von einem Teil der Presse die Ansicht verbreitet worden, daß die Menschen nicht als vernünftige Wesen zu betrachten und als gleichberechtigt zu behandeln seien. Das ist nicht gut.«

Die Szene änderte jetzt ihren Charakter aus dem Komischen in das Schauerliche. Die Engländer stürzten unter wildem Geheul, das akustisch wiedergegeben wurde, auf die beiden Martier zu und überfielen sie. Die Martier scheuchten sie majestätisch zurück, und es entwickelte sich zunächst eine Art Diskussion, die durch das menschliche Kauderwelsch, welches Englisch vorstellen sollte, einen Augenblick ins Komische umzuschlagen schien, aber sofort die Entrüstung der Zuschauer wachrief, als eine neue Schar von Wilden den Martiern in den Rücken fiel und sie hinterrücks niederriß. Dann wurden den unglücklichen Opfern die Arme zusammengeschnürt und sie an langen Stricken fortgeschleppt.

Bei diesem Anblick brach im Theater ein unheimlicher Lärm aus. Wie ein Wutschrei ging es durch die Masse der Zuschauer. Die Fesselung, die Beraubung der persönlichen Bewegungsfreiheit, war die größte Schmach, die einem Numen angetan werden konnte. Die Gesamtheit der Martier fühlte sich dadurch beleidigt. Und seltsam, während man die Menschen eben als unvernünftige Wesen belacht hatte, betrachtete man sie doch jetzt als verantwortlich für ihre Handlungen. Die Darstellung hatte offenbar die Tendenz, die Menschen als böse zu zeigen, indem das Folgende ihre Intelligenz zu verdeutlichen bestimmt war. Das englische Kriegsschiff dampfte herbei. Es schien ganz im Vordergrund zu liegen, und in einem kaum verfolgbaren Wechsel des Bildes befand man sich plötzlich an Bord desselben. Die vorzügliche Einrichtung, die musterhafte Ordnung, die Waffen und Maschinen bewiesen die hohe technische Kultur der Menschen; dagegen stach die rohe Behandlung der Gefangenen häßlich ab und empörte die Zuschauer nur um so heftiger. Mit Jubel wurde daher das Erscheinen des großen Luftschiffes begrüßt und der Kampf zwischen den Martiern und Menschen mit Enthusiasmus verfolgt. Die erhabene Friedensliebe der Nume schien verschwunden, in dieser gereizten Versammlung wenigstens kam sie nicht zum Ausdruck. Und als in einem ästhetisch wunderbar gelungenen Schlußtableau auf der Eisscholle am Felsenufer Ill selbst erschien und den Gefangenen die Fesseln löste, artete die Vorstellung zu einer eindrucksvollen patriotischen Kundgebung aus. Die Rufe »Sila Nu« und »Sila Ill« brausten durch das Haus.

Isma lehnte sich ängstlich zurück. Sie fürchtete jeden Augenblick, sich selbst oder wenigstens Ell auf der Bühne erscheinen zu sehen; aber mit diesen den Martiern befreundeten Menschen wußte die tendenziöse Dichtung nichts anzufangen, sie waren einfach fortgelassen. Saltner war wütend. »So was dürfte die Polizei gar nicht erlauben«, sagte er, »bei uns würde man das gleich verboten haben.«

»Was wollen Sie«, sagte La, »dies ist eine Privatveranstaltung. Sie können das Theater mieten und morgen eine Verherrlichung der Erde aufführen.«

Sie sah ihn lächelnd an, und er schwieg.

»Es muß auch etwas geschehen«, sagte Fru, »um der Verbreitung dieser Menschenhetze entgegenzuwirken. Lassen Sie uns gehen.«

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