Erstes Buch

1. Kapitel

Am Nordpol

Eine Schlange jagt über das Eis. In riesiger Länge ausgestreckt schleppt sie ihren dünnen Leib wie rasend dahin. Mit Schnellzugsgeschwindigkeit springt sie von Scholle zu Scholle, die gähnende Spalte hält sie nicht auf, jetzt schwimmt sie über das offene Wasser eines Meeresarms und schlüpft gewandt über die hier und da sich schaukelnden Eisberge. Sie gleitet auf das Ufer, unaufhaltsam in gerader Richtung, direkt nach Norden, dem Gebirge entgegen, das am Horizont sich hebt. Es geht über die Gletscher hin nach dem dunklen Felsgestein, das mit weiten Flecken bräunlicher Flechten bedeckt mitten unter den Eismassen sich emporbäumt. Wieder schießt die Schlange in ein Tal hinab. Zwischen den Felsbrocken sproßt es grün und gelblich, Sauerampfer und Saxifragen schmücken den Boden, die spärlichen Blätter eines Weidenbuschs zerstieben unter dem Schlag des mit rasender Geschwindigkeit hindurchfahrenden Schlangenleibes. Eilend entflieht eine einsame Schneeammer, erschrocken und brummend erhebt sich aus seinem Schlummer der Eisbär, dem soeben die Schlange das zottige Fell gestreift hat.

Die Schlange kümmert sich nicht darum; während ihr Schweif über die nordische Sommerlandschaft hinjagt, hebt sie ihr Haupt hoch empor in die Luft, der Sonne entgegen. Es ist kurz nach Mitternacht, eben hat der neunzehnte August begonnen.

Schräg fallen die Strahlen des Sonnenballs auf die Abhänge des Gebirges, das unter der Einwirkung des schon monatelang dauernden Tages sich mit reichlichem Pflanzenwuchs bedeckt hat. Hinter jenen Höhen liegt der Nordpol des Erdballs. Ihm entgegen stürmt die Schlange. Wo aber ist der Kopf des eilenden Ungetüms? Man sieht ihn nicht. Ihr dünner Leib verfließt in der Luft, die klar und durchsichtig über der Polarlandschaft liegt. Doch welch seltsame Erscheinung? Der Schlange stets voran schwebt, von der Sonne vergoldet, ein rundlicher Körper. Es ist ein großer Ballon. Straff schwillt die feine Seide unter dem Druck des Wasserstoffgases, das sie erfüllt. In der Höhe von dreihundert Meter über dem Boden treibt ein starker, gleichmäßig wehender Südwind den Ballon dem Norden zu. Die Schlange aber ist das Schlepptau dieses Luftballons, der in günstiger Fahrt dem langersehnten Ziel menschlicher Wißbegier sich nähert, dem Nordpol der Erde. Auf dem Boden nachschleppend reguliert es den Flug des Ballons. Wenn er höher steigt, hemmt es ihn durch sein Gewicht, das er mit aufheben muß; wenn er sinkt, erleichtert es ihn, indem es in größerer Länge auf der Erde sich ausstreckt. Seine Reibung auf dem Boden bietet einen Widerstand und ermöglicht es damit den Luftschiffern, durch Stellung eines Segels bis zu einem gewissen Grade von der Windrichtung abzuweichen.

Aber das Segel ist jetzt eingezogen. Der Wind weht so günstig unmittelbar von Süden her, wie es die kühnen Nordpolfahrer nur wünschen können. Lange hatten sie an der Nordküste von Spitzbergen auf das Eintreten des Südwinds gewartet. Schon neigte sich der Polarsommer seinem Ende zu, und sie fürchteten unverrichteter Sache umkehren zu müssen, wie der kühne Schwede Andrée bei seinem ersten Versuche. Da endlich, am 17. August, setzte der Südwind ein. Der gefüllte Ballon erhob sich in die Lüfte; binnen zwei Tagen hatten sie tausend Kilometer in direkt nördlicher Richtung zurückgelegt. Der von Nansen entdeckte nordische Ozean war überflogen und neues Land erreicht, das sich ganz gegen Erwartung der Geographen hier vorfand. Schon entschwand das Supan-Kap auf Andrée-Land im Süden ihren Blicken. Bald mußte es sich entscheiden, ob die beiden Expeditionen, die eine im Ballon, die andere mit Schlitten unternommen, wirklich, wie ihre Führer meinten, den Pol selbst erreicht hätten. Bei der Unsicherheit der Ortsbestimmung in diesen Breiten waren Zweifel darüber entstanden, die Aussicht vom Ballon war durch Nebel getrübt gewesen, der Schlittenexpedition fehlte ein weiterer Überblick. Jetzt war durch die Mittel eines reichen Privatmanns, des Astronomen Friedrich Ell, eine deutsche Expedition ausgerüstet worden, die noch einmal mittels des Ballons den Pol untersuchen sollte.

Natürlich hatte man sich die Erfahrungen der früheren Expeditionen zunutze gemacht. Durch die internationale Vereinigung für Polarforschung war eine eigene Abteilung für wissenschaftliche Luftschiffahrt ins Leben gerufen worden. Namentlich hatte man die Benutzung des Schleppseils ausgebildet und damit für die Leitung des Ballons wenigstens annähernd ein Mittel zur Lenkung gefunden, wie es das Segelschiff im Widerstand des Wassers besitzt. Man hatte Metallzylinder konstruiert, in denen man bis auf 250 Atmosphären Druck zusammengepreßten Wasserstoff mit sich führte, um bei Dauerfahrten einen eingetretenen Gasverlust zu ersetzen. Man hatte dem Korb eine Form gegeben, die es gestattete, ihn nach Bedarf gegen die äußere Luft abzuschließen. Der neue Ballon ›Pol‹ war mit allen diesen fortgeschrittenen Einrichtungen ausgerüstet. Außerdem hing unterhalb des Korbes zur Rettung im äußersten Notfall ein großer Fallschirm. Unter einer Art Sattel, der einen sicheren Sitz gewährte, war an demselben für alle Fälle ein Proviantkorb befestigt.

Der Direktor der Abteilung für wissenschaftliche Luftschiffahrt, Hugo Torm, hatte selbst die Leitung der Expedition unternommen. Ihn begleiteten der Astronom Grunthe und der Naturforscher Josef Saltner. Saltner warf einen Blick auf Uhr und Barometer, drückte auf den Momentverschluß des photographischen Apparats und notierte die Zeit und den Luftdruck.

»Diese Gegend hätten wir glücklich in der Tasche«, murmelte er. Dann streckte er die in hohen Filzstiefeln steckenden Füße so weit aus, als es der beschränkte Raum des Korbes zuließ, zwinkerte mit den lustigen Augen und sagte: »Meine Herren, ich bin schauderhaft müde. Könnte man nicht jetzt ein kleines Schläfchen machen? Was meinen Sie, Kapitän?«

»Tun Sie das«, antwortete Torm, »Sie sind an der Reihe. Aber beeilen Sie sich. Wenn wir diesen Wind noch drei Stunden behalten –«

Er unterbrach sich, um die nötigen Ablesungen zu machen.

»Wecken Sie mich gefälligst, sobald wir – am Pol sind –«

Saltner sprach mit geschlossenen Augen, und beim letzten Wort war er schon sanft entschlummert.

»Es ist ein unheimliches Glück, das wir haben«, begann Torm. »Wir fliegen im wahren Sinn des Worts auf das Ziel zu. Ich habe für die letzten fünf Minuten wieder 3,9 Kilometer notiert. Könnten Sie eine genauere Bestimmung versuchen, wo wir sind?«

»Es wird sich machen lassen«, antwortete Grunthe, indem er nach dem Sextanten griff. »Der Ballon geht sehr ruhig, und wir haben die Ortszeit ziemlich sicher. Wir hatten den tiefsten Sonnenstand vor einer Stunde und 26 Minuten.« Er nahm die Sonnenhöhe mit größter Sorgfalt. Dann rechnete er einige Zeit lang.

In vollkommener Stille lag die Landschaft, über welche die Luftschiffer eilten. Ein weites Hochplateau, mit Moos und Flechten bedeckt, hier und da von Wasserlachen durchsetzt, bildete den Fuß des Gebirges, dem sich der Ballon schnell näherte. Man hörte nichts als das Ticken der Uhrwerke, von Zeit zu Zeit das regelmäßige Abschnurren des Aspirationsthermometers, dazwischen die behaglichen Atemzüge des schlummernden Saltner. Es war freilich eine angenehmere Polarfahrt, als mit halbverhungerten Hunden die langsamen Schlitten über die Eistrümmer zu schleppen. Grunthe sah von seiner Rechnung auf.

»Welche Breite haben Sie aus der Berechnung des zurückgelegten Weges?« fragte er Torm.

»Achtundachtzig Grad fünfzig – einundfünfzig Minuten«, erwiderte dieser.

»Wir sind weiter.«

Grunthe machte eine Pause, indem er noch einmal kurz die Rechnung prüfte. Dann sagte er bedachtsam, aber mit derselben Gleichmäßigkeit der Stimme:

»Neunundachtzig Grad 12 Minuten.«

»Nicht möglich!«

»Ganz sicher«, erwiderte Grunthe ruhig und zog die Lippen ein, so daß sein Mund unter dem dünnen Schnurrbart wie ein Gedankenstrich erschien. Das war das Zeichen, daß keine Gewalt mehr imstande sei, an Grunthes unerschütterlichem Ausspruch etwas zu ändern.

»Dann haben wir keine 90 Kilometer mehr bis zum Pol«, rief Torm lebhaft.

»Neunundachtzigeinhalb«, sprach Grunthe.

»Dann sind wir in zwei Stunden dort.«

»In einer Stunde und 52 Minuten«, verbesserte Grunthe unerschütterlich, »wenn nämlich der Wind mit derselben Geschwindigkeit anhält.«

»Ja – wenn«, so rief Torm lebhaft. »Nur noch zwei Stunden, Gott gebe es!«

»Sobald wir über jenen Bergrücken sind, werden wir den Pol sehen.«

»Sie haben recht, Doktor! Sehen werden wir den Pol – ob auch erreichen?«

»Warum nicht?« fragte Grunthe.

»Hinter den Bergen, der Himmel gefällt mir nicht – auf der Nordseite liegt jetzt seit Stunden die Sonne, es ist dort ein aufsteigender Luftstrom vorhanden –«

»Wir müssen abwarten.«

»Da – da – sehen Sie – den herrlichen Absturz des Gletschers«, rief Torm.

»Wir fliegen gerade auf ihn zu; müssen wir nicht steigen?« fragte Grunthe.

»Gewiß, dort müssen wir hinüber. Aufgepaßt! Schneiden Sie ab!«

Zwei Säcke Ballast klappten herab. Der Ballon schoß in die Höhe.

»Wie die Entfernung täuscht«, sagte Torm. »Ich hätte die Wand für entfernter gehalten – es reicht noch nicht. Wir müssen noch mehr opfern.«

Er schnitt noch einen Sack ab.

»Wir dürfen nicht in die Schlucht geraten«, erklärte er, »kein Mensch weiß, in was für Wirbel wir da kommen. Aber was ist das? Der Ballon steigt nicht? Es hilft nichts – noch mehr hinaus!«

Eine schwarze Felswand, welche den Gletscher in zwei Teile spaltete, erhob sich unmittelbar vor ihnen. Der Ballon schwebte in unheimlicher Nähe. Mit ängstlicher Erwartung verfolgten die beiden Männer den Flug ihres Aërostaten. Der Südwind war jetzt, zu ihrem Glück, hier in der unmittelbaren Nähe der Berge schwächer, sonst wären sie schon an die Felsen geschleudert worden. Der Ballon befand sich nunmehr im Schatten der Berge; das Gas kühlte sich ab. Die Temperatur sank schnell tief unter den Gefrierpunkt. Torm überlegte, ob er noch mehr Ballast auswerfen dürfe. Was er jetzt an Ballast verlor, das mußte er dann an Gas aufopfern, um den Ballon wieder zum Sinken zu bringen, und das Gas war sein größter Schatz, das Mittel, das ihn wieder aus dem Bereich des furchtbaren Nordens bringen sollte. Er wußte ja nicht, was ihn hinter den Bergen erwarte. Aber der Ballon stieg zu langsam. Da – eine seitliche Strömung bewegt ihn – die Strahlen der Sonne, welche über den Sattel des Gletschers herüberlugt, treffen ihn wieder – das Gas dehnt sich aus, der Ballon steigt – tiefer und tiefer sinken die Eismassen unter ihm. –

»Hurrah!« rufen die beiden Luftschiffer wie aus einem Munde.

»Was gibt's?« fährt Saltner aus seinem Schlummer empor. »Sind wir da?«

»Wollen Sie den Nordpol sehen?«

»Wo? Wo?« Im Augenblick war Saltner in die Höhe gefahren.

»Sakri, das ist kalt«, rief er.

»Wir sind über 500 Meter gestiegen«, antwortete Torm.

Saltner hüllte sich in seinen Pelz, was die andern schon vorher getan hatten.

»Wir sind jetzt fast in gleicher Höhe mit dem Kamm des Gebirges. Sobald wir darüber hinwegsehen können, muß vor uns, etwa 50 Kilometer nach Norden, die Stelle liegen –«

»Wo die Erdachse geschmiert wird!« rief Saltner. »Ich bin verteufelt neugierig. Na, den Champagner brauchen wir nicht erst kalt zu stellen.«

Die drei Männer standen, am Tauwerk sich haltend, in der Gondel. Mit gespannten Blicken schauten sie jeden Augenblick, den ihnen die Bedienung des Ballons und die Beobachtung der Instrumente freiließ, durch ihre Feldstecher nach Norden, der Sonne entgegen, die erst wenig nach Osten hin beiseite getreten war. Allmählich versanken die Berggipfel unter ihnen – noch ein breiterer Rücken hemmte ihnen die Aussicht – der Ballon glitt jetzt wieder in der Höhe des Kammes dahin, das Schlepptau schleifte –, noch eine breite Mulde war zu überfliegen, dann mußte das ersehnte Ziel vor ihnen liegen. Der Ballon befand sich etwa in der Mitte der Mulde, höchstens 100 Meter über ihrem Boden, und die gegenüberliegende Talwand verdeckte noch die Aussicht. Der Wind war etwas weniger lebhaft, aber immer noch südlich, und der Ballon stieg an der flachen Erhebung des Eisfeldes hinan.

Jetzt wurden einzelne weiße Bergkuppen in großer Entfernung hinter dem nahen Horizont der gegenüberliegenden Eiswand sichtbar, die Luftschiffer befanden sich in gleicher Höhe mit dem letzten Hindernis, das ihren Blick beschränkte. Die Gipfel mehrten sich, sie bildeten eine Bergkette.

»Diese Berge liegen schon hinter dem Pol«, sagte Grunthe, und diesmal bebte seine Stimme doch ein wenig vor Aufregung. Fest preßte er seine Lippen zur geraden Linie zusammen.

Weiter stieg der Ballon – dunkel gefärbte Bergzüge erschienen unter den Schneegipfeln, rötlich und bräunlich schimmernd – jetzt erreichte der Ballon die Höhe und schwebte über einem tiefen Abgrund – das Schleppseil schnellte hinab, und der Ballon sank sofort einige hundert Meter tief – dann pendelte er noch einmal auf und ab – diese plötzliche Schwankung des Ballons hatte die Aufmerksamkeit der Luftschiffer voll in Anspruch genommen – sie sahen unter sich, tief unten ein wildes Gewirr von Klippen, Felstrümmern und Eisblöcken, hinter sich die steil abgebrochene Wand, an welcher der verzerrte Schatten des Ballons auf- und niederschwankte – die Instrumente mußten beobachtet werden, und erst jetzt konnten sie den Blick nach vorwärts lenken, vorwärts und nordwärts – oder war es vielleicht schon südwärts?

Saltner war der erste, der nach vorn blickte. Aber er sprach nichts, in einem langgedehnten Pfiff blies er den Atem aus seinen gespitzten Lippen.

»Das Meer!« rief Torm.

»Grüß Gott!« sagte jetzt Saltner. »Da hat halt der alte Petermann doch recht behalten, aber bloß ein bissel. Ein offenes Polarmeer ist es schon, man muß sich nur nicht zuviel drauf einbilden.«

»Ein Binnenmeer, ein Bassin, immerhin, gegen tausend Quadratkilometer schätze ich«, sagte Grunthe. »Etwa so groß wie der Bodensee. Aber wer kann wissen, was sich dort hinten noch an Fjords und Kanälen abzweigt. Und auch das Bassin selbst ist durch verschiedene Inseln in Arme geteilt.«

»Wer da unten zu Fuß oder zu Schiff ankommt, muß Mühe haben zu entscheiden, ob das Meer im Land liegt oder das Land im Meer«, sagte Saltner. »Gut, daß wir's bequemer haben.«

»Gewiß«, meinte Torm, »es ist möglich, daß wir ein Stück des offenen Meeres vor uns haben, obwohl es von hier den Anschein hat, als schlössen die Berge das Wasser von allen Seiten ein. Wir werden ja sehen. Aber vor allen Dingen, was sollen wir tun? Wir haben wider Erwarten so hoch steigen müssen, daß wir jetzt sehr viel Gas verlieren würden, wenn wir hinabwollten, und andrerseits werden wir wieder drüben über die Berge hinaufmüssen. Es ist eine schwierige Frage. Aber wir haben noch Zeit, darüber nachzudenken, denn der Ballon bewegt sich jetzt nur langsam.«

»Und diese Gelegenheit wollen wir benutzen, um dem Nordpol unsern wohlverdienten Gruß zu bringen«, rief Saltner. Mit diesen Worten zog er ein Futteral hervor, aus welchem drei Flaschen Champagner ihre silbernen Hälse einladend hervorstreckten.

»Davon weiß ich ja gar nichts«, sagte Torm fragend.

»Das ist eine Stiftung von Frau Isma. Sehen Sie, es steht darauf: ›Am Pol zu öffnen. Gewicht vier Kilogramm.‹«

Torm lachte. »Dachte ich mir doch«, sagte er, »daß meine Frau irgend etwas einschmuggeln würde, was das Expeditionsreglement durchbricht.«

»Es ist doch aber auch ein herrlicher Gedanke von Ihrer Frau, sich am Nordpol in Champagner hochleben zu lassen«, erwiderte Saltner. »Erstens für sich selbst, denn das ist etwas, was noch nicht dagewesen ist; das müssen Sie zugeben, Damen sind hier noch niemals leben gelassen worden. Und zweitens für uns, das müssen Sie auch zugeben; es ist sehr wonnig, in dieser Kälte den Schaumwein zu trinken auf das Wohl unserer Kommandeuse. Und drittens, ist es nicht einfach bejauchzbar, das tragische Antlitz unseres Astronomen zu sehen? Denn Champagner trinkt er prinzipiell nicht, und auf weibliche Wesen stößt er prinzipiell nicht an; da er aber auf dem Nordpol prinzipiell in ein Hoch einstimmen muß und will, so findet er sich in einem Widerstreit der Prinzipien, aus dem herauszukommen ihm verteufelt schwerfallen wird.«

»Darauf könnte ich sehr viel erwidern«, sagte Grunthe. »Zum Beispiel, daß wir noch gar nicht wissen, wo der Nordpol eigentlich liegt.«

»Schon wahr«, unterbrach ihn Torm, »aber eben darum müssen wir den Moment feiern, in welchem wir sicher sind, ihn zum erstenmal in unserm Gesichtsfeld zu haben. Das werden Sie zugeben?«

»Hm, ja«, sagte Grunthe, und ein leichtes Schmunzeln glitt über seine Züge. »Ich nehme an, wir wären am Pol. So kann ich mit Ihnen anstoßen, oder auch nicht, ganz wie ich will, ohne mit irgendwelchen Prinzipien in Widerspruch zu geraten.«

»Wieso?« fragte Saltner.

»Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt. Prinzipien sind Grundsätze, die unter der Voraussetzung gelten, daß die Bedingungen bestehen, für welche sie aufgestellt sind, vor allem die Stetigkeit der Raum- und Zeitbestimmungen. Am Pol sind alle Bedingungen aufgehoben. Hier gibt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord, Süd, Ost oder West bezeichnet werden. Hier gibt es auch keine Tageszeit; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend, sind gleichzeitig vorhanden. Hier gelten also auch alle Grundsätze zusammen oder gar keine. Es ist der vollständige Indifferenzpunkt aller Bestimmungen erreicht, das Ideal der Parteilosigkeit.«

»Bravo«, rief Saltner, der inzwischen die Trinkbecher von Aluminium mit dem perlenden Wein gefüllt hatte. »Es lebe Frau Isma Torm, unsere gnädige Spenderin!«

Saltner und Torm erhoben ihre Becher. Grunthe kniff die Lippen zusammen und hielt, geradeaus starrend, sein Trinkgefäß unbeweglich vor sich hin, indem er es passiv geschehen ließ, daß die andern mit ihren Bechern daran stießen. Nun rief Torm:

»Es lebe der Nordpol!«

Da stieß auch Grunthe seinen Becher lebhaft mit den andern zusammen und setzte hinzu:

»Es lebe die Menschheit!«

Sie tranken und Saltner rief:

»Grunthes Toast ist so allgemein, daß ein Becher nicht reichen kann.« Und er schenkte noch einmal ein.

Inzwischen war der Ballon langsam dem Binnenmeer entgegengetrieben, das sich nun immer deutlicher den staunenden Blicken der Reisenden enthüllte. Vom Fuß der steil abfallenden Felsenwand des Gebirges ab senkte sich das Gelände allmählich, wohl noch eine Strecke von einigen zwanzig Kilometern weit, nach dem Ufer hin. Aber die Landschaft zeigte jetzt ein vollständig anderes Gepräge. Die wilde Gletschernatur war verschwunden, grüne Matten zogen sich, nur noch mit einzelnen Gesteinstrümmern hier und da bedeckt, in sanfter Senkung dem Wasser zu. Man glaubte in ein herrliches Alpental zu schauen, in dessen Mitte ein blauer Bergsee sich ausbreitete. An dem jenseitigen, entfernten Ufer, das freilich in undeutlichem Dämmer verschwamm, schien dagegen wieder ein Steilabfall von Fels und Eis zu herrschen, doch zog sich über den Bergen dort eine Wolkenwand empor. Das Auffallendste in der ganzen Szenerie aber bot der Anblick einer der Inseln, die zahlreich und in unregelmäßiger Gestaltung in dem Bassin lagen, bis an dessen Ufer der Ballon jetzt herangeschwebt war. Sie war kleiner als die Mehrzahl der übrigen Inseln. Aber ihre Formen waren so vollkommen regelmäßig, daß es zweifelhaft schien, ob man eine Gestaltung der Natur vor sich habe. Die mit Flechten bekleideten Felstrümmer, welche die andern Inseln bedeckten, fehlten hier vollständig.

Die Forscher mochten sich etwa noch zwölf Kilometer von der rätselhaften Insel entfernt befinden, die sie mit ihren Ferngläsern musterten, als Torm sich an Grunthe wandte.

»Sagen Sie uns, bitte, Ihre Meinung. Können wir eigentlich bestimmen, wo wir uns befinden? Ich muß gestehen, daß ich beim Überschreiten des Gebirges und dem raschen Höhenwechsel nicht mehr imstande war, die einzelnen Landmarken zu verfolgen.«

»Ich habe«, erwiderte Grunthe, »einige Peilungen gemacht, aber zu einer sicheren Bestimmung reichen sie nicht mehr aus. Auch die Methode aus der Messung der Sonnenhöhe ist jetzt nicht anwendbar, da wir nicht mehr imstande sind, die Tageszeit auch nur mit einiger Sicherheit anzugeben. Wir haben die Himmelsrichtung vollständig verloren. Der Kompaß ist ja hier im Norden sehr unzuverlässig. Auf alle Fälle sind wir ganz nahe am Pol, wo alle Meridiane so nah zusammenlaufen, daß eine Abweichung von einem Kilometer nach rechts oder links einen Zeitunterschied von einer Stunde oder mehr ausmacht. Wenn unser Ballon aus der Nord-Süd-Richtung vielleicht seit der Überschreitung des Gebirges um fünf oder sechs Kilometer abgewichen ist, was sehr leicht sein kann, so haben wir jetzt nicht, wie wir vermuten, drei Uhr morgens am 19. August, sondern vielleicht schon Mittag, oder, wenn wir nach Westen abgewichen sind, so sind wir sogar in den gestrigen Tag zurückgeraten und haben vielleicht erst den 18. August abends.«

»Das wäre der Teufel«, rief Saltner. »Das kommt von diesem ewigen Sonnenschein am Pol! Nun kann ich an meinem Abreißkalender das Blatt von gestern wieder ankleben.«

»Schon möglich!« lächelte Grunthe. »Nehmen Sie an, Sie machen einen Spaziergang um den Nordpol in der Entfernung von hundert Metern vom Pol, so sind Sie in fünf Minuten bequem um den Pol herumgegangen und haben sämtliche 360 Meridiane überschritten; Sie haben also in fünf Minuten alle Tageszeiten abgelaufen. Gehen Sie nach Westen herum, und wollen Sie die richtige Zeit jedes Meridians haben, so müßten Sie auf jedem Meridian Ihre Uhr um 4 Minuten zurückstellen, so daß Sie nach besagten fünf Minuten um einen vollen Tag zurück sind, und wenn Sie in dieser Art eine Stunde lang um den Pol herumgegangen sind, so muß Ihre Uhr, wenn sie einen Datumzeiger besitzt, den 7. August anzeigen.«

»Da muß ich mir halt einen Anklebekalender anschaffen«, meinte Saltner.

»Ja, aber wenn Sie nach Osten herumgehen, kommen Sie um ebensoviel in der Zeit voran, Sie hätten dann nach zwölfmaligem Spaziergang um den Pol den 31. August erreicht, wenn Sie bei jedem Umgehen des Pols ein Blatt in ihrem Kalender abrissen. In beiden Fällen würden sie sich indessen tatsächlich noch am 19. August befinden. Sie müßten also, wie die Seefahrer beim Überschreiten des 180. Meridians, ihren Datumzeiger entsprechend regulieren.«

»Und wenn wir nun gerade über den Pol wegfliegen?«

»Dann springen wir in einem Moment um zwölf Stunden in der Zeit. Der Pol ist eben ein Unstetigkeitspunkt.«

»Sackerment, da weiß man ja gar nicht, wo man ist.«

»Ja«, sagte Torm, »das ist eben das Fatale. Wir haben uns von Anfang an darauf verlassen müssen, daß wir unsere Lage aus dem zurückgelegten Wege bestimmen. Läßt sich denn gar nichts tun?«

»Nur wenn wir landen und unsere Instrumente so fest aufstellen, daß wir einige Sterne anvisieren können.«

»Daran können wir auf keinen Fall eher denken, bis wir den See überflogen haben und das jenseitige Gebirge überschauen. Hier zwischen den Inseln dürfen wir uns nicht hinabwagen. Wir sind also wirklich nicht besser daran als unsere Vorgänger, und der wahre Pol bleibt wieder unbestimmt.«

»Zu verflixt«, brummte Saltner, »da sind wir vielleicht gerade am Nordpol und wissen es nicht.«

2. Kapitel

Das Geheimnis des Pols

Langsam zog der Ballon weiter, doch bewegte er sich nicht direkt auf die auffallende kleine Insel zu, sondern sie blieb rechts von seiner Fahrtrichtung liegen.

Während Grunthe die Landmarken aufnahm und Torm die Instrumente ablas, suchte Saltner, dem die photographische Festhaltung des Terrains oblag, die Gegend mit seinem vorzüglichen Abbéschen Relieffernrohr ab. Dasselbe gab eine sechzehnfache Vergrößerung und ließ, da es die Augendistanz verzehnfachte, die Gegenstände in stereoskopischer Körperlichkeit erscheinen. Sie hatten sich jetzt der Insel soweit genähert, daß es möglich gewesen wäre, Menschen, falls sich solche dort hätten befinden können, mit Hilfe des Fernrohrs wahrzunehmen.

Saltner schüttelte den Kopf, sah wieder durch das Fernrohr, setzte es ab und schüttelte wieder den Kopf.

»Meine Herren«, sagte er jetzt, »entweder ist mir der Champagner in den Kopf gestiegen –«

»Die zwei Glas, Ihnen?« fragte Torm lächelnd.

»Ich glaub es auch nicht, also – oder –«

»Oder? Was sehen Sie denn?«

»Es sind schon andere vor uns hier gewesen.«

»Unmöglich!« riefen Torm und Grunthe wie aus einem Munde.

»Die bisherigen Berichte wissen nichts von einer derartigen Insel – unsere Vorgänger sind offenbar gar nicht über das Gebirge gekommen«, fügte Torm hinzu.

»Sehen Sie selbst«, sagte Saltner und gab das Fernrohr an Torm. Er selbst und Grunthe benutzten ihre kleineren Feldstecher. Torm blickte gespannt nach der Insel, dann wollte er etwas sagen, zuckte aber nur mit den Lippen und blieb völlig stumm.

Saltner begann wieder: »Die Insel ist genau kreisförmig – das haben wir schon bemerkt. Aber jetzt sehen Sie, daß gerade im Zentrum sich wieder ein dunkler Kreis von – sagen wir – vielleicht hundert Metern Durchmesser befindet.«

»Allerdings«, sagte Grunthe, »aber es ist nicht nur ein Kreis, sondern eine zylindrische Öffnung, wie man jetzt deutlich sehen kann. Und um den Rand derselben führt eine Art Brüstung.«

»Und nun suchen Sie einmal den Rand der Insel ab. Was sehen Sie?«

»Mein Glas ist zu schwach, um Einzelheiten zu erkennen.«

»Ich habe gesehen, was Sie wahrscheinlich meinen«, sagte Torm.

»Aber was ist das«, unterbrach er sich, »der Ballon ändert seine Richtung?«

Er gab das Glas an Grunthe und wandte seine Aufmerksamkeit dem Ballon zu. Dieser wich nach rechts von seinem bisherigen Kurse ab. Er bewegte sich parallel mit dem Ufer der Insel, diese in sich gleichbleibender Entfernung umkreisend.

»Wir wollen uns überzeugen, daß wir dasselbe meinen«, sagte Grunthe. »Rings um die Insel zieht sich ein Kreis von pfeiler- oder säulenartigen Erhöhungen in gleichen Abständen.«

»Es stimmt«, sagten die andern.

»Ich habe sie gezählt«, bemerkte Torm, »es sind zwölf große, dazwischen je elf kleinere, im ganzen hundertvierundvierzig.«

»Und der seltsame Reflex über der ganzen Insel?«

»Wissen Sie, es sieht aus, als wäre die ganze Insel mit einem Netz von spiegelnden metallischen Drähten oder Schienen überzogen, die wie die Speichen eines Rades vom Zentrum nach der Peripherie laufen.«

»Ja«, sagte Torm, indem er sich einen Augenblick erschöpft niedersetzte, »und Sie werden gleich noch mehr sehen, wenn Sie länger hinschauen. Ich will es Ihnen sagen.« Seine Stimme klang rauh und heiser. »Was Sie dort sehen, ist der Nordpol der Erde – aber, wir haben ihn nicht entdeckt.«

»Das fehlte gerade«, fuhr Saltner auf. »Dafür sollten wir uns in diesen pendelnden Frierkasten gesetzt haben? Nein, Kapitän, entdeckt haben wir ihn, und was wir da sehen, ist kein Menschenwerk. So verrückt wäre doch kein Mensch, hier Drähte zu spannen! Eher will ich glauben, daß die Erdachse in ein großes Velozipedrad ausläuft, und daß wir wahrhaftig berufen sind, sie zu schmieren! Nur nicht den Mut verlieren!«

»Wenn es nicht Menschen sind«, sagte Torm tonlos, »und ich weiß auch nicht, wie Menschen dergleichen machen sollten, und warum, und wo sie herkämen – das hätte man doch erfahren – so – eine Täuschung ist es doch nicht – so steht mir der Verstand still.«

»Na«, sagte Saltner, »Eisbären werden's nicht gemacht haben, obgleich ich mich jetzt über nichts mehr wundern würde, und wenn gleich ein geflügelter Seehund käme und ›Station Nordpol‹ ausriefe. Aber es könnte doch vielleicht eine Naturerscheinung sein, ein merkwürdiger Kristallisationsprozeß – – Sakri! Jetzt hab ich's. Das ist ein Geysir! Ein riesiger Geysir!«

»Nein, Saltner«, erwiderte Torm, »das habe ich auch schon gedacht – ein Schlammvulkan könnte etwa eine ähnliche Bildung zeigen. Aber – Sie haben wohl das Eigentliche, die Hauptsache, das – Unerklärliche noch nicht gesehen –«

»Was meinen Sie?«

»Ich hab' es gesehen«, sagte jetzt Grunthe. Er setzte das Fernrohr ab. Dann lehnte er sich zurück und runzelte die Stirn. Auch um die fest zusammengezogenen Lippen bildeten sich Falten, daß sein Mund aussah wie ein in Klammern gesetztes Minuszeichen. Er versank in tiefes, sorgenvolles Nachdenken.

Saltner ergriff das Glas.

»Achten Sie auf die Färbungen am Boden der ganzen Insel!« sagte Torm zu ihm.

»Es sind Figuren!« rief Saltner.

»Ja«, sagte Torm. »Und diese Figuren stellen nichts anderes dar als ein genaues Kartenbild eines großen Teils der nördlichen Halbkugel der Erde in perspektivischer Polarprojektion. Sie sehen deutlich den Verlauf der grönländischen Küste, Nordamerika, die Beringstraße, Sibirien, ganz Europa – mit seinen unverkennbaren Inseln und Halbinseln, das Mittelmeer bis zum Nordrand von Afrika, wenn auch stark verkürzt.«

»Es ist kein Zweifel«, sagte Saltner. »Die ganze Umgebung des Pols ist in einem deutlichen Kartenbild in kolossalem Maßstab hier abgezeichnet, und zwar bis gegen den 30. Breitengrad.«

»Und wie ist das möglich?«

Die Frage fand keine Antwort. Alle schwiegen.

Inzwischen hatte der Ballon eine fast vollständige Umkreisung der Insel vollzogen. Aber er hatte sich derselben auch noch um ein Stück genähert. Es war klar, daß er durch eine unbekannte Kraft, wohl durch eine wirbelförmige Bewegung der Luft, um die Insel herumgeführt und zugleich nach der Achse des Wirbels, die von der Mitte der Insel ausgehen mochte, zu ihr hingezogen wurde.

Torm unterbrach das Schweigen. »Wir müssen einen Entschluß fassen«, sagte er. »Wollen die Herren sich äußern.«

»Ich will zunächst einmal«, begann Saltner, »diese merkwürdige Erdkarte photographieren. Sie scheint ziemlich richtig selbst in Details zu sein. Daß sie nicht von Menschenhand herrühren kann, sehen wir daraus daß auch die noch unbekannten Gegenden des Polargebietes dargestellt sind. Die innere Öffnung, bei welcher die Karte abbricht, entspricht in ihrem Umfange etwa dem 86. Breitengrade; es fehlen also – für uns leider – die nächsten vier Grade um den Pol herum.«

»Selbstverständlich«, sagte Torm, »müssen Sie die Karte photographieren. Wir dürfen nicht mehr zweifeln, ein Werk intelligenter Wesen vor uns zu haben, wenn ich mir auch nicht erklären kann, wer diese sein mögen. Aber wenn das richtig ist, was wir kontrollieren können, so müssen wir schließen, daß auch die Teile des Polargebietes nach den Nordküsten von Amerika und Sibirien hin zuverlässig dargestellt sind. Und dann hätten wir mit einem Schlage eine vollständige Karte dieses bisher unerforschten Polargebietes.«

»Nun, ich denke, wir können mit diesem Erfolg schon zufrieden sein. Und bedenken Sie, wie nützlich die Karte für unsere Rückkehr werden kann. So –«, damit brachte Saltner die photographische Kammer wieder an ihren Platz, »ich habe drei sichere Aufnahmen. Aber der Ballon bewegt sich ja schneller?«

»Ich glaube auch«, sagte Torm. »Ich bitte nun um die Meinung der Herren, sollen wir eine Landung auf der Insel wagen, um dieses Geheimnis zu erforschen?«

»Ich meine«, äußerte sich Saltner, »wir müssen es versuchen. Wir müssen zusehen, mit wem wir es hier zu tun haben.«

»Gewiß«, sagte Torm, »die Aufgabe ist verlockend. Aber es ist zu befürchten, daß wir zuviel Gas verlieren, daß wir vielleicht die Möglichkeit aufgeben, den Ballon weiter zu benutzen. Was meinen Sie, Dr. Grunthe?«

Grunthe richtete sich aus seinem Nachsinnen auf. Er sprach sehr ernst: »Unter keinen Umständen dürfen wir landen. Ich bin sogar der Ansicht, daß wir alle Anstrengungen machen müssen, um uns so schnell wie möglich von diesem gefährlichen Punkt zu entfernen.«

»Worin sehen Sie die Gefahr?«

»Nachdem wir die eigentümliche Ausrüstung des Pols und die Abbildung der Erdoberfläche gesehen haben, ist doch kein Zweifel, daß wir einer gänzlich unbekannten Macht gegenüberstehen. Wir müssen annehmen, daß wir es mit Wesen zu tun bekommen, deren Fähigkeiten und Kräften wir nicht gewachsen sind. Wer diesen Riesenapparat hier in der unzugänglichen Eiswüste des Polargebiets aufstellen konnte, der würde ohne Zweifel über uns nach Gutdünken verfügen können.«

»Nun, nun«, sagte Torm, »wir wollen uns darum nicht fürchten.«

»Das nicht«, erwiderte Grunthe, »aber wir dürfen den Erfolg unserer Expedition nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht liegt es im Interesse dieser Polbewohner, den Kulturländern keine Nachricht von ihrer Existenz zukommen zu lassen. Wir würden dann ohne Zweifel unsere Freiheit verlieren. Ich meine, wir müssen alles daransetzen, das, was wir beobachtet haben, der Wissenschaft zu übermitteln und es dann späteren Erwägungen überlassen, ob es geraten scheint und mit welchen Mitteln es möglich sei, das unerwartete Geheimnis des Pols aufzulösen. Wir dürfen uns nicht als Eroberer betrachten, sondern nur als Kundschafter.«

Die andern schwiegen nachdenklich. Dann sagte Torm:

»Ich muß Ihnen recht geben. Unsere Instruktion lautet allerdings dahin, eine Landung nach Möglichkeit zu vermeiden. Wir sollen mit möglichstes Eile in bewohnte Gegenden zu gelangen suchen, nachdem wir uns dem Pol soweit wie angänglich genähert und seine Lage festgestellt haben, und wir sollen versuchen, einen Überblick über die Verteilung von Land und Wasser vom Ballon aus zu gewinnen. Dieser Gesichtspunkt muß entscheidend sein. Wir wollen also versuchen, von hier fortzukommen.«

»Aber nach welcher Richtung?« fragte Saltner. »Darüber könnte uns die Polarkarte der Insel Auskunft geben.«

»Ich fürchte«, entgegnete Torm, »von unserm guten Willen wird dabei sehr wenig abhängen. Wir müssen abwarten, was der Wind über uns beschließen wird. Zunächst lassen Sie uns versuchen, diesem Wirbel zu entfliehen.«

Inzwischen hatte sich der Ballon noch mehr der Insel genähert, und seine Geschwindigkeit begann zu wachsen. Zugleich aber erhob er sich weiter über den Erdboden.

Die Luftschiffer spannten nun das Segel auf und gaben ihm eine solche Stellung, daß der Widerstand der Luft sie nach der Peripherie des Wirbels treiben mußte. Da aber der Ballon viel zu hoch schwebte, als daß das Schleppseil seine hemmende Wirkung hätte ausüben können, so mußte das Manöver zuerst versagen. In immer engeren Spirallinien aufsteigend näherte sich der Ballon dem Zentrum des Wirbels und vermehrte seine Geschwindigkeit. In großer Besorgnis verfolgten die Luftschiffer den Vorgang. Sie beeilten sich, die Länge des Schlepptaus zu vergrößern. Ihre vorzügliche Ausrüstung gestattete ihnen, ein Schlepptau von tausend Metern Länge zu verwenden, an welches noch ein hundertundfünfzig Meter langer Schleppgurt mit Schwimmern kam. Aber auch diese stattliche Ausdehnung des Seiles reichte nicht bis auf die Oberfläche des Wassers.

»Es bleibt nichts übrig«, rief Torm endlich, »wir müssen weiter niedersteigen.«

Er öffnete das Manöverventil. Das Gas strömte aus. Der Ballon begann zu sinken.

»Wir wollen aber«, sagte Torm, »da wir nicht wissen, wie wir hier davonkommen, doch versuchen, eine Nachricht nach Hause zu geben. Lassen Sie uns einige unserer Brieftauben absenden. Jetzt ist der geeignete Moment. Was wir gesehen haben, muß man in Europa erfahren.«

Eilends schrieb er die nötigen Notizen auf den schmalen Streifen Papier, den er zusammenrollte und in der Federpose versiegelte, welche den Brieftauben angeheftet wurde.

Saltner gab den Tierchen die Freiheit. Sie umkreisten wiederholt den Ballon und entfernten sich dann in einer Richtung, die von der Insel fortführte.

Torm schloß das Ventil wieder. Sie mußten jetzt jeden Augenblick erwarten, daß das Ende des Schlepptaus die Oberfläche des Wassers berühre. Der Ballon näherte sich seiner Gleichgewichtslage.

Grunthe blickte durch das Relieffernrohr direkt nach unten, da es durch dieses Instrument möglich war, den breiten Sackanker am Ende des Schleppgurts zu sehen und den Abstand desselben vom Boden zu schätzen. Plötzlich griff er mit größter Hast zur Seite, erfaßte den nächsten Gegenstand, der ihm zur Hand war – es war das Futteral mit den beiden noch gefüllten Champagnerflaschen – und schleuderte es in großem Bogen zum Korbe hinaus.

»Sakri, was fällt ihnen ein«, rief Saltner entrüstet, »werfen da unsern saubern Wein ins Wasser.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Grunthe, indem er sich aus seiner gebückten Stellung aufrichtete, da er an der Bewegung der Wimpel bemerkte, daß der Ballon wieder im Steigen begriffen war. »Entschuldigen Sie, aber das Fernrohr konnte ich doch nicht hinauswerfen, und es war keine halbe Sekunde zu verlieren – wir wären wahrscheinlich verloren gewesen.«

»Was gab es denn?« fragte Torm besorgt.

»Wir sind nicht mehr über dem Wasser, sondern bereits am Rande der Insel. Das Ende des Seils war wohl kaum weiter als zehn Meter von der Oberfläche der Insel entfernt. Wir hätten sie berührt, wenn nicht das Sinken des Ballons momentan aufgehört hätte. Glücklicherweise genügten die Flaschen, unsern Fall aufzuhalten.«

»Und glauben Sie denn, daß wir die Insel nicht berühren dürfen?«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

»Wieso?«

»Wir wären hinabgezogen worden.«

»Ich kann noch nicht einsehen, woraus Sie das schließen.«

»Sie haben mir doch beigestimmt«, sagte Grunthe, »daß wir es nicht darauf ankommen lassen dürfen, in die Macht der unbekannten Wesen – sie mögen nun sein, wer sie wollen – zu geraten, welche diesen unerklärlichen Apparat und diese Kolossalkarte am Nordpol hergestellt haben. Es ist aber wohl keine Frage, daß dieser Apparat, an den wir mehr und mehr herangezogen werden, nicht sich selbst überlassen hier stehen wird. Sicherlich ist die Insel bewohnt, es befinden sich die geheimnisvollen Erbauer wahrscheinlich in oder unter jenen Dächern und Pfeilern, die wir mit unsern Fernrohren nicht durchdringen können. Es ist anzunehmen, daß sie unsern Ballon längst bemerkt haben, und so schließe ich denn, daß sie denselben sofort zu sich hinabziehen würden, sobald unser Schleppseil in das Bereich ihrer Arme gelangt.«

»Gott sei Dank«, rief Saltner, »daß Sie den dunkeln Polgästen wenigstens Arme zusprechen; es ist doch schon ein menschlicher Gedanke, daß man ihnen zur Not in die Arme fallen kann.«

Torm unterbrach ihn. »Ich kann mich immer noch nicht recht dazu verstehen«, sagte er, »an eine solche überlegene Macht zu glauben. Das widerspräche ja doch allem, was bisher in der Geschichte der Polarforschung, ja der Entdeckungsreisen überhaupt vorgekommen ist. Freilich die Karte –, aber was denken Sie überhaupt über diese Insel? Sie sprachen von einem Apparat, so ein Apparat müßte doch einen Zweck haben –«

»Den wird er ohne Zweifel haben, wir sind nur nicht in der Lage, ihn zu kennen oder zu begreifen. Denken Sie, daß Sie einen Eskimo vor die Dynamomaschine eines Elektrizitätswerks stellen; daß das Ding einen Zweck hat, wird er sich sagen, aber was für einen, das wird er nie erraten. Wie soll er begreifen, daß die Drähte, die von hier ausgehen, ungeheure Energiemengen auf weite Strecken verteilen, daß sie dort Tageshelle erzeugen, dort schwere Wagen mit Hunderten von Menschen mit Leichtigkeit hingleiten lassen? Wenn der Eskimo sich über die Dynamomaschine äußert, so wird es jedenfalls eine so kindische Ansicht sein, daß wir sie belächeln. Und um nicht diesem unbekannten Apparat gegenüber die Rolle des Eskimo zu spielen, will ich mich lieber gar nicht äußern.«

Torm schwieg nachdenklich. Dann sagte er:

»Was mich am meisten beunruhigt, ist diese unerklärliche Anziehungskraft, die die Achse der Insel auf unsern Ballon ausübt. Und sehen Sie, seitdem wir kein Gas mehr ausströmen lassen, beginnt der Ballon wieder rapid zu steigen. Dabei wird er fortwährend um das Zentrum der Insel herumgetrieben.«

»Und wer sagt Ihnen, was geschieht, wenn wir in die Achse selbst geraten? Ich halte unsere Situation für geradezu verzweifelt, aus dem Wirbel können wir nur heraus, wenn wir uns sinken lassen. Dann aber geraten wir in die Macht der unbekannten Insulaner.«

»Und dennoch«, sagte Torm, »werden wir uns entschließen müssen.«

Alle drei schwiegen. Mit düsteren Blicken beobachteten Torm und Grunthe die Bewegungen des Ballons, während Saltner die Insel mit dem Fernrohr untersuchte. Mehr und mehr verschwanden die Details, die vorher deutlich sichtbar waren, ein Zeichen, daß der Ballon mit großer Geschwindigkeit stieg, auch wenn die Instrumente, ja selbst die zunehmende Kälte, dies nicht angezeigt hätten.

Da – was war das? – auf der Insel zeigte sich eine Bewegung, ein eigentümliches Leuchten. Saltner rief die Gefährten an. Sie blickten hinab, konnten aber mit ihren schwächeren Instrumenten nur bemerken, daß sich helle Punkte vom Zentrum nach der Peripherie hin bewegten. Saltner schien es durch sein starkes Glas, als wenn eine Reihe von Gestalten mit weißen Tüchern winkende Bewegungen ausführte, die alle vom Innern der Insel nach außen hin wiesen.

»Man gibt uns Zeichen«, sagte er. »Sehen Sie hier durch das starke Glas!«

»Das kann nichts anderes bedeuten«, rief Torm, »als daß wir uns von der Achse entfernen sollen. Aber so klug sind wir selbst – wir wissen nur nicht wie.«

»Wir müssen das Entleerungs-Ventil öffnen«, sagte Saltner.

»Dann ergeben wir uns auf Gnade und Ungnade«, rief Grunthe.

»Und doch wird uns nichts übrig bleiben«, bemerkte Torm.

»Und was schadet es?« fragte Saltner. »Vielleicht wollen jene Wesen nur unser Bestes. Würden sie uns sonst warnen?«

»Wie dem auch sei – wir dürfen nicht höher steigen«, sagte Torm. »Wir werden ja geradezu in die Höhe gerissen.«

Schon hatten sich alle dicht in ihre Pelze gewickelt.

»Warten wir noch«, sagte Grunthe, »wir sind immer noch gegen hundert Meter von der Achse der Insel entfernt. Die Trübung hat sich genähert, wir kommen in eine Wolkenschicht. Vielleicht gelangt doch der Ballon endlich ins Gleichgewicht.«

»Unmöglich«, entgegnete Torm. »Wir haben bereits gegen 4000 Meter erreicht. Der Ballon war im Gleichgewicht, als das Gewicht des Futterals mit den Champagnerflaschen seine Bewegung zu ändern vermochte. Wenn er jetzt mit solcher Geschwindigkeit steigt, so ist das ein Zeichen, daß uns eine äußere Kraft in die Höhe führt, die um so stärker wird, je mehr wir uns dem Zentrum nähern.«

»Ich muß es zugeben«, sagte Grunthe. »Es ist gerade, als wenn wir uns in einem Kraftfeld befänden, das uns direkt von der Erde abstößt. Sollen wir einen Versuchsballon ablassen?«

»Kann uns nichts Neues mehr sagen – es ist zu spät. Da – wir sind in den Wolken.«

»Also hinunter!« rief Saltner.

Torm riß das Landungsventil auf.

Der Ballon mäßigte seine aufsteigende Bewegung, aber zu sinken begann er nicht.

Die Blicke der Luftschiffer hingen an den Instrumenten. Wenige Minuten mußten ihr Schicksal entscheiden. Das Gas strömte in die verdünnte Luft mit großer Gewalt aus. Brachte dies den Ballon nicht bald zum Sinken, so war es klar, daß sie die Herrschaft über das Luftmeer verloren hatten. Sie befanden sich dann einer Gewalt gegenüber, die sie, unabhängig von dem Gleichgewicht ihres Ballons in der Atmosphäre, von der Erde forttrieb.

Und der Ballon sank nicht. Eine Zeitlang schien es, als wollte er sich auf gleicher Höhe halten, aber die wirbelnde Bewegung hörte nicht auf, die ihn der Achse der Insel entgegentrieb. Diese Achse, daran war ja kein Zweifel, war nichts anderes als die Erdachse selbst, jene mathematische Linie, um welche die Rotation der Erde erfolgt. Immer stärker wurden sie zu ihr hingezogen. Aber je näher sie ihr kamen, um so heftiger wurde der Ballon noch oben gedrängt. Schon begannen sich die körperlichen Beschwerden einzustellen, welche die Erhebung in die verdünnten Luftschichten begleiten. Alle klagten über Herzklopfen. Saltner mußte das Fernrohr hinlegen, vor seinen Augen verschwammen die Gegenstände. Atemnot stellte sich ein.

»Es bleibt nichts andres übrig«, rief Torm. »Die Reißleine!«

Grunthe ergriff die Reißleine. Die Zerreißvorrichtung dient dazu, einen Streifen der Ballonhülle in der Länge des sechsten Teils des Ballonumfangs aufzureißen, um den Ballon im Notfall binnen wenigen Minuten des Gases zu entleeren. Aber – die Vorrichtung versagte! Er zerrte an der Leine – sie gab nicht nach. Sie mußte sich am Netzwerk des Ballons verfangen haben. Es war jetzt unmöglich, den Schaden zu reparieren. Der Ballon stieg weiter. Von der Erde war nichts mehr zu sehen, man blickte auf Wolken.

»Die Sauerstoffapparate!« kommandierte Torm.

Obwohl man die Absicht hatte, sich stets in geringer Höhe zu halten, konnte man doch nicht wissen, ob nicht die Umstände ein Aufsteigen in die höchsten Regionen mit sich bringen wurden. Für diesen Fall hatte man sich mit komprimiertem Sauerstoff zur Atmung versehen. Es war jetzt notwendig, die künstliche Atmung anzuwenden.

Die Forscher fühlten sich neu gestärkt; aber immer furchtbarer wurde die Kälte. Sie merkten, wie ihre Gliedmaßen zu erstarren drohten. Die Nase, die Finger wurden gefühllos, sie versuchten ihnen durch Reiben den Blutzufluß wieder zuzuführen. Der Ballon stieg rettungslos weiter, und zwar immer schneller, je mehr er sich dem Zentrum näherte. Siebentausend – achttausend – neuntausend Meter zeigte das Barometer im Verlauf einer Viertelstunde an. Die größte Höhe, welche je von Menschen erreicht worden war, wurde nun überschritten.

Untätig saßen die Männer zusammengedrängt – sie hatten den künstlichen Verschluß der Gondel hergestellt, da sie nichts mehr am Ballon ändern konnten. Sie vermochten nichts zu tun, als sich gegen die Kälte zu schützen. Kein Mittel der Rettung zeigte sich – ihre Tatkraft begann unter dem Einfluß der vernichtenden Kälte zu erlahmen. Der Flug in die Höhe war unhemmbar – nichts mehr konnte sie retten vor dem Erfrieren – oder vor dem Ersticken. – Was würde geschehen? Es war ja gleichgültig.

Und doch, immer wieder raffte sich der eine oder andere mit Anstrengung aller Willenskräfte auf – noch ein Blick auf die Instrumente – die Thermometer waren längst eingefroren – und – kaum glaublich – das Barometer zeigte einen Druck von nur noch 50 Millimeter, das heißt, sie befanden sich zwanzig Kilometer über der Erdoberfläche. Und jetzt – schien es nicht, als käme der Ballon zu ihnen herab? Die entleerte Seidenhülle senkte sich über die Gondel – die Gondel flog schneller als der Ballon – wie aus einer Kanone geschossen fuhr sie in die Seide des Ballons hinein, die Insassen der Gondel waren verstrickt in das Gewirr von Stoff und Seilen – halb schon bewußtlos bemerkten sie kaum noch den Stoß der sie traf – sie waren in die Achse des von der Insel ausgehenden Wirbels geraten. – –

Sie befanden sich senkrecht über dem Pol der Erde – das Ziel war erreicht, dem sie so hoffnungsfroh entgegengestrebt hatten. Weit unter ihnen im hellen Sonnenscheine lagen die glänzenden Wolkenstreifen und fern im Süden das grünlich schimmernde Land ausgebreitet, die kühnen Forscher aber sahen nichts mehr davon. Ohnmächtig, erstickt – erdrückt von der Last des Ballons, flogen sie, eine formlose Masse bildend, in der Richtung der Erdachse den Grenzen der Atmosphäre entgegen.

3. Kapitel

Die Bewohner des Mars

Unter dem Einfluß der geheimnisvollen Kraft, welche die Trümmer der verunglückten Expedition in der Richtung der Erdachse vom Nordpol forttrieb, hatten sie eine ungeheure Beschleunigung erlangt. Der in die Falten des Ballons hineingetriebene Korb bewegte sich jetzt mit rasender Geschwindigkeit nach oben. Wenige Minuten mußten genügen, den Tod der Insassen zu bewirken, da der Verschluß der Gondel sie nicht hinreichend zu schützen vermochte.

Nicht mehr von der Erde aus erkennbar schien das seltsame Geschoß einsam und verlassen den Weltraum zu durcheilen, jeder menschlichen Macht entrückt, ein Spielball kosmischer Kräfte – –

Und dennoch war der Ballon der Gegenstand gespanntester Aufmerksamkeit.

Die Beobachter desselben befanden sich auf einer Stelle, wo kein Mensch lebende Wesen vermutet, ja nur eine solche Möglichkeit hätte verstehen können. Daß der Nordpol von unbekannten Bewohnern besetzt sei, war ja äußerst seltsam und überraschend; aber er war doch ein Punkt der Erde, auf welchem lebende Wesen sich aufzuhalten und zu atmen vermochten. Der Ort dagegen, von welchem aus man jetzt auf den verunglückten Ballon aufmerksam wurde, befand sich bereits außerhalb der Erdatmosphäre. Genau in der Richtung der Erdachse und auf dieser genau so weit von der Oberfläche der Erde entfernt wie der Mittelpunkt der Erde unterhalb, also in einer Höhe von 6356 Kilometer, befand sich frei im Raume schwebend ein merkwürdiges Kunstwerk, ein ringförmiger Körper, etwa von der Gestalt eines riesigen Rades, dessen Ebene parallel dem Horizont des Poles lag.

Dieser Ring besaß eine Breite von etwa fünfzig Metern und einen inneren Durchmesser von zwanzig, im ganzen also einen Durchmesser von 120 Metern. Rings um denselben erstreckten sich außerdem, ähnlich wie die Ringe um den Saturn, dünne, aber sehr breite Scheiben, deren Durchmesser bis auf weitere zweihundert Meter anstieg. Sie bildeten ein System von Schwungrädern, das ohne Reibung mit großer Geschwindigkeit um den inneren Ring herumlief und denselben in seiner Ebene stets senkrecht zur Erdachse hielt. Der innere Ring glich einer großen kreisförmigen Halle, die sich in drei Stockwerken von zusammen etwa fünfzehn Metern Höhe aufbaute. Das gesamte Material dieses Gebäudes wie das der Schwungräder bestand aus einem völlig durchsichtigen Stoffe. Dieser war jedoch von außerordentlicher Festigkeit und schloß das Innere der Halle vollständig luft- und wärmedicht gegen den leeren Weltraum ab. Obwohl die Temperatur im Weltraum rings um den Ring fast zweihundert Grad unter dem Gefrierpunkt des Wassers lag, herrschte innerhalb der ringförmigen Halle eine angenehme Wärme und eine zwar etwas stark verdünnte, aber doch atembare Luft. In dem mittleren Stockwerk, durch welches sich ein Gewirr von Drähten, Gittern und vibrierenden Spiegeln zog, hielten sich auf der inneren Seite des Rings zwei Personen auf, die sich damit beschäftigten, eine Reihe von Apparaten zu beobachten und zu kontrollieren.

Wie aber war es möglich, daß dieser Ring in der Höhe von 6356 Kilometern sich freischwebend über der Erde erhielt? Eine tiefreichende Erkenntnis der Natur und eine äußerst scharfsinnige Ausbildung der Technik hatten es verstanden, dieses Wunderwerk herzustellen.

Der Ring unterlag natürlich der Anziehungskraft der Erde und wäre, sich selbst überlassen, auf die Insel am Pol gestürzt. Gerade von dieser Insel aus aber wirkte auf ihn eine abstoßende Kraft, welche ihn in der Entfernung im Gleichgewicht hielt, die genau dem Halbmesser der Erde gleichkam. Diese Kraft hatte ihre Quelle in nichts anderem als in der Sonne selbst, und die Kraft der Sonnenstrahlung so umzuformen, daß sie jenen Ring der Erde gegenüber in Gleichgewichtslage hielt, das eben hatte die Kunst einer glänzend vorgeschrittenen Wissenschaft und Technik zustande gebracht.

In jener Höhe, einen Erdhalbmesser über dem Pol, war der Ring ohne Unterbrechung der Sonnenstrahlung ausgesetzt. Die von der Sonne ausgestrahlte Energie wurde nun von einer ungeheuren Anzahl von Flächenelementen, die sich in dem Ringe und auf der Oberfläche der Schwungräder befanden, aufgenommen und gesammelt. Die Menschen verwenden auf der Erdoberfläche von der Sonnenenergie hauptsächlich nur Wärme und Licht. Hier im leeren Weltraum aber zeigte sich, daß die Sonne noch ungleich größere Energiemengen aussendet, insbesondere Strahlen von sehr großer Wellenlänge, wie die elektrischen, als auch solche von noch viel kleinerer als die der Lichtwellen. Wir merken nichts davon, weil sie zum größten Teile schon von den äußersten Schichten der Atmosphäre absorbiert oder wieder in den Weltraum ausgestrahlt werden. Hier aber wurden alle diese sonst verlorenen Energiemengen gesammelt, transformiert und in geeigneter Gestalt nach der Insel am Nordpol reflektiert. Auf der Insel wurden sie, in Verbindung mit der von der Insel direkt aufgenommenen Strahlung, zu einer Reihe großartiger Leistungen verwendet; denn man hatte auf diese Weise eine ganz enorme Energiemenge zur Verfügung.

Ein Teil dieser Arbeitskraft wurde nun zunächst dazu gebraucht, ein elektromagnetisches Feld von gewaltigster Stärke und Ausdehnung zu erzeugen. Die ganze Insel mit ihren hundertvierundvierzig Rundbastionen stellte gewissermaßen einen riesigen Elektromagneten vor, der von der Sonnenenergie selbst gespeist wurde. Die Konstruktion war so angelegt, daß die Kraftlinien sich um den Ring konzentrierten und dieser, der Schwerkraft entgegen schwebend gehalten wurde. Daß dies genau in der Entfernung des Erdhalbmessers vom Pole geschah, hing mit einer Beziehung zwischen Elektromagnetismus und Schwere zusammen, infolge deren sich gerade an dieser Stelle eine Art Knotenpunkt für die Wellenbewegung beider Kräfte zu bilden vermochte und das Gleichgewicht ermöglichte.

Allerdings wurde durch eine Reihe komplizierter und höchst scharfsinnig ausgedachter Kontrollapparate dafür gesorgt, daß alle Schwankungen der Energiemengen zur rechten Zeit ausgeglichen wurden. Einen solchen Apparat aufzustellen wäre indessen an keinem anderen Punkte der Erde möglich gewesen als in der Verlängerung ihrer Rotationsachse, also über dem Nordpol oder über dem Südpol. Denn an jeder andern Stelle hätte, abgesehen von tieferliegenden Schwierigkeiten, die Verschiebung der Erdoberfläche infolge der täglichen Umdrehung der Erde unüberwindbare Hindernisse für die Herstellung des Gleichgewichts zwischen der Schwerkraft und dem Elektromagneten geboten; auch hätte die gleichmäßige Sonnenstrahlung gefehlt. Der Pol bietet aber in jeder Hinsicht die einfachsten Verhältnisse wenn es gelingt, bis zu ihm zu gelangen.

Nun, die unübertroffenen Ingenieure der Insel und des Ringes waren einmal da. Aber wo kamen sie her? Wie waren sie dorthin gelangt, ohne daß die internationale Kommission für Polarforschung die geringste Ahnung davon hatte? Und vor allem – wenn sie einmal da waren –, was hatte es für einen Zweck, jenen freischwebenden Ring über dem Pol zu balancieren? Und wenn einmal jener Ring da war, wie konnte man hinauf- und hinabkommen?

Jener Ring war überhaupt nur ein Mittel, um einen ganz andern Zweck zu erreichen. Er diente dazu, einen Standpunkt außerhalb der Atmosphäre der Erde zu gewinnen, eine Station, um zwischen dieser und der Erde nichts Geringeres auszuführen, als – eine zeitweilige Aufhebung der Schwerkraft. Der Raum zwischen der inneren Öffnung des Ringes von zwanzig Metern Durchmesser und der auf der Insel sich befindenden Vertiefung, also ein Zylinder, dessen Achse genau mit der Erdachse zusammenfiel, war ein ›abarisches Feld‹. Dies bedeutet, ein Gebiet ohne Schwere. Körper, welche in diesen zylindrischen Raum gerieten, wurden von der Erde nicht mehr angezogen. Dieses abarische Feld bewirkte, daß in der ganzen Umgebung des Feldes Spannungen im Raum vorhanden waren, wodurch etwa sich nähernde Körper in das Feld getrieben wurden. Daher war es gekommen, daß der Ballon der Luftschiffer allmählich der Insel und damit dem abarischen Felde unentrinnbar zugeführt worden war.

Die Erzeugung jenes Feldes, in welchem die Schwerkraft aufgehoben war für den inneren Raum zwischen Insel und Ring, war dadurch möglich gemacht worden, daß man eine der Erdschwere entgegengesetzt gerichtete Gravitationskraft herstellte. Es war jenen Polbewohnern bekannt, wie man diejenigen Strahlen, welche hauptsächlich chemische Wirkung, Wärme und Licht liefern, in Gravitation überführen kann. Sie wurden zu diesem Zweck bis in den inneren Teil des Ringes geleitet und traten hier in den ›Gravitationsgenerator‹. Dies war ein Apparat, durch welchen man Wärme in Gravitation umwandelte. Ein zweiter, ebenso eingerichteter Gravitationserzeuger befand sich in der zentralen Vertiefung im Inneren der Insel. Beide Apparate wirkten derartig zusammen, daß die Beschleunigung der Schwerkraft im Inneren zwischen Insel und Ring beliebig reguliert werden konnte. Man konnte sie entweder nur verringern, oder ganz aufheben – dann war das abarische Feld im eigentlichen Sinne hergestellt –, oder man konnte die Gegenschwerkraft so verstärken, daß die Körper innerhalb des abarischen Feldes ›nach oben fielen‹, das heißt, eine beliebig starke Beschleunigung entgegengesetzt der Erdschwere, also von der Erde fort, erhielten. Auf diese Weise war es möglich, mit jeder gewünschten Geschwindigkeit Körper zwischen der Insel und dem Ringe sowohl von unten nach oben als von oben nach unten in Bewegung zu setzen, indem man sie in einen zu diesem Zweck konstruierten Flugwagen einschloß.

Es war nun die schwierige Aufgabe der Ingenieure an den beiden Endstationen, den Betrieb so zu regulieren, daß jedesmal das abarische Feld die nötige Stärke besaß, um den Wagen nach oben zu treiben oder in seiner Bewegung aufzuhalten.

Als der Ballon der Polarforscher in das abarische Feld geriet, war dasselbe gerade auf ›Gegenschwere‹ gestellt, weil sich ein Flugwagen auf dem Wege von der Insel nach dem Ringe befand. Infolgedessen wurde der nach dem abarischen Felde hingedrängte Ballon, sobald er in die Achse desselben geraten war, mit großer Geschwindigkeit in die Höhe gerissen.

Äußerlich unterschied sich das Feld von der umgebenden Luft in gar nichts. Nur ein starker aufsteigender Luftstrom und infolgedessen ein seitliches Zuströmen der Luft war natürlich vorhanden. Aber bei dem geringen Durchmesser des Feldes von zwanzig Metern war die in die Höhe getriebene Luftmasse so gering, daß es dadurch nicht zu einer merklichen Nebel- oder Wolkenbildung kam, zumal vom Ringe wie von der Insel aus eine so starke Bestrahlung stattfand, daß der sich etwa kondensierende Wasserdampf sofort wieder in Gasform aufgelöst wurde.

Solange der Ballon sich noch in den Luftschichten bis ein oder zwei Kilometer befand, konnte das Ausströmen des Gases sein Aufsteigen einigermaßen verzögern. Dann aber wurde die Beschleunigung zu groß. Die Gondel, welche sich im Zentrum des Feldes befand, erfuhr dabei eine größere Beschleunigung nach oben als der an Masse zwar geringere, an Ausdehnung aber soviel größere Ballon. Denn da der Durchmesser des Ballons zwanzig Meter übertraf, so ragte er zum Teil über das abarische Feld hinaus. Erst als er durch den Verlust an Gas zusammengesunken war, geriet er ganz in das abarische Feld, und nun begann jener kolossal beschleunigte ›Fall nach oben‹, der den Ballon binnen einer Viertelstunde auf tausend Kilometer emporgerissen hätte, wenn er nicht zum Glück nach kaum einer Minute aufgehalten worden wäre.

Als die Ingenieure der Insel den Ballon bemerkten, hatten sie zunächst versucht, ihn durch Ergreifung des Schleppgurts festzuhalten. Dies hatte Grunthe durch das Hinauswerfen der Champagnerflaschen verhindert, da er jede Berührung der Insel vermeiden wollte. So war der Ballon so weit gestiegen, daß er nicht mehr ergriffen werden konnte, aber er war dadurch dem abarischen Felde unrettbar überliefert. Hier hätten ihn nun die Bewohner der Insel freilich sogleich aufhalten und zurückführen können, wenn sie die ›Gegenschwere‹ im Felde abgestellt hätten. Dies war ihnen jedoch darum nicht möglich, weil sich oberhalb des Ballons, längst nicht mehr sichtbar, ihr eigener Flugwagen befand. Sie konnten also nicht eher eine Veränderung am Feld vornehmen, als bis ihr Wagen an der Station des Ringes angekommen war. Zum Glück für die Insassen des Ballons mußte dies in kürzester Zeit geschehen.

Inzwischen hatten aber auch die Ingenieure auf dem Ring, obwohl sie den Ballon nicht sehen konnten, doch an ihren Gravitationsmessern eine Störung im abarischen Felde wahrgenommen. Sie sandten daher vom Ring eine Depesche nach der Insel.

Diese Übermittlung bot keine Schwierigkeit, denn sie verstanden es, die Lichtstrahlen selbst als Träger für ihre Depeschen zu benutzen. Der Raum zwischen Ring und Insel gestattete dies infolge der intensiven Bestrahlung auch beim feuchtesten Wetter.

Sie telegraphierten nicht nur, sie telefonierten vermöge des Lichtstrahls. Die elektromagnetischen Schwingungen des Telephons setzten sich in photochemische um und wurden auf der andern Station sofort am Apparat abgelesen. Während die unglücklichen Luftschiffer, von der Seide des Ballons eingehüllt, ihre blitzschnelle Fahrt auf der Erdachse vollführten, ging an ihnen eine Depesche vom Ring nach der Insel vorüber, welche lautete:

»E najoh. Ke.«

Und von der Insel wurde zurückdepeschiert:

»Bate li war. Tak a fil.«

Man hätte freilich alle bekannten Sprachen der Erde durchgehen können, ohne in irgendeiner diese Sätze zu finden. Sie bedeuten:

»Achtung! Störung! Was ist vorgefallen?«

Und die Antwort lautete:

»Menschen im abarischen Feld. Abstellen sobald als möglich.«

Der Empfänger dieser Depesche stand in der Beobachtungsabteilung des schwebenden Ringes und kontrollierte die Apparate, welche daselbst an einem großen Schaltbrett angebracht waren. Der Zeiger am Differenzialbaroskop wies ihm genau die Stelle, wo sich der Flugwagen im Augenblick befand. Schon war dieser nahe herangekommen. Einige Handgriffe des Beamten regulierten die Geschwindigkeit des Wagens, der nach wenigen Minuten auf der Endstation erschien. Das vorspringende Fangnetz hielt ihn auf, er ruhte an seinem Ziel.

Der Beamte – es war der Vorsteher der Außenstation selbst – namens Fru, hatte bis jetzt keinen Blick von den Apparaten verwandt. Man hätte ihn für einen alten Mann halten mögen, denn langes, fast weißes Haar flatterte um seine Schläfe. Eine ungewöhnlich hohe Stirn wölbte sich über den großen Augen, deren Pupillen einen tiefen Glanz zeigten. Die Haltung des Körpers aber war frei und leicht. Gewandt bewegte er sich an dem langen Schaltbrett entlang von einem Apparat zum andern, seine Schritte glichen fast einem Gleiten über den Boden. Er war offenbar daran gewöhnt, daß die Schwerkraft eine viel geringere war als auf der Erde. Denn hier, in der doppelten Entfernung vom Mittelpunkt der Erde als deren Oberfläche, betrug die Schwere nur ein Viertel von der uns gewohnten.

Die Tür des Flugwagens wurde jetzt geöffnet. Der Vorsteher der Ringstation warf nur einen flüchtigen Blick dorthin und wandte sich dann wieder den Apparaten zu, um nach dem Pol zu telegraphieren, daß das abarische Feld frei sei.

Die Fahrgäste verließen den Wagen und betraten die Galerie. Es mochten achtzehn Personen sein, in seltsamer Tracht, mit eng anliegenden Kleidern. Ihre bedeutenden Köpfe zeichneten sich meist durch sehr helles, fast weißes Haar und glänzende, durchdringende Augen aus, die aber jetzt durch dunkle Brillen geschützt waren. Sie durchschritten die Galerie, deren Überschrift in jener fremden Sprache besagte, daß man sich auf der ›Außenstation der Erde‹ befinde, und wandten sich über eine Treppe der Ausgangstür nach der oberen Galerie zu. Über der Tür stand in großen Buchstaben: ›Vel lo nu‹, das bedeutet: ›Zum Raumschiff nach dem Mars.‹

Jener schwebende Ring war nichts anderes als der Marsbahnhof der Erde. Er war eine Station in der Nähe der Erde, durch deren Erbauung es den Bewohnern des Planeten Mars möglich geworden war, zwischen ihrem Planeten und der Erde eine regelmäßige Verbindung herzustellen. Die Fahrgäste des Flugwagens waren Martier, die nach ihrer Heimat zurückkehren wollten.

4. Kapitel

Der Sturz des Ballons

Die Regulierung des abarischen Feldes hatte von der Ringstation aus stattgefunden, um den emporsteigenden Flugwagen mit der nötigen Geschwindigkeit zu leiten. Der Wechsel von Gegenschwere und Erdschwere erstreckte sich aber auf das ganze Feld und hatte natürlich zur Folge, daß auch der verunglückte Ballon den Schwankungen der Schwere unterlag. So wurde er zuerst in seinem Fluge nach oben gemäßigt, durchlief dann eine kurze Strecke mit unveränderter Geschwindigkeit, und von dem Augenblicke an, in welchem der Flugwagen den Ring erreicht hatte, begann der Ballon wieder mit immer zunehmender Geschwindigkeit zu fallen. Da in diesen Höhen von einem Widerstand der Luft nicht die Rede war, so fielen auch jetzt Ballon und Gondel mit gleicher Geschwindigkeit. Der stark zusammengesunkene Ballon, der einen großen Teil seiner Gasmenge verloren hatte, bedeckte in dichten Falten den Korb.

Dieser Umstand hatte die Luftschiffer vor einem sofortigen Tod bewahrt. Zunächst schützte sie die Einhüllung in den Ballon vor dem Erfrieren; ja merkwürdigerweise stieg die Temperatur im Inneren des Korbes wieder, als die Atmosphäre der Erde durchflogen war. Dies rührte von der Sonnenstrahlung her, welche jetzt in voller Stärke, durch die Luft nicht mehr aufgehalten, den Ballon traf. Sie wurde durch die Hülle des Ballons absorbiert und erwärmte alles, was sich in derselben befand.

Ein glücklicher Zufall hatte es aber auch so gefügt, daß sich noch ein Teil des Gases im Ballon hielt, dessen Stoff von so vorzüglicher Beschaffenheit war, daß er die Diffusion des Wasserstoffs selbst gegenüber dem leeren Raume fast völlig aufhob. Das Gas konnte nur durch das Landungsventil entströmen. Das Versagen der Zerreißvorrichtung, das ihr Verderben schien, wurde jetzt die Rettung der Luftschiffer.

Durch die Einstülpung, welche der Ballon im abarischen Felde erfahren hatte, war der untere Teil des Ballons so in den oberen hineingetrieben worden, daß das Ventil zwischen den Falten zusammengepreßt lag und ein weiteres Ausströmen des Gases verhindert wurde. Freilich hätte auch dies nicht lange vorgehalten, aber der ganze Vorgang, von dem Augenblick, in welchem Grunthe die Reißleine ergriff, bis zum Zusammenklappen des Ballons und dann zum Abstellen des abarischen Feldes durch die Martier hatte nur wenige Minuten betragen.

Da es sich bei dem Niedergang des Ballons im abarischen Feld um einen herabsteigenden Körper handelte, hatten die Ingenieure der Insel die Regulierung der Bewegung zu besorgen. Sie konnten denselben zwar der eingetretenen Bewölkung wegen nicht sehen, aber ihre Instrumente zeigten ihnen genau die Stelle, an welcher er sich befand, und die Geschwindigkeit, mit welcher er fiel. Sie gaben nun im geeigneten Moment dem Feld eine so starke Gegenbeschleunigung, daß der Ballon in der Höhe von etwa dreitausend Meter über der Erde zur Ruhe kam, gerade in dem Augenblick, in welchem er die Wolkendecke durchbrochen hatte und der Beobachtung durch das Fernrohr zugänglich geworden war. Der Ballon war jetzt den gewöhnlichen Verhältnissen der Atmosphäre überlassen. Das abarische Feld wurde nun gänzlich abgestellt, so daß es sich in nichts von den übrigen Teilen der Atmosphäre unterschied. Allerdings hatte der Ballon so viel Gas verloren, daß er sich nicht in der Höhe halten konnte. Aber wenn die Luftschiffer noch am Leben waren, durften die Martier annehmen, daß sie durch Auswerfen von Ballast ihren Abstieg nunmehr verlangsamen und selbständig regulieren konnten.

Doch was sahen die Martier der Insel durch ihre Fernrohre? Der Ballon hatte sich allerdings über dem Korb wieder erhoben. Dieser selbst aber war gegen den Ring gepreßt und in das Gewirr der ihn tragenden Seile geraten und lag nun vollständig schief zur Seite. Das Schleppseil hing nicht herab, sondern hatte sich um den Ballon herumgeschlungen. Der Verschluß des Korbes war geöffnet. Ein großer Teil des Inhalts der Gondel schien dabei herausgestürzt. Die Last des Ballons war dadurch so stark erleichtert worden, daß die übriggebliebene Gasmenge, so gering sie auch war, sie doch noch zu tragen vermochte. Der Ballon sank nur ganz allmählich und wurde, da das abarische Feld außer Tätigkeit gesetzt war, vom Wind ergriffen. So trieb der Ballon von der Insel fort über das Binnenmeer hin, nahezu in der entgegengesetzten Richtung als in derjenigen, aus welcher die Luftfahrer gekommen waren.

Die Martier erkannten nun wohl, daß die Insassen des Ballons die Kontrolle über ihn verloren hatten. Was konnten sie aber zu ihrer Rettung tun? Sie hätten zwar durch Herstellung des abarischen Feldes bewirken können, daß sich der Ballon dem Zentrum wieder nähern mußte, doch sie wollten ihn ja gerade von der Insel entfernen. Denn sie durften durch diesen fremden Körper nicht länger ihren Verkehr mit der Ringstation stören lassen.

Während die Martier sich berieten, hatte der Ballon bereits die Insel überflogen und befand sich über dem Meer. Zugleich war er auf etwa zweitausend Meter gesunken. Würde er das gegenüberliegende Ufer erreichen? Würde er in das Meer stürzen? Oder würde er an der Felswand des steil abfallenden Ufers zerschellen? Das letzte schien das Wahrscheinlichste, wenn es nicht gelang, den Ballon entweder zu heben oder zu schnellem Sinken zu bringen.

In der halb umgestürzten Gondel des Ballons sah es wüst aus. Die Instrumente zum Teil zertrümmert, die Körbe und Kisten zerbrochen, Vorräte und Menschen in einem wirren Knäuel, nur durch das Netz der vielfach verschlungenen Stricke am Herausstürzen verhindert.

Von einem stechenden Schmerz im rechten Fuß erweckt, öffnete Grunthe die Augen. Er sah sich zu seinem Erstaunen am Rande des Korbes, der sich auf der einen Seite mit dem Ringe verfangen hatte, zwischen dem Geflecht desselben und einem der Anker des Ballons eingeklemmt. Dieser hatte ihn am Fuß verletzt. Schnell kam Grunthe wieder zu vollem Bewußtsein. Er konnte nur seinen Oberkörper und die Arme bewegen. Ein Blick auf den Zustand des Ballons ließ ihn befürchten, daß es unmöglich sein würde, die Höhe des Gebirges jenseits des Sees zu gewinnen. Unter ihm aber lag die Fläche des Meeres. Besorgt blickte er sich nach seinen Gefährten um. Torm vermochte er nirgends zu entdecken. Aber nun sah er, wie unter einem zerbrochenen Korb und einem Haufen von Decken sich etwas bewegte und ein Kopf mit dunkelbraunem, lockigem Haar zum Vorschein kam. Es war Saltner, der ebenfalls aus seiner Ohnmacht erwachte. Saltner, der keine Ahnung von dem Zustand des Ballons hatte, suchte sich aus seiner unbequemen Lage zu befreien. Grunthe aber erkannte, in welcher Gefahr der Reisegenosse schwebte. Jede weitere Bewegung konnte ihn aus dem Korbe herausschleudern und hinabstürzen lassen.

»Liegen Sie still«, rief er ihm zu, »verhalten Sie sich ganz ruhig – der Korb ist gekentert – halten Sie sich fest!«

»Sackerment«, brummte Saltner unter der Decke, »liegen Sie doch einmal still, wenn Sie auf einer zerbrochenen Champagnerflasche sitzen! Hätten wir nur das ganze Zeug gleich ausgetrunken und die leere Flasche hinausgeworfen!«

Dabei warf er sich mit einem Gewaltruck zur Seite, zugleich aber geriet er ins Rollen –

Grunthe stieß einen Schrei des Schreckens aus. Er sah den Gefährten am äußersten Rande der Gondel schweben – Saltner fuhr mit den Armen in die Luft, jedoch er fand keinen Halt – der Körper stürzte hinaus – seine Knie hingen in der Schlinge eines Seiles – in dieser furchtbaren Lage, den Kopf nach unten, schwebte Saltner mehr als tausend Meter über dem Spiegel des Polarmeeres.

In der Aufregung des Augenblicks wandte Grunthe, mit beiden Händen sich festhaltend, seinen Körper so gewaltsam, daß es ihm gelang, den Fuß unter dem Anker herauszureißen. Er achtete den Schmerz nicht; so schnell wie möglich, obwohl mit großer Vorsicht, kletterte er an den Tauen des Korbes nach Saltner hin. Er suchte nach einem Seil, das er ihm zuwerfen konnte, um ihn wieder in die Gondel zu ziehen. Aber wo war in diesem Gewirr von Stricken sogleich ein passendes Tau zu finden? Hier hing eine weite Schlinge herab. Er versetzte sie in Schwingungen, er zerrte daran, und jetzt gelang es ihm, das Tau bis in Saltners Nähe zu bringen.

Zum Glück hatte dieser keinen Augenblick seine Geistesgegenwart verloren. Als er das Tau im Bereich seiner Hände sah, griff er danach. Es gelang ihm sich festzuhalten, und nun versuchte er an dem Tau sich wieder zur Gondel emporzuarbeiten. Schon befand er sich wieder in aufrechter Stellung. Mit den Händen am Seil höher greifend, zog er seine Füße aus der Schlinge, in welcher er hängengeblieben war, und setzte sie auf den Rand des Korbes. Plötzlich entstand über ihm ein Rauschen und Krachen. Das Seil, an welchem er sich hielt, war ein Teil des über den Ballon gefallenen Schlepptaus. Es löste sich jetzt mit seinem freien Ende vom Ballon und glitt abwärts. Kaum hatte Saltner noch Zeit, sich an der Gondel festzuklammern, als das Seil in seiner ganzen Länge hinabsauste. Aber indem es über den Ballon hinwegglitt, verfing es sich mit der Reißleine und zog dieselbe mit voller Gewalt mit sich. Jetzt trat die Zerreißvorrichtung in Funktion. Die Ballonhülle klaffte auseinander. Das Gas strömte mit Zischen aus. Der Ballon drehte sich um seine Achse und begann mit rasender Geschwindigkeit zu fallen.

»Hinauf in den Ring«, rief Grunthe. »Wir müssen sehen, die Gondel abzuschneiden.«

»Aber wo ist Torm?« rief Saltner.

Sie riefen, sie schrieen, sie suchten – Torm war nicht zu finden. Dennoch war es möglich, daß er sich noch im Korb befand – sie durften diesen also nicht vom Ballon trennen, sie konnten ihn auch nicht länger durchsuchen –

»Den Fallschirm, den Fallschirm!« rief Grunthe wieder.

»Er ist fort!«

Der Ballon wirbelte abwärts –

Ein Schlag, ein Schäumen und Aufspritzen – das Meer schlug über der Gondel und ihren Insassen zusammen – –

Wie eine riesige Schildkröte schwamm die Hülle des Ballons, sich aufblähend, auf dem Wasser, die Expedition unter sich begrabend.

5. Kapitel

Auf der künstlichen Insel

Das milde Licht des Polartages schien durch die breiten Fenster eines hohen Gemaches, das im Stile der Marsbewohner ausgestattet war. An der Decke zogen sich eine große Anzahl metallischer Streifen entlang, die in ihrer Gesamtheit ein geschmackvolles Muster darstellten. In der Mitte schlossen sie sich zu einer Rosette zusammen, von welcher zahlreiche Drähte herabführten und in einem schrankartigen Aufsatz endigten. Dieser Aufsatz befand sich auf einem großen runden Tisch und trug an seiner Außenseite ringsum eine Reihe von Wirbeln oder Handgriffen; Aufschriften über ihnen bezeichneten ihre Bestimmung. Die den Fenstern gegenüberliegende Wand war zu beiden Seiten der breiten Mitteltür von geschnitzten Regalen bedeckt, die zur Aufbewahrung einer reichhaltigen Bibliothek dienten. Den darüber freibleibenden Raum schmückten Gemälde; sie stellten Ansichten vom Mars dar. Doch hätte man glauben mögen, durch eine Reihe von Öffnungen plastische Darstellungen, oder vielmehr die Natur selbst zu sehen. Denn die Abstufungen der Farben waren so intensiv, daß sie den Eindruck vollständiger Wirklichkeit machten. Da sah man in einer Landschaft die Reflexe der Sonnenstrahlen auf dem sumpfigen Boden wie leuchtende Sterne, und dennoch vermochte man in dem tiefen Schatten der riesigen Bäume die feinsten Nuancen deutlich zu unterscheiden. Über der Tür leuchtete die lebensgroße Büste Imms, des unsterblichen Philosophen der Martier, der ihnen die Lehre von der Numenheit enthüllt hatte.

Auf der Fensterseite blühten in Näpfen seltsame Gewächse. Am merkwürdigsten war darunter die tanzende Blüte ›Ro-Wa‹, eine lilienartige Pflanze, deren lange Blütenstengel sich schlangengleich hin- und herbewegten und mit ihren zierlichen Knospen fortwährend anmutige Bewegungen ausführten, indem sie zugleich ein leises Zwitschern wie von Vogelstimmen hören ließen. Zwischen den Blumentischen stand auf der einen Seite eine Schreibmaschine, auf der andern ein Apparat, der nichts anderes vorstellte als eine Maschine zur Ausführung schwieriger mathematischer Rechnungen.

Die Fenster reichten bis zum Boden des Zimmers. Dennoch schien es, als liefe an denselben etwa bis zur Höhe von einem Meter eine Bekleidung entlang. Aber seltsam, diese Bekleidung schimmerte in einem dunkeln Grün und wogte leise auf und ab; und mitunter leuchteten kleinere und größere Fische darin auf und stießen ihre Köpfe an die Scheiben. Es war das Meer, das bis zu Meterhöhe über den Boden des Zimmers hereinblickte. Denn jenes Zimmer befand sich auf der Außenseite der Insel, welche Torms verunglückte Expedition am Nordpol der Erde gesehen hatte.

Eine natürliche Insel war jedoch diese Anlage der Martier nicht. Sie hatten vielmehr in den Binnensee, der am Nordpol sich vorfand, eine künstliche Insel, richtiger ein schwimmendes Floß von großer Ausdehnung, hineingebaut, das ihr Feld von riesigen Elektromagneten zu tragen hatte. Denn diese Elektromagnete brauchten sie zur Balancierung ihrer Außenstation und dadurch zur Errichtung des abarischen Feldes. Auf der inneren Seite des ringförmig erbauten Riesenfloßes befanden sich die Arbeitsmaschinen und Apparate, während die Außenseite zu Wohnräumen diente sowie zum Stapelplatz aller der Vorräte und Werkzeuge, welche die Martier hier allmählich ansammelten, um die Eroberung der Erde vom Nordpol aus vorzubereiten.

Über die Treppe, die von dem Dach der Insel nach dem Korridor und den angrenzenden Wohnzimmern führte, stieg eine weibliche Gestalt herab. Auf das Geländer gestützt bewegte sie sich mühsam, wie durch eine schwere Last niedergebeugt. Sie zuckte schmerzlich zusammen, sooft ihr Fuß mit einem krampfhaften Aufschlag die nächst niedere Stufe berührte. Darauf durchschritt sie ebenso schwer und mühevoll den Korridor, indem sie sich gleichfalls mit den Händen an einem der Geländer unterstützte, die sich den Korridor entlangzogen. Jetzt berührte sie die Tür des Zimmers, die sich geräuschlos in sich selbst zusammenrollte, und trat ein. Die Tür schloß sich hinter ihr von selbst.

Mit einem Schlag war die Haltung der Gestalt verändert. Leicht und kräftig richtete sie sich empor. In einer anmutigen Bewegung warf sie den Kopf zurück und atmete einige Male tief auf. Sie glitt einige Schritte durch das Zimmer; nicht mehr gebeugt und mühsam, sondern wie schwebend durchmaß sie in graziöser Haltung den Raum und blickte auf dem Tisch nach dem Zifferblatt, das den Stand des Schweredrucks im Zimmer angab. Ein helles Aufleuchten ihrer großen, glänzenden Augen mochte ihre Zufriedenheit andeuten, denn sie korrigierte kaum merklich die Stellung des Handgriffs, durch den sie die im Zimmer herrschende Schwerkraft regulieren konnte. Eine Abzweigung des abarischen Feldes gestattete den Bewohnern der Insel, ihre Wohnräume den Schwereverhältnissen anzupassen, welche ihre Konstitution erforderte. Denn die Schwerkraft auf dem Mars beträgt nur ein Drittel von derjenigen auf der Erde.

Jetzt streifte sie mit einer leichten Bewegung die warme Hülle ab, die ihre Schultern bedeckte, und ohne sich umzublicken warf sie dieselbe, wo sie gerade stand, achtlos in die Höhe. Von ihrem Kopf löste sie die Kapotte, die sie draußen getragen hatte, und stieß sie ebenfalls ziellos in die Luft. An ihren Handschuhen drückte sie auf ein Knöpfchen und streckte dann ihre Hände mit gespreizten Fingern leicht in die Höhe, worauf sich die Handschuhe von selbst abstreiften und emporstiegen. Alle die nach oben geworfenen Gegenstände flogen von selbst einer Ecke des Zimmers zu, schlugen eine dort befindliche Klappe zurück und glitten hinter der Wand auf die ihnen bestimmten Plätze, während die Klappe sich wieder schloß. Sie waren sämtlich mit einem von den Martiern entdeckten Stoff gefüttert, der sich nach Art der Pflanzenfaser behandeln ließ, aber in äußerst kräftiger Weise, so wie das Eisen vom Magnet, von einem dazu eingerichteten Apparat angezogen wurde. Die anziehende Kraft trat in Tätigkeit, sobald der Schluß gelöst wurde, der die Gegenstände am Körper befestigte. Bei der im Zimmer herrschenden geringen Schwere genügte es, die Sachen einfach mit einem leichten Ruck nach oben zu werfen; die selbsttätige Garderobe besorgte das übrige. So war es den Martiern sehr leicht gemacht, ihre Sachen in Ordnung zu halten. Denn durch die Konstruktion der verschiedenen Öffnungen, welche die Garderobenstücke zu passieren hatten, während sie im Inneren des Garderobenschranks wieder herabfielen, wurden sie automatisch sortiert, gereinigt und in die ihnen bestimmten Fächer eingefügt, so daß sie sofort wieder zu bequemem Gebrauch bei der Hand waren.

Ohne sich um die abgelegten Kleidungsstücke weiter zu kümmern, näherte sich die Dame dem Bücherregal und zog eines der dort stehenden Bücher hervor, indem sie es an einem daran befindlichen Handgriff erfaßte. Sie begab sich damit nach dem Sofa und streckte sich in bequemer Lage hin.

La war die Tochter des Ingenieurs Fru, des Vorstehers der Außenstation. Hätte sie auf der Erde gelebt, so wäre ihre Lebenszeit auf mehr als vierzig Jahre zu berechnen gewesen. Als Bewohnerin des Mars aber, dessen Jahre doppelt so lang sind wie die der Erde, zählte sie erst einige zwanzig Sommer und stand in der Blüte ihrer Jugend. Ihr volles Haar, das sie in einen Knoten geschlungen trug, hatte eine auf Erden wohl nicht leicht zu findende Farbe, ein helles, etwas ins Rötliche schimmerndes Blond, einigermaßen der Teerose vergleichbar; in bezaubernder Zartheit erhob es sich wie eine Krone über dem weißen, reinen Teint ihres feingebildeten Antlitzes. Die großen Augen, die allen Martiern eigentümlich sind, wechselten je nach der Beleuchtung von einem lichten Braun bis zum tiefsten Schwarz. Denn entsprechend den starken Helligkeitsunterschieden, welche auf dem Mars herrschen, besitzen die Bewohner desselben ein sehr weitreichendes Akkomodationsvermögen, und bei schwachem Licht erweitern sich ihre dunklen Pupillen bis an den Rand der Augenlider. Das Mienenspiel gewinnt dadurch eine überraschende Lebhaftigkeit, und nichts pflegte die Menschen mehr an den Marsbewohnern, nachdem sie sie kennengelernt hatten, zu fesseln als der ausdrucksvolle Blick ihrer mächtigen Augen. In ihnen zeigte sich die gewaltige Überlegenheit des Geistes dieser einer höheren Kultur sich erfreuenden Wesen.

Wie eine leichte Wolke umhüllte ein faltenreicher weißer Schleier die ganze Gestalt und ließ nur den edel geformten Hals und den unteren Teil der Arme unbedeckt. Darunter aber schimmerten die Formen des Körpers wie in einen glänzenden Harnisch gekleidet; denn in der Tat bestand das eng anschließende Kleid aus einem metallischen Gewebe, das, obgleich es sich jeder Bewegung auf das bequemste anpaßte und dem leichtesten Drucke nachgab, doch einen Panzer von größter Widerstandsfähigkeit bildete.

Das Buch, welches La der Bibliothek entnommen hatte, besaß wie alle Bücher der Martier die Form einer großen Schiefertafel und wurde an einem Handgriff ähnlich wie ein Fächer gehalten, so daß die längere Seite der Tafel nach unten lag. Ein Druck mit dem Finger auf diesen Griff bewirkte, daß das Buch nach oben aufklappte, und auf jeden weiteren Druck legte sich Seite auf Seite von unten nach oben um. Man bedurfte auf diese Weise nur einer Hand, um das Buch zu halten, umzublättern und jede beliebige Seite festzulegen.

La schien es mit ihrem Studium nicht eilig zu haben. Sie hielt das Buch geschlossen in der nachlässig herabhängenden Hand und gab sich ihren Gedanken hin. Nach einiger Zeit begann sie die Lippen zu bewegen und Laute vor sich hin zu sagen, die ihr offenbar nicht geringe Mühe machten. Mitunter lachte sie leise vor sich hin, wenn ihr eines der ungewohnten Worte nicht über die Lippen wollte, oder es lief momentan ein Ausdruck der Ungeduld über ihre Züge. Sie repetierte ein Pensum, das sie für sich erlernt hatte. Aber nun blieb sie ganz stecken und sann eine Weile nach. Dann sagte sie für sich:

»Es ist doch ein närrisches Kauderwelsch, das diese Kalaleks sprechen!«

Jetzt erst erhob sie das Buch und ließ die Blätter mit großer Geschwindigkeit sich herumschlagen, bis sie die gewünschte Stelle gefunden hatte.

Das Buch enthielt eine Zusammenstellung alles dessen, was die Martier bisher über die Lebensweise und Sprache der Eskimos hatten in Erfahrung bringen können. Durch die Eskimofamilie, welche sie aufgefunden hatten und auf ihrer Station ernährten, war es ihnen gelungen, die Sprache der Eskimos zu erforschen. Ja sie kannten sogar von einer Anzahl Worte ihre Darstellung in lateinischer Druckschrift; denn der jüngere der beiden Eskimos hatte sich eine Zeitlang auf einer Missionsstation in Grönland aufgehalten und war im Besitz einer grönländischen Übersetzung des Neuen Testaments, in welcher er zu buchstabieren vermochte. La studierte Grammatik und Wörterbuch der Eskimos oder ›Kalalek‹.

Nachdem sie wieder eine Reihe von Worten und Redensarten vor sich hingesagt hatte, fiel ihr ein, ob sie wohl auch die richtige Aussprache getroffen habe. Die Prüfung war leicht; sie brauchte nur die Empfangsplatte des Grammophons auf die betreffende Stelle des Buches zu legen, um den Laut selbst zu hören; denn das Buch enthielt auch die Phonogramme der direkt vom Mund der Eskimos aufgenommenen Worte. Aber das Grammophon, welches die Phonogramme hörbar machte, befand sich in dem Schrankaufsatz des Tisches, und sie hätte sich zu diesem Zweck vom Sofa erheben müssen; das war ihr zu unbequem.

Ach, dachte sie, es ist doch eine zu ungeschickt eingerichtete Welt! Daß man noch nicht einmal so weit ist, daß der Selbstsprecher zu einem hergelaufen kommt!

Das Grammophon kam aber nicht. La blieb also liegen und begnügte sich, das Buch neben sich auf einem Tischchen zu deponieren.

Es ist wirklich recht überflüssig, spann sie ihren Gedankengang weiter, sich mit der Eskimosprache soviel Mühe zu geben. Diese Eskimos sind doch eine traurige Gesellschaft, und der Trangeruch ist unerträglich. Sicher ist die große Erde auch von Wesen feinerer Art bewohnt, die vermutlich eine ganz andere Sprache reden. Weiß doch sogar unser junger Kalalek mit Erstaunen von der Weisheit seiner frommen Väter zu erzählen, die ihm das Buch in der seltsamen Schrift gegeben haben. Wenn wir erst einmal Gelegenheit fänden, mit solchen Leuten zu verkehren, das möchte sich vielleicht eher lohnen. Was mag das für ein Luftballon gewesen sein, der heute über die Insel hinzog und dann in der Höhe verschwand? Da waren doch gewiß keine Eskimos darin. Was mag aus den Luftschiffern geworden sein?

La blickte empor. An der Wand war die Klappe des Fernsprechers mit leichtem Schlag niedergefallen.

»La, bist du da?« fragte eine weibliche Stimme in dem halblauten Ton der Martier.

»Hier bin ich«, antwortete La in ihrer tiefen, langsamen Sprechweise. »Bist du es, Se?«

»Ja, ich bin es. Hil läßt dich bitten, sogleich hinüber in das Gastzimmer Nummer 20 zu kommen.«

»Schon wieder hinaus in die Schwere. Was gibt es denn?«

»Etwas ganz Besonderes, du wirst es gleich sehen.«

»Müssen wir ins Freie?«

»Nein, du brauchst keinen Pelz. Aber komm gleich.«

»Nun gut denn, ich komme.«

Die Klappe des Fernsprechers schloß sich.

La erhob sich und glitt in ihrem schwebenden Gang der Tür zu. Sie öffnete sie mit einem leisen Seufzer, denn sie ging nicht gern über die Korridore, auf denen die Erdschwere herrschte, so daß sie nur gebückt einherschleichen konnte.

Aber sie war doch neugierig, was auf der Insel Besonderes passiert sein sollte. Waren neue Gäste vom Mars gekommen? Oder hatte sich der Ballon wieder gezeigt?

*

Als der zertrümmerte Ballon ins Meer stürzte, hatten die Martier der Insel bereits ihr Jagdboot bemannt, auf welchem sie das Polarbinnenmeer zu durchforschen pflegten. Eine von Akkumulatoren getriebene Schraube erteilte ihm eine außerordentliche Geschwindigkeit. Sechs Martier unter Führung des Ingenieurs Jo hatten in demselben Platz genommen; auch der Arzt der Station, Hil, befand sich dabei. Alle trugen die Köpfe in einer helmartigen Bedeckung, die ihnen sowohl ihre Bewegungen in der Luft erleichterte, als auch zugleich als Taucherhelm im Wasser diente. Die Helme waren nämlich aus einem diabarischen, das ist schwerelosen Stoff und hatten daher für ihre Träger kein Gewicht. Zugleich enthielten sie in ihrer Kuppel einen ziemlich bedeutenden luftleeren Raum, so daß sie eine, freilich nur geringe Zugkraft nach oben hin ausübten. Dennoch genügte dieselbe, wenigstens das Gewicht des Kopfes soweit zu mindern, daß die Muskeln des Nackens entlastet wurden und die Martier ihren Kopf fast ebenso frei wie auf dem Mars zu bewegen vermochten, wenn sie auch sonst von dem ihnen ungewohnten Körpergewicht bedrückt wurden. Eben deshalb trugen sie Taucheranzüge, um schwere Arbeiten möglichst in das Wasser zu verlegen. Denn hier nahm ihnen natürlich der Auftrieb des Wassers die Last ihres Körpergewichts ab.

Schnell näherte sich das Jagdboot dem Ballon, der von den Spuren des in ihm noch enthaltenen Wasserstoffes und der Luft, die sich unter ihm verfangen hatte, auf dem Wasser schwimmend erhalten wurde. Um zu dem von der Seide des Ballons bedeckten Korb zu gelangen, tauchten die Martier unter und drangen vom Wasser aus unter den Ballon. Sie fanden sogleich die beiden verunglückten Menschen und schafften sie eiligst in ihr Boot. Sodann lösten sie die Gondel von ihren Verbindungen und bargen ihren gesamten Inhalt ebenfalls an Bord. Alles übrige ließen sie vorläufig treiben, da es ihnen zunächst darauf ankam, die aufgefundenen Menschen in ihre Behausung zu bringen.

Saltner und Grunthe hatten außer der Verletzung, die sich letzterer bereits vor dem Absturz am Fuß zugezogen hatte, weiter keine Beschädigungen durch den Fall erlitten. Aber sie hatten sich nicht aus dem Wasser herausarbeiten können. Keiner gab ein Lebenszeichen von sich. Indessen begannen die Martier unter Leitung des Arztes sofort die eifrigsten Wiederbelebungsversuche, wie es schien ohne Erfolg.

»Da hätten wir nun«, sagte Jo, »endlich einmal ein paar wirkliche Bate, die keine Kalalek sind, ein paar zivilisierte Erdbewohner, und nun müssen die armen Kerle tot sein.«

»Wir wollen noch hoffen«, erwiderte einer der Martier. »Der Körper ist noch warm. Vielleicht haben die Bate ein zähes Leben.«

»Es wäre ein großes Glück«, begann Jo wieder, »wenn wir sie retten könnten. Es sind nicht bloß kühne Leute, es sind offenbar besonders hervorragende Männer ihres Volkes, sonst würden sie nicht zu diesem wunderbaren Unternehmen ausgewählt sein.«

»Ich wußte gar nicht«, sagte ein andrer, »daß die Bate Luftschiffe haben.«

»Derartige Ballons sind schon mehrfach beobachtet worden«, erwiderte Jo, »aber man wußte nicht sicher, wozu sie dienen, wenigstens nicht, daß sich die Bate damit selbst in die Luft erheben. Ich habe immer geglaubt, sie ließen dadurch nur irgendwelche Lasten über die Erde heben oder ziehen. Gleichviel, für uns kommt alles darauf an, daß wir durch die Leute nähere Nachrichten von den kultivierten Gegenden der Erde erhalten. Alle unsere Pläne würden alsdann wesentlich gefördert werden. Hil, versuchen Sie Ihre ganze Kunst.«

Der Arzt antwortete nicht. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Bemühungen, die Atmung der Ertrunkenen wieder in Tätigkeit zu setzen.

Endlich richtete er sich auf.

»Geben Sie vollen Strom!« rief er Jo zu. »Es ist eine leise Hoffnung da, aber hier im Freien bringen wir sie nicht durch. Wir müssen in einer Minute im Laboratorium sein.«

Das Boot sauste durch die Flut. In zehn Sekunden war die Insel erreicht. Es schoß durch die Einfahrt bis in den inneren Hafen. Im Augenblick darauf waren die Verunglückten aufgehoben und in die Krankenabteilung gebracht. Es war keine leichte Arbeit, denn jeder der beiden Männer hatte für die Martier, in Rücksicht auf ihre Fähigkeit, Lasten zu heben, ein Gewicht, das für uns einem solchen von fünf Zentnern entspricht. Sie hätten zwar ihre Kräne benutzen können, aber dies hätte zu lange gedauert. Und es kam auch nur darauf an, die Verunglückten bis über die Schwelle der Tür zu heben. Dann trat die Wirkung des abarischen Feldes in Kraft, und der Transport hatte keine Schwierigkeiten mehr.

Hil begann sofort die Behandlung mit allen Hilfsmitteln der martischen Heilkunst. Er hatte bereits einige Erfahrung aus dem Studium der Eskimos gewonnen und daraus die Unterschiede in der Funktion der Organe bei Menschen und bei Marsbewohnern kennengelernt, die übrigens keineswegs so bedeutend sind, wie man meinen mochte. Dem durchdringenden Scharfblick des Martiers genügten die Schlüsse, die er aus der gewonnenen Erfahrung ziehen konnte, um das Richtige zu treffen.

Die Bewohner der Insel, soweit sie nicht gerade mit einer dringenden Arbeit beschäftigt waren, hatten sich inzwischen aufs Lebhafteste für die aufgefundenen Menschen interessiert. Im Vorraum des Krankenzimmers war ein fortwährendes Kommen, Gehen und Fragen, die Klappen der Fernsprechverbindungen hoben und senkten sich, aber noch immer konnte man nichts Bestimmtes erfahren.

Endlich, nach einer halben Stunde angestrengter Tätigkeit, brach Hil sein Schweigen. Er wandte sich zu dem Direktor der Station, Ra, der neben ihm stehend aufmerksam die merkwürdigen, wie tot daliegenden Wesen betrachtete, und sagte:

»Sie werden leben.«

»Ah!«

»Aber es ist fraglich, ob wir sie hier zum Bewußtsein bringen. Wir müssen sie in Verhältnisse schaffen, die ihren Lebensgewohnheiten entsprechen. Vor allem dürfen wir ihnen die Schwere nicht entziehen, und ich glaube, auch die Temperatur des Zimmers muß höher sein.«

»Gut«, antwortete Ra, »wir haben ja Gastzimmer genug, wir können sie an der Außenseite, bei unseren Wohnungen unterbringen. Ich werde sofort das Nötige anordnen.«

Sobald Ra in den Vorraum trat und den hoffnungsvollen Ausspruch des Arztes mitteilte, pflanzte sich die Nachricht durch die ganze Insel hin fort. Die Bate, die keine Eskimos sind, waren der Mittelpunkt aller Gespräche, obgleich erst die wenigsten Martier sie überhaupt gesehen hatten. Daß übrigens jemand, der bei der Pflege nichts zu tun hatte, neugierig hätte eindringen wollen, konnte bei dem feinen Taktgefühl der Martier selbstverständlich nicht vorkommen.

Die beiden Geretteten wurden getrennt in geeigneten Räumen untergebracht und vollständiger Ruhe überlassen.

Stundenlang lagen sie in tiefem Schlaf.

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