6. Kapitel

In der Pflege der Fee

Saltner schlug die Augen auf.

Was er da über sich sah, war es das Netzwerk des Ballons? Diese regelmäßigen, goldglänzenden Arabesken auf dem lichtblauen Grund? Nein, der Ballon war es nicht – der Himmel sieht auch nicht so aus – doch – was war denn geschehen? Er war ja ins Wasser gestürzt. Sieht es unten auf dem Meer so aus? Aber im Wasser ist man tot oder – er wendete den Kopf, doch die Augen fielen ihm wieder zu. Er wollte nachdenken, doch die Fragen waren ihm zu schwer, er fühlte sich so matt – – jetzt bemerkte er, daß er einen Gegenstand zwischen den Lippen hielt, ein Röhrchen. – War es noch immer das Mundstück des Sauerstoffapparats? Nein. – Ein seltsamer Duft umwehte ihn – instinktiv sog er an dem Rohr, denn er empfand einen brennenden Durst. Ach, wie das wohltat! Ein kühler erquickender Trank! Wein war es nicht – Milch auch nicht –, gleichviel, es mundete – war es vielleicht Nektar? Seine Sinne verwirrten sich wieder. Aber der Trank wirkte wunderbar. Neues Leben rann durch seine Adern. Er konnte die Augen wieder öffnen. Aber was erblickte er? Also war er doch im Wasser?

Über ihm, höher als sein Kopf, rauschten die Wogen des Meeres. Aber sie drangen nicht bis zu ihm heran. Eine durchsichtige Wand trennte sie von ihm, hielt sie zurück. Der Schaum spritzte an ihr empor, das Licht brach sich in den Wellen. Dennoch konnte er den Himmel nicht sehen, ein Sonnendach mochte ihn abblenden. Hin und wieder stieß ein Fisch dumpf gegen die Scheiben. Vergeblich versuchte sich Saltner seine Lage zu erklären. Er glaubte zunächst, sich auf einem Schiff zu befinden, obwohl es ihn wunderte, daß sich im Zimmer nicht die geringste Bewegung spüren ließ. Aber nun blickte er etwas mehr zur Seite. War es denn nicht mehr Tag? Das Zimmer war doch von Tageslicht erhellt, aber dort links sah er direkt in dunkle Nacht. Ein ihm unbekanntes Bauwerk in einem nie gesehenen Stil lag im Mondschein vor ihm. Er blickte auf das Dach desselben, das von den Wipfeln seltsamer Bäume begrenzt wurde. Und wie merkwürdig die Schatten waren –! Saltner versuchte sich vorzubeugen, den Kopf zu heben. Da standen wirklich zwei Monde am Himmel, deren Strahlen sich kreuzten. Auf der Erde gab es etwas Derartiges nicht. Ein Gemälde konnte doch aber nicht so starke Lichtunterschiede zeigen – es müßte denn ein transparentes Bild sein –

Auf das leise Geräusch, welches seine Bewegung verursachte, schob sich auf einmal die Landschaft zur Seite. Eine Gestalt lehnte in einem Sessel und sah Saltner mit großen, leuchtenden Augen an. Einen Augenblick starrte er verwirrt auf diese neue Erscheinung. Noch nie glaubte er ein so herrliches Frauenantlitz gesehen zu haben. Schnell wollte er sich erheben, und nun erst warf er einen Blick auf seinen eignen Körper. Man hatte ihn während seiner Bewußtlosigkeit offenbar gebadet und mit frischer Leibwäsche versehen. Er fand sich in einen weiten Schlafrock von einem ihm unbekannten Stoff gehüllt.

Jetzt streckte die Gestalt eine Hand aus und drehte an einem der Knöpfe, die sich neben ihr auf einem Tisch befanden. in demselben Augenblick durchlief Saltner ein Gefühl, als wollte man ihn plötzlich in die Höhe heben. Die Hand, deren Stellung er verändern wollte, fuhr ein ganzes Stück höher, als er sie zu heben beabsichtigte. Mit Leichtigkeit richtete er seinen Oberkörper empor, aber bei dem Ruck flogen auch seine Beine in die Luft, und mit einer überraschenden Geschwindigkeit führte er einige unbeabsichtigte turnerische Übungen aus, bis es ihm gelang, sich in sitzender Stellung auf seinem Lager zu balancieren.

Zugleich hatte sich auch die weibliche Gestalt erhoben und schwebte auf ihn zu. Ein herzgewinnendes Lächeln lag auf ihren Zügen, und aus den wunderbaren Augen sprach die innigste Teilnahme.

Saltner wollte aufstehen, bemerkte aber schon beim ersten Anziehen seines Fußes, daß er Gefahr lief, in eine unbestimmte Höhe zu schnellen. Eine leichte Handbewegung der vor ihm stehenden Gestalt bedeutete ihm, seinen Sitz wieder einzunehmen. Nun endlich fand er die Sprache wieder in gewohnter Lebhaftigkeit.

»Wie Sie befehlen«, sagte er. »Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie ebenfalls Platz nehmen wollten und mir gütigst andeuten, wo ich mich eigentlich befinde.«

Bei seinen Worten ließ die Gestalt ein leises, silbernes Lachen vernehmen.

»Er spricht, er spricht!« rief sie in der Sprache der Martier. »Es ist zu lustig!«

»Fafagolik?« versuchte Saltner die fremden Laute wiederzugeben. »Was ist das für eine Sprache oder was für eine Gegend?«

Die Martierin lachte wieder und betrachtete ihn dabei vergnüglich, wie man ein merkwürdiges Tier abwartend anschaut.

Saltner wiederholte seine Frage französisch, englisch, italienisch und sogar lateinisch. Damit war sein Sprachschatz erschöpft. Da ihn die Fremde offenbar nicht verstand und er noch immer keine Antwort erhielt, sagte er wieder auf deutsch:

»Die Gnädige scheint mich nicht zu verstehen, aber ich will mich doch wenigstens vorstellen. Mein Name ist Saltner, Josef Saltner, Naturforscher, Maler, Photograph und Mitglied der Tormschen Polarexpedition, augenblicklich verunglückt und, wie mir scheint, mehr oder weniger gerettet. Eigentlich ist dabei gar nichts zu lachen, meine Gnädige, oder was Sie sonst sind.«

Darauf zeigte er mehrere Male mit dem Finger auf sich selbst und sagte deutlich: »Saltner! Saltner!« Sodann zeigte er mit der Hand rings auf seine Umgebung und zuletzt auf die schöne Martierin.

Diese ging sogleich auf seine Gebärdensprache ein. Sie bewegte die Hand langsam auf sich zu und sagte ihren Namen: »Se.«

Darauf deutete sie auf Saltner und wiederholte deutlich seinen Namen. Und noch einmal wiederholte sie mit den entsprechenden Gesten:

»Se! Saltner!«

»Se, Se?« sagte Saltner fragend. »Das ist also Ihr werter Name. Oder meinen Sie vielleicht, da draußen sei die See? Verstehen Sie vielleicht doch ein wenig Deutsch? Wo befinden wir uns denn hier?«

Auf seine fragende Handbewegung zeigte Se nach dem Meer, das vor den bis zum Fußboden reichenden Fenstern wogte, und nannte das Wort, das in der Sprache der Martier Meer bedeutet. Darauf zog sie an einem Handgriff, und anstelle des Meeres erschien die Landschaft, welche Saltner bewundert hatte. Er sah jetzt, daß dieselbe auf einen Wandschirm gemalt war, den Se soeben vor das Fenster geschoben hatte. Sie zeigte auf die Landschaft und sagte »Nu.« Das bedeutet ›Mars‹, aber Saltner war freilich mit diesem Wort nicht gedient.

Se ging nun weiter in das Zimmer zurück, das der Wandschirm bisher seinen Blicken verhüllt hatte, und suchte nach einem Gegenstand, den sie nicht sogleich zu finden schien. Saltner folgte ihr mit den Augen. Er glaubte noch nie etwas Anmutigeres gesehen zu haben, etwas Wunderbareres jedenfalls noch nicht.

Ein rosiger Schleier umhüllte den größten Teil der Gestalt, ließ jedoch hier und da den metallischen Schimmer des Unterkleides durchblicken. Die Haare kräuselten sich über dem Nacken in beweglichen Löckchen, die als Grundfarbe ein lichtes Braun zeigten, aber bei jeder Bewegung irisierten wie das Farbenspiel auf einer Seifenblase. Alle Bewegungen ihres Körpers glichen dem leichten Schweben eines Engels, der von der Schwere des Stoffes unabhängig ist. Und sobald der Kopf an eine dunklere Stelle des Zimmers geriet, leuchtete das Haar phosphoreszierend und umgab das Gesicht wie ein Heiligenschein.

Plötzlich unterbrach sie ihr Suchen und rief:

»Wie bin ich doch zerstreut! Das hat ja alles noch Zeit. Der arme Bat hat gewiß Hunger, daran hätte ich zunächst denken sollen. Wart, mein armer Bat, ich will dir gleich etwas braten.«

Sie trat an den Tisch im Hintergrund des Zimmers und machte sich an dem Schrankaufsatz und verschiedenen Handgriffen zu schaffen. Dann war sie wieder neben ihm und sagte mit einem unnachahmlichen Ton, der ihn entzückte: »Saltner«, indem sie die nicht mißzuverstehenden Pantomimen des Essens machte.

»Glänzender Gedanke, holdselige Se«, rief Saltner, indem er die Pantomime wiederholte.

Auf einen Handgriff Ses, Saltner wußte nicht wie, stand auf einmal ein Tischchen vor seinem Lager, und Se setzte ihm eine Speise vor, die sie soeben bereitet hatte. Er untersuchte nicht lange, was es sei, zerbrach sich nicht den Kopf über die merkwürdigen Formen der ihm gereichten Instrumente, sondern gebrauchte sie, unbekümmert um Ses Lächeln, als Löffel, und tat dann einen langen Zug aus dem Mundstück eines mit Flüssigkeit gefällten Gefäßes. Sein Hunger war, wie er jetzt erst merkte, so groß, daß er selbst Ses Anwesenheit und seine ganze Umgebung momentan vergessen hatte. Erst nachdem der erste Reiz gestillt war, hörte er wieder aufmerksam auf Ses Erklärungen, die ihm die einzelnen Gegenstände in ihrer Sprache benannte, und es gelang ihm bald, einige Worte zu behalten.

Als er sein Mahl beendet hatte, betrachtete ihn Se wieder mit zufriedener Miene. Wie man ein Schoßhündchen streichelt, glitt sie mit der Hand über sein Haar und sagte:

»Der arme Bat war hungrig, nun wird er wieder gesund werden. War es gut, Saltner?«

Saltner verstand freilich ihre Worte nicht, aber den Sinn fühlte er deutlich heraus. Er kam sich auch etwas gedemütigt vor, denn er merkte wohl, daß ihn Se nicht als ein gleichberechtigtes Wesen behandelte. Aber wie sie seinen Namen aussprach, wie sie ihn mit den Augen ansah, die bis ins Innerste der Seele hineinzuleuchten schienen, konnte er nicht anders, als ihr mit den herzlichsten Worten danken. Und auch Se verstand den Dank, ohne die Worte zu kennen, die er sprach. Lächelnd sagte sie in ihrer Sprache:

»Saltner gefällt mir, er ist nicht wie ein Kalalek.«

Saltner hatte das Wort Kalalek verstanden, das die Eskimos den Martiern als die Bezeichnung ihres Stammes genannt hatten.

»Nein«, rief er entschieden, »meine schöne Se, ein Eskimo bin ich nicht, ich bin ein Deutscher, kein Eskimo – Deutscher!«

Und er begleitete die Worte mit so entschiedenen Gesten, daß Se ihren Sinn sofort verstand.

Sie eilte zu dem Bücherregal an der Zimmerwand – denn Bücher gehören bei den Martiern zur unentbehrlichen Ausstattung jedes Zimmers, eher würde man die Fenster entbehren als die Bibliothek – und holte einen Atlas herbei.

Inzwischen bestürmte Saltner seine Pflegerin mit Fragen nach dem Schicksal seiner Gefährten, ohne sich genügend verständlich machen zu können. Se kümmerte sich zunächst nicht um seine Worte und Gebärden, sondern hielt den Atlas an seinem Griff Saltner vor die Augen und ließ die Blätter desselben sich rasch umschlagen. Sein Erstaunen über diese Mechanik wurde aber übertroffen, als sie in ihrem Umblättern stillhielt und den Griff des Buches in einem Gestell auf dem Tischchen vor ihm befestigte. Er erkannte sofort die Karte der Gegenden um den Nordpol der Erde wieder, die er in dem Riesenmaßstab der Insel vom Ballon aus bewundert hatte.

Se zeigte mit ihrem schlanken, zierlichen Finger, an dem ihm die große Beweglichkeit der einzelnen Glieder auffiel, auf Grönland und die nächsten Landmassen um den Pol; dazu sagte sie wiederholt: »Kalalek, Bat Kalalek.« Dann zeigte sie auf Saltner, ergriff seine Hand und führte sie über die andern Teile des Kartenbildes, indem sie dabei fragte: »Bat Saltner?«

Saltner suchte auf der Karte die Gegend von Deutschland, die allerdings perspektivisch schon stark verkürzt erschien, und machte ihr durch Zeichen begreiflich, daß hier seine Heimat sei. Da er aus dem öfter gehörten Wort ›Bat‹ schloß, daß dies wohl soviel wie Mensch oder Volksstamm bedeute, so zeigte er auf den Pol und fragte dazu:

»Bat Se?«

Se antwortete mit einer lebhaft abwehrenden Bewegung. Sie legte die ganze Hand auf die Karte und sagte: »Bat.« Dann zeigte sie auf sich selbst und sprach mit Selbstbewußtsein: »Se, Nume.«

Und als Saltner sie fragend anblickte, wies sie mit ausgestrecktem Arm nach einer bestimmten Stelle des Bodens und wiederholte noch einmal: »Nume.« Wie sie so dastand, leuchteten ihre Augen in verklärtem Glanz, und Saltner konnte nicht zweifeln, daß er ein höheres Wesen vor sich habe. Aber sogleich neigte sie sich wieder mit liebenswürdigem Lächeln zu ihm und ließ einige Blätter des Atlas zurückschlagen. Es zeigte sich eine Gruppe geometrischer Figuren, in denen Saltner ohne Schwierigkeit einen Aufriß der Planetenbahnen im Sonnensystem erkannte. Se wies auf den Mittelpunkt und sagte: »O.«

»Sonne«, antwortete Saltner, indem er zugleich nach der Richtung hinzeigte, in welcher die Sonnenstrahlen auf der Oberfläche des Meeres spielten.

Se nickte befriedigt, beschrieb dann mit ihrem Finger auf der Karte die Erdbahn und wiederholte den Namen der Erde: »Ba«, und, auf Saltner weisend: »Bat!« Dann aber wieder mit dem ganzen Stolz der Martier den Namen ›Nume‹ aussprechend, bezeichnete sie auf der Karte die Bahn des Mars und sagte mit einem hoheitsvollen Blick auf Saltner: »Nu.«

»Der Mars!« Es kam fast tonlos von Saltners Lippen. Er merkte, wie sich alle seine Begriffe zu verwirren drohten. Hilflos sah er zu Se empor, die kaum seine Aufregung bemerkt hatte, als sie ihm schon bedeutete, sich niederzulegen. Zwar wollte er trotz der Mattigkeit, die er jetzt an sich spürte, aufspringen, um seine Wißbegierde weiter zu befriedigen, aber ein Blick, der keinen Widerstand zuließ, bannte ihn auf sein Lager.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Zimmers, und in derselben erschien zusammengebeugt und schleppend, auf zwei Stäbe gestützt, die Gestalt des Arztes Hil. Kaum aber hatte Hil das Zimmer betreten, als er sich in voller Höhe aufrichtete, die Stäbe fortwarf und schnell auf das Lager zuschnitt. Er ergriff sofort Saltners Hand, und während er den Puls beobachtete, sagte er mit leichtem Vorwurf:

»Aber Se Se, was machen Sie mir für Geschichten. Stellen Sie nur gleich die Abarie ab. Unser Bat muß seine richtige Erdschwere haben, sonst geht er uns ein, ehe wir ihn wieder kräftig sehn.«

»Seien Sie nur nicht böse, Hil Hil«, lachte Se, »ich habe ihn ja so schön gepflegt und gefüttert – sehen Sie die Schüssel – 150 Gramm Eiweiß, 240 Gramm Fett und –«

Hil sah nach der Federwaage, die sich unter jedem Speisegerät der Martier befand und sofort konstatierte, wieviel Nahrungsstoffe man auf dieselbe gelegt oder dem Körper zugeführt hatte.

»Aber Sie haben die Schwere abgestellt, davon stand nichts in Ihrer Instruktion.«

»Ja, Hil Hil, Sie können doch nicht verlangen, daß ich im Zimmer herumkriechen soll, wenn er wach ist.«

»Ach so, die liebe Eitelkeit!«

»Oh, vor dem Bat! Aber als er aufwachte, mußte ich doch schnell hin, und dann mußte ich die Pastete backen, und – ja, wenn Sie wüßten: Er heißt Saltner und ist kein Kalalek, sondern ein – ja, das Wort habe ich vergessen, doch ich zeige Ihnen auf der Karte die Gegend.«

»Erst lassen Sie es schwer werden – aber halt, noch einen Augenblick, ich will mir zuvor einen Stuhl holen – so –«

»Und ich will mich auch erst setzen«, sagte Se.

Als beide Platz genommen hatten, griff Se an einen Wirbel, und Saltner sah, wie Se und Hil sichtlich in ihren Sesseln zusammensanken und ihre gelegentlichen Bewegungen mühsam und schwerfällig wurden. Er aber merkte, wie das eigentümliche Gefühl des Schwindels, das ihn beherrscht hatte, verschwand, seine Gliedmaßen konnte er wieder normal dirigieren, und er legte sich behaglich auf sein Lager zurück.

Der Arzt sah ihn mit seinen großen, sprechenden Augen wohlwollend an.

»Also man ist wieder lebendig?« sagte er, was Saltner freilich nicht verstand. Dann fügte er in der Sprache der Eskimos hinzu: »Versteht ihr vielleicht diese Sprache?«

Saltner erriet die Frage und schüttelte den Kopf. Dagegen sagte er nunmehr selbst in der Sprache der Martier, was er von Se gelernt hatte:

»Trinken – Wein – Bat gut Wein trinken –«

Se brach in ihr feines, silbernes Lachen aus, und Hil sagte belustigt: »Sie haben ja ausgezeichnete Fortschritte gemacht – nun werden wir uns wohl bald unterhalten können.«

Dabei wies er auf das neben Saltner stehende Trinkgefäß hin, und dieser bediente sich desselben mit Erfolg zu neuer Stärkung.

Das Schicksal seiner Gefährten lag ihm am schwersten auf der Seele. Er versuchte noch einmal, darüber Erkundigungen einzuziehen, indem er einen Finger aufhob und dazu sagte: »Bat Saltner.« Dann erhob er drei Finger und suchte durch weitere Zeichen verständlich zu machen, daß drei ›Bate‹ mit dem Ballon angekommen und herabgestürzt seien.

Hil, der zum ersten Mal einen Europäer sah, hatte seine Aufmerksamkeit mehr auf den ganzen Menschen als auf sein Anliegen gerichtet, und blickte jetzt fragend zu Se hinüber, als sich Saltner mit der von Se gehörten Anrede ›Hil Hil‹ direkt an ihn wendete.

Se erklärte:

»Er meint, daß drei Bate angekommen und in das Meer gestürzt sind. Wir haben aber doch nur zwei gefunden?«

»Allerdings«, sagte Hil, »und dem andern geht es auch besser. Der Fuß ist nicht schlimm verletzt und wird in einigen Tagen geheilt sein. Ich habe mich durch La ablösen lassen, um einmal hier nach dem Rechten zu sehen. Ich glaube übrigens, daß er bei Bewußtsein ist, er hat wiederholt die Augen geöffnet, doch ohne zu sprechen. Hoffentlich hat er keine schwere Erschütterung davongetragen. Wir wollen ihn nicht anreden, um ihn nicht vorzeitig aufzuregen. Wollen Sie nicht einmal hinübergehen?«

»Recht gern, aber wer bleibt bei Saltner?«

»Der muß jetzt schlafen. Und dann müssen wir überhaupt eine andere Einrichtung treffen. Wir bringen sie beide zusammen in ein Zimmer, und zwar in das große. Aus der einen Seite lasse ich die abarische Verbindung entfernen, desgleichen in den beiden Nebenräumen. Dort werden ihre Betten und alle ihre Geräte hingebracht, so daß sie in ihren gewohnten Verhältnissen leben können. Und wir können uns dann bei ihnen aufhalten und sie studieren, ohne fortwährend unter diesem Druck umherkriechen zu müssen, indem wir uns in dem andern Teil des Zimmers die Schwere erleichtern.«

»Schön«, sagte Se, »aber ehe Sie meinen armen Bat einschläfern, will ich noch einmal mit ihm verhandeln.«

Sie wandte sich zu Saltner und machte ihm so gut wie möglich begreiflich, daß noch einer seiner Gefährten gerettet sei und daß er ihn bald sehen solle. Dann brachte sie auf geschickte Weise in Erfahrung, wie jener heiße, und ließ sich einige deutsche Worte so lange vorsagen, bis sie sich dieselben eingeprägt hatte. Während sie Saltner aus ihren großen Augen lächelnd ansah, streckte Hil die Hand gegen sein Gesicht aus und bewegte sie einige Male hin und her. Saltner fielen die Augen zu. Noch war es ihm, als wenn zwei strahlende Sonnen vor ihm leuchteten, dann wußte er nicht mehr, ob dies zwei Augen seien oder die Monde des Mars, und bald lag er in traumlosem Schlaf.

7. Kapitel

Neue Rätsel

Grunthe erwachte aus seiner Bewußtlosigkeit in einem Zimmer, das ganz ähnlich eingerichtet war wie dasjenige, in welches man Saltner gebracht hatte. Denn es gehörte zu derselben Reihe von Gastzimmern, die für den vorübergehenden Aufenthalt von Martiern auf der Erdstation bestimmt waren. Auch er konnte von seinem Lager aus nichts erblicken als die großen Fensterscheiben, hinter denen das Meer wogte, und den Wandschirm, der den übrigen Teil des Zimmers verbarg. Dieser Schirm war ebenfalls mit einer Nachtlandschaft des Mars verziert, welche beide Monde des Mars zeigte – ein bei den Malern des Mars sehr beliebter Lichteffekt. Hier aber befanden sich außerdem im Vordergrund zwei Figuren, von denen die eine nach einem besonders hell leuchtenden Stern hinwies, während eine zweite das stark vergrößerte Bild jenes Sternes beobachtete, wie es von einem Projektionsapparat auf einer Tafel entworfen erschien.

Grunthe suchte seine Gedanken zu sammeln. Er lag sorgfältig gebettet und in einem Schlafgewand, das nicht das seinige war, in einem erwärmten Zimmer. Seinen Fuß, der ihn übrigens nicht schmerzte, konnte er nicht bewegen; dieser befand sich in einem festen Verband. Er fühlte sich matt, aber vollständig bei Sinnen und ohne merkliche Beschwerden. Kopf und Arme, bis zu einem gewissen Grad auch den Oberkörper, konnte er willkürlich bewegen. Er war also nach seinem Sturz ins Wasser gerettet worden. Wo aber befand er sich, und wer waren die Retter?

Die anfängliche Täuschung, daß er an der Stelle, wo der Schirm stand, in eine wirkliche Nachtlandschaft sehe, konnte bei ihm nicht lange anhalten, da diese Figuren enthielt, welche sich nicht bewegten. Er hatte also ein Bild vor sich. Demnach war das Meer, wie er auch aus der Farbe und Art der Beleuchtung schloß, wohl nichts anderes als das Polarmeer, in welches der Ballon gestürzt war, er befand sich auf der Insel, und seine Retter waren die Bewohner dieser Insel. Wer waren sie, und was hatte er von ihnen zu erwarten? Darauf konzentrierten sich alle seine Gedanken.

Er bewegte seine Arme, er beobachtete seine Atmung, seinen Puls, er hörte das Rauschen des Meeres – alle Erscheinungen der Natur waren unverändert, er war auf der Erde, und doch konnten die Wesen, die hier wohnten, keine Menschen sein. Der Stoff seines Gewandes, seiner Decke, seines Lagers war ihm vollständig unbekannt, daraus konnte er keinen Schluß ziehen. Aber das Bild! Was stellte das Bild vor? War es nicht möglich, daraus zu erkennen, in wessen Gewalt er sich befand?

Die beiden Gestalten auf dem Bild waren, wie es schien, menschlicher Art. Die stehende Figur, welche nach dem Stern hinwies, sah nicht anders aus als eine ideale Frauengestalt mit auffallend großen Augen; um ihren Kopf spielte ein seltsamer Lichtschimmer – sollte dies eine symbolische Figur mit einem Heiligenschein sein? Die Gewandung – soweit überhaupt von solcher die Rede war – ließ keine Schlüsse zu, sie konnte ja einer Laune des Künstlers entsprungen sein. Die sitzende Gestalt, welche das Bild des Sternes beobachtete und dem Beschauer den Rücken zuwandte, schien einen enganliegenden metallenen Panzer zu tragen; in der Hand hielt sie einen Grunthe unbekannten Gegenstand. Sollten diese beiden Figuren Vertreter der Bewohner der Polinsel sein? Aber die Landschaft selbst war keine Landschaft der Erde. Also wohl eine Erinnerung an die Heimat, aus welcher die Polbewohner stammten? Und wenn es so war – diese beiden Monde –, sie konnten keiner andern Welt angehören als dem Mars.

Bewohner des Mars haben den Pol besiedelt! Der Gedanke war Grunthe schon einmal aufgestiegen, als er zuerst vom Ballon aus die Insel mit ihren Vorrichtungen und dem merkwürdigen Kartenbild der Erde betrachtet hatte. Er hatte ihn als zu phantastisch zurückgedrängt, er wollte nichts mit so unwahrscheinlichen Hypothesen zu tun haben, so lange er noch auf eine andere Erklärung hoffen konnte. Doch als der Ballon von jener unerklärlichen Kraft in die Höhe gerissen wurde, mußte er wieder an diese Hypothese denken. Und jetzt, die merkwürdige Rettung, die seltsamen Stoffe, das Bild! Was war das für ein Stern, der auf diesem Bild beobachtet wurde? Er strengte seine scharfen Augen an, um die Abbildung auf der Tafel zu erkennen. Eine hell beleuchtete schmale Sichel, der übrige Teil der Scheibe in einem matten Schimmer – und diese dunklen Flecke, die weißen Kappen an den Polen – kein Zweifel, das war die Erde, wie sie vom Mars aus bei starker Vergrößerung erschien, die schmale Sichel im Sonnenschein, das übrige schwach vom Mondlicht erhellt. – Grunthe konnte sich nicht länger der Ansicht verschließen, daß er bei den Marsbewohnern sich befinde – ein Gast, ein Gefangener – wer konnte es wissen?

Wie konnten Marsbewohner auf die Erde kommen? Grunthe wußte die Frage nicht zu beantworten. Nahm man aber die Tatsache einmal als gegeben, so erklärten sich die andern Erscheinungen sehr leicht, der Wunderbau der Insel, die Beeinflussung des Ballons, die Rettung, die Einrichtung des Zimmers – die Hypothese der Marsbewohner war doch wohl die einfachste –

Und auf einmal zuckte Grunthe zusammen – eine Erinnerung wurde ihm plötzlich lebendig –, seine Lippen schlossen sich fest aufeinander, und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine tiefe senkrechte Falte – Er spannte sein Gedächtnis aufs äußerste an –

Ell, Ell!, sagte er bei sich. – Was war es doch, was ihm Ell gesagt hatte, ehe er die Reise antrat? Friedrich Ell, der Freund Torms, lebte als Privatgelehrter in Friedau seinen Studien, aber er war der eigentliche geistige und der pekuniäre Urheber der Expedition, die Seele der internationalen Vereinigung für Polarforschung. Mit ihm hatte er oft über die Möglichkeit disputiert, wie die Bewohner des Mars mit der Erde in Verbindung treten könnten. Und Ell hatte immer gesagt: Wenn sie kommen, so haben wir sie am Nordpol oder am Südpol zu erwarten. Man springt auf einen Eisenbahnzug nicht, wo er in Fahrt ist, sondern wo er steht. Wer weiß, was Sie am Pol finden! Grüßen Sie mir die – – ja, das Wort hatte er vergessen. Er hatte kein Gewicht darauf gelegt. Man wußte nicht immer bei Ell, ob er scherze oder im Ernst spräche. »Grüßen Sie mir die –« Es fiel ihm nicht ein. Aber wohl erinnerte er sich, wie Ell eines Abends sehr erregt geworden war, als man von den Bewohnern des Mars wie von Fabelwesen gesprochen hatte. Er hatte dann das Gespräch plötzlich abgebrochen.

Grunthe wurde aus seinem Nachsinnen gerissen. Hinter dem Bild der Marslandschaft wurden Stimmen laut. Was war das für eine Sprache? Grunthe kannte sie nicht, er verstand kein Wort.

Hinter dem Schirm hatte, von Grunthe unbemerkt, La gesessen. Es war ihr sehr unbequem, unter dem Druck der irdischen Schwerkraft auszuhalten, und sie hatte sich deshalb unbeweglich auf ihr Sofa gestreckt. Jetzt kam Se schwerfällig herbei und ließ sich ebenfalls nieder.

»Wie geht's dem Bat?« fragte sie.

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte La, »ich habe noch nicht gehört, daß er sich bemerklich gemacht hätte, und unter diesem Druck kannst du nicht verlangen, daß ich zu ihm hingehe.«

»So machen wir es leicht!« rief Se und streckte die Hand nach dem Griff des abarischen Apparates aus.

»Aber Hil hat es verboten«, erwiderte La. »Es könnte schädlich wirken.«

»Ach, ich habe es drüben auch so gemacht, auf kurze Zeit tut es dem Bat nichts. Hast du ihn denn schon gefüttert?«

»Nein, wie konnte ich?«

»Und doch ist es nötig, meint auch Hil. Und so lange müssen wir mindestens uns frei bewegen können. Also, auf meine Verantwortung.«

Se stellte den Apparat auf die normale Marsschwere ein. Die beiden Damen erhoben sich und atmeten erleichtert auf.

In demselben Augenblick wollte Grunthe eine Bewegung ausführen, aber sein Arm fuhr plötzlich viel höher, als er beabsichtigt hatte. Sogleich probierte er die Bewegung noch einmal und konstatierte, daß alle seine Gliedmaßen sowie die Decke seines Bettes viel leichter geworden waren. Er suchte nach einem Gegenstand, den er in die Höhe werfen wollte, um das wunderbare Phänomen zu studieren. Da er jetzt trotz des Verbandes an seinem Fuß den Oberkörper leicht aufrichten konnte, erblickte er auf einem Wandbrett über seinem Lager einige Gegenstände, die ihm gehörten; man hatte sie offenbar in seinen Taschen gefunden. Er ergriff sein Taschenmesser, hielt es so hoch wie möglich über den Boden und ließ es fallen. Er konnte den Fall bequem mit den Augen verfolgen; es dauerte eine Sekunde, ehe das Messer den Boden erreichte. Grunthe schätzte die Höhe und sagte sich: Die Schwerkraft ist geringer geworden, und zwar beträgt sie nur etwa ein Drittel soviel wie gewöhnlich. Das ist die Schwere auf dem Mars. Und wieder mußte er an Ell denken, der so oft gesagt hatte: »Von der Schwere frei werden, heißt das Weltall beherrschen.«

Auf das leichte Geräusch, welches das Auffallen des Messers erzeugte, hatte Se den Wandschirm beiseite geschoben und war mit La auf Grunthe zugetreten. Dieser hatte seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf den Schirm gerichtet und schrak daher mit einer Bewegung der Überraschung zusammen, als er plötzlich die beiden schönen Martierinnen vor sich sah. Kaum hatte er erkannt, daß sich zwei lebendige weibliche Gestalten ihm näherten, so legte er sich mit eisiger Miene zurück und heftete die Augen starr an die Decke. Da er La und Se nicht anzusehen wagte, konnte er nicht bemerken, mit welch freundlichen und teilnahmsvollen Blicken sie ihn betrachteten. Nur an dem Ton der Stimmen, mit welchem sie in ihrer Sprache einige Worte an ihn richteten, erkannte er die gute Gesinnung. La zupfte ihm die Decke zurecht, Se aber beugte sich über ihn und sah mit ihrem leuchtenden Blick tief in seine Augen. Diese Damengesellschaft war ihm schrecklich; lieber hätte er sich von feindlichen Wilden umgeben gesehen. Ach, und nun fühlte er eine weiche Hand auf seinem Kopf, Se streichelte sein Haar – unwillig stieß er die Hand zurück.

»Armer Mensch«, sagte Se, »er scheint noch ganz verwirrt. Wir müssen ihm vor allen Dingen zu trinken geben.« Sie legte die Hand wieder auf seine Stirn und sagte: »Fürchte dich nicht, wir tun dir nichts, armer Mensch.«

»Ko bat«, so lautete das letzte Wort Ses in ihrer Sprache, »Ko bat« – es wirkte überraschend auf Grunthe –, das war einer der seltsamen Ausdrücke Friedrich Ells. So pflegte Ell zu sagen, wenn er mit einer seiner wunderlichen Ansichten nicht durchdringen konnte, wenn er sein Mitleid mit dem Mangel an Verständnis bei den Menschen bezeichnen wollte. Oft hatte ihn Grunthe gefragt, wo diese Redensart herstammen wie er dazu käme. Dann hatte Ell immer nur still gelächelt und wiederholt: »Ko bate, das versteht ihr nicht, arme Menschen!« Diese Erinnerungen waren mit dem Wort in Grunthe wieder aufgetaucht. Er verhielt sich jetzt ganz ruhig.

Inzwischen hatte La ein Trinkgefäß herbeigeholt, mit dem wunderbaren Nektar der Martier gefüllt. Die Martier tranken stets durch einen mit Mundstück versehenen Schlauch, der in dem Gefäß befestigt war, und dieses Mundstück versuchte La jetzt Grunthe zwischen die Lippen zu schieben. Aber das war vergebliches Bemühen, Grunthe hielt sie fest geschlossen und wandte sein Gesicht zur Seite.

»Die Bate sind aber unliebenswürdige Geschöpfe«, sagte La lachend.

»Oh«, entgegnete Se, »Saltner war ganz anders, der redete gleich!« Grunthe hatte den Namen erfaßt, jetzt öffnete er zum ersten Mal die Lippen.

»Saltner?« fragte er, ohne jedoch Se anzublicken.

»Ach«, sagte Se, »siehst du, er kann hören und sprechen. Nun paß auf, nun werde ich einmal mit ihm reden.«

Sie schlug den Arm freundschaftlich um Las Schulter und stellte sich nahe an das Lager. Dann sagte sie mit großer Anstrengung ihres Sprachorgans die von Saltner gelernten deutschen Worte: »Saltner deutsch Freund trinken Wein, Grunthe trinken Wein, deutsch Freund.«

Grunthe warf jetzt einen erstaunten Blick auf die deutsch redende Martierin, während La über die Worte, die ihr furchtbar komisch vorkamen, kaum ihr Lachen verbergen konnte. Auch Grunthe war im Begriff zu lächeln, als er aber die beiden verführerischen Gestalten so nahe vor sich erblickte, starrte er sofort wieder an die Decke, antwortete jedoch in höflichem Ton:

»Wenn ich recht verstehe, so ist auch mein Freund Saltner gerettet. Sagen Sie, bitte, wo ich hier bin.«

»Trinken Wein, Grunthe«, wiederholte Se dringend, und La hielt ihm das Mundstück vor das Gesicht.

Grunthe nahm jetzt die dargebotene Erfrischung. Und bald fühlte er sich durch das Getränk aufs angenehmste erquickt und belebt. Er bedankte sich und richtete noch einige Fragen an Se, aber ihre Sprachkenntnisse waren nunmehr erschöpft. Grunthe sah ein, daß er die Gebärdensprache zu Hilfe nehmen müsse, und so mußte er sich wohl oder übel entschließen, die beiden Martierinnen anzusehen. Er deutete auf sie hin, dann auf das Bild, und sagte auf gut Glück: »Mars? Mars?«

Das Wort hatte Se behalten. Sie wiederholte es bejahend: »Mars, Nu!« Und auf La und sich hinweisend sagte sie, hochaufgerichtet: »La, Se, Nume!«

Nume! Das war's! Das war das Wort, das Ell ihm gesagt hatte: Grüßen Sie die Nume!

Nume also nannten sich die Martier, und Ell hatte das gewußt – – das gab Grunthe soviel zu denken, daß er momentan seine Umgebung vergaß. Um in seinem Nachdenken nicht gestört zu werden, schloß er die Augen, und sein Gesicht nahm wieder den starren Ausdruck an.

Se wollte ihn fragen, ob er essen wolle, aber das deutsche Wort, das sie sich von Saltner hatte sagen lassen, war ihr entfallen. Da Grunthe hartnäckig die Augen geschlossen hielt, begab sie sich in den Hintergrund des Zimmers, um eine Mahlzeit zu bereiten. Denn dies geschah in jedem Zimmer sehr einfach und schnell durch die elektrische Küche. La zog es indessen vor, sich einen Sessel herbeizuziehen und neben dem Lager Platz zu nehmen. Sie musterte aufmerksam die Gegenstände, welche man bei Grunthe gefunden hatte, und spielte mit einem kleinen Buch, das sich unter denselben befand. Es war eine Anweisung zum Verkehr in der Eskimosprache und zeigte als Titelvignette einen fein ausgeführten Holzschnitt, einen Eskimo in seinem Kajak auf wildbewegtem Meer dem Fischfang abliegend.

»Oh, sieh!« rief sie Se zu, »hier ist ein Kalalek in seinem Kajak.« Die beiden Eskimoworte schlugen verständlich an Grunthes Ohr und weckten ihn aus seinem verworrenen Hinbrüten. Sollten die Martier vielleicht das Grönländische erlernt haben? Er sagte sich, daß dies ja leicht möglich sei. Er selbst hatte sich zum Zweck der Reise das Notwendigste für den Verkehr angeeignet und fragte daher:

»Ich spreche einige Worte der Eskimos. Verstehen Sie mich?«

Se wußte nicht, was er meinte. La aber hatte schon seit einiger Zeit ihre Studien auf die Sprache der einzigen Menschen gerichtet, die den Martiern bisher begegnet waren. Sie verstand ihn und antwortete:

»Ich verstehe ein wenig.«

»Wo sind meine Freunde?« fragte Grunthe.

»Es ist nur einer da. Er ist in einem andern Zimmer.«

»Kann ich zu ihm?«

»Er schläft, aber man wird Sie dann zusammenbringen.«

»Wie kommen Sie vom Nu auf die Erde?«

La wußte die Antwort nicht auszudrücken. Sie fragte dagegen:

»Was wollt ihr hier?«

Grunthe wußte nun seinerseits nicht, wie er den Begriff ›Nordpol‹ im Grönländischen wiedergeben sollte. Er wollte sich in dem Büchlein Rats erholen und sagte:

»Geben Sie mir das Buch.«

»Was?« fragte La.

Grunthe richtete sich auf, um das Buch, das sie in der Hand hielt, zu erfassen. Aber er hatte im Augenblick nicht an die veränderten Schwereverhältnisse gedacht, und so kam es, daß sein ganzer Oberkörper bis zu Las Platz hinüberschnellte. Er wäre aus dem Bett gestürzt, wenn nicht La ihn rasch am Arm gefaßt und gehalten hätte. Diese Berührung war nun für Grunthe höchst peinlich, er wollte sich ihr entziehen, aber da er noch gar nicht verstand, seine Glieder unter den veränderten Umständen zu gebrauchen, und außerdem durch seinen Fuß behindert war, geschah es, daß er nach der andern Seite zu fallen drohte und ihn La ganz mit ihren Armen umfassen mußte. Sie legte ihn sanft auf das Lager zurück, während er ihr teerosenfarbiges Haar dicht vor seinen Augen flimmern sah. Ein Schwindel drohte ihn zu erfassen.

Se kam mit dem Speisegerät herangeschwebt.

»Was macht ihr denn?« rief sie lachend. »Ich höre, daß ihr euch so eifrig unterhaltet, ohne daß ich verstehen kann, was ihr redet, und auf einmal –«

»Ja«, lachte La ebenfalls, »es war zu komisch, was der arme Bat für Sprünge machte!«

»Ach«, sagte Se, »das scheint mir eine gefährliche Geschichte! Erst wagt er dich nicht anzusehen, und wie ich den Rücken wende, macht er dir auf grönländisch eine Liebeserklärung.«

»Daran bist du schuld, du hast die Schwere abgestellt. Wenn ihm der Schreck nur nicht schlecht bekommt – was wird Hil sagen!«

Grunthe lag wieder regungslos. Sein allerdings ganz unverschuldetes Ungeschick ärgerte ihn schwer, die Berührung mit der schönen La war ihm entsetzlich, zudem bewirkte die Abnahme der Schwere jetzt ein körperliches Übelbefinden.

Aber La bat ihn so freundlich in der Eskimosprache, doch zu essen, und Se bot ihm die einen verlockenden Duft entwickelnden Speisen mit einem so gebietenden Blick, daß er seinen Hunger zu stillen wagte.

Mit größter Vorsicht richtete er sich auf und genoß einiges von den Speisen, von denen er keine Ahnung hatte, was sie vorstellten. Sobald er sich dankend zurücklehnte, schob Se das Speisetischchen zur Seite, und La sagte:

»Leben Sie wohl, Grunthe, schlafen Sie.«

Sie schwebte zum Zimmer hinaus, und Se zog den Wandschirm vor, so daß Grunthe wieder sich selbst überlassen blieb. Der Kopf schwirrte ihm von allem, was um ihn herum vorgegangen war, neue Fragen drängten sich auf, und er wollte sich eben noch einmal aufrichten; da ergriff ihn plötzlich ein Gefühl, als würde er mit Gewalt gegen sein Lager gedrückt. Se hatte die Erdschwere wieder hergestellt. Jetzt schoben sich dichte Vorhänge vor die Fenster, und Grunthe lag im Dunkeln. Eine leise Musik wie aus weiter Ferne ließ sich hören und mischte sich melodisch mit dem Rauschen des Meeres.

Grunthe versuchte vergebens, seine Gedanken zu konzentrieren. Sie bewegten sich um die Frage, wie es lebenden Wesen möglich sein könne, den luftleeren Weltraum zu durchfliegen. Wie hatten Martier auf die Erde kommen können? Aber nur in unbestimmten Vermutungen irrten seine Vorstellungen umher, und ehe er zu irgendeiner Klarheit in dieser Frage gelangte, lösten sich seine Gedanken in undeutliche Traumbilder auf. Grunthe entschlummerte.

8. Kapitel

Die Herren des Weltraums

»Dreifach panzerten Mut und Kraft
Dem das eiserne Herz, der sich zuerst gewagt
Im gebrechlichen Boot hinaus
Auf das tückische Meer...«

So pries einst Horaz die Kühnheit des Seefahrers, der dem fremden Element sein unsicheres Fahrzeug anvertraute... Aber unbedenklich besteigt der Tourist den luxuriösen Bau des Riesendampfers, um in wenigen Tagen die wohlbekannte Ozeanstraße zu durchmessen.

Ähnlich rühmte ein Dichter des Mars den Mut und den Scharfsinn jenes Martiers Ar, der es einst gewagt, auf den Wegen des Lichts und der kosmischen Schwere in die Leere des Raumes seinen unvollkommenen Apparat zu werfen, um zum ersten Male den Flug zu versuchen durch den Weltäther nach dem leuchtenden Nachbarstern, der strahlenden ›Ba‹, dem Schmuck der Marsnächte, der jahrtausendlangen Sehnsucht aller ›Nume‹. Jetzt aber kannte man auf dem Mars genau die Mittel, welche die Marsbewohner, die sich selbst ›Nume‹ nannten, anwenden mußten, die einzelnen Umstände, auf die sie zu achten hatten, um je nach der Stellung der Planeten die strahlende Ba, das ist die Erde, zu erreichen. Wohl war eine Reise zwischen Mars und Erde noch immer ein zeitraubendes und kostspieliges Unternehmen, aber es hatte seinen ebenso sicheren und bequemen Gang wie etwa heutzutage für einen Menschen eine Reise um die Erde.

Die Erforschung der Erde, die Entdeckung des intraplanetaren Weges nach derselben und die endliche Besitzergreifung vom Nordpol bildet ein umfangreiches und wichtiges Kapitel in der Kulturgeschichte der Martier.

Die Durchsichtigkeit der Atmosphäre auf dem Mars hatte seine Bewohner frühzeitig zu vorzüglichen Astronomen gemacht. Mathematik und Naturwissenschaft waren zu einer Höhe der Entwicklung gelangt, die uns Menschen als ein fernes Ideal vorschwebt. Je mehr der alternde Mars durch seinen verhältnismäßig geringen Wasservorrat die Existenzbedingungen der Martier erschwerte, um so großartiger waren die Anstrengungen gewesen, durch welche die Martier die Technik der Naturbeherrschung ausbildeten. Immer neue Kräfte und Hilfsmittel wußten sie ihrem Planeten zu entlocken, der sich freilich durch die Eigentümlichkeit seines Baues in noch viel höherem Maß zur Erziehung eines Kulturvolkes eignete als die Erde.

Der Tag auf dem Mars hat fast dieselbe Dauer wie auf der Erde, er ist nur vierzig Minuten länger. Das Jahr des Mars dagegen umfaßt 670 Mars-, das sind 687 Erdentage, ist also fast doppelt so lang als ein Erdenjahr. Die gesamte Oberfläche des Mars beträgt etwa nur ein Viertel von derjenigen der Erde. Die südliche Halbkugel des Mars ist die wasserreichere und daher am stärksten bevölkert; sie enthält auch die beiden einzigen Meere, welche der Mars besitzt, wenn man darunter diejenigen Becken versteht, welche das ganze Jahr hindurch mit Wasser erfüllt sind. Die nördliche Halbkugel besteht zum größten Teil aus unfruchtbaren Wüsten. Aber die Bevölkerung des Mars, der die von der Natur genügend bewässerte Region ihres Planeten längst zu klein geworden, wußte der kargen Natur neue Gebiete des Anbaus abzugewinnen. Sie durchzog das gesamte Wüstengebiet mit einem vielverzweigten Netz geradliniger breiter Kanäle und verteilte auf diese Weise zur Zeit der Schneeschmelze, im Beginn des Sommers einer jeden Halbkugel, das Wasser, welches sich in Gestalt von Schnee an den Polen angehäuft hatte, über den ganzen Planeten. Wie die Ägypter das Anwachsen des Nils benutzten, um der Wüste den fruchtbaren Boden des Niltals abzugewinnen, so tränkten die Marsbewohner durch ihre Kanäle beide Ufer derselben. Schnell schoß hier eine üppige Vegetation auf, und so wurde durch das Kanalnetz das ganze Wüstengebiet mit fruchtbaren, an hundert Kilometer breiten Vegetationsstreifen durchzogen, die eine ununterbrochene Kette blühender Ansiedlungen der Martier enthielten. Wenn hier die dunkelgrünen Blätter der Pflanzen mit einem Schlag hervorsproßten, dann hoben sich diese Streifen dunkel von dem rötlichen Wüstenboden ab, und die Astronomen der Erde wunderten sich, woher dieses regelmäßige Netz von Streifen auf dem Mars wohl stammen möchte. Die Riesenarbeit der Bewässerung des Planeten war eine Notwendigkeit für die Martier geworden, nachdem die in der Kultur vorgeschritteneren Bewohner der Südhalbkugel allmählich den ganzen Planeten ihrer Herrschaft unterworfen hatten. Die einzelnen Völkerschaften bildeten einen großen Staatenbund. Wie auf der Erde der Weltverkehr sich durch internationale Verträge regelte, ohne daß die Selbständigkeit der einzelnen politischen Verbände darunter litt, so hatte die vorgeschrittenere Zivilisation der Martier in ihrer internationalen Vereinigung ein Zentralorgan, das unbeschadet der Freiheit der Einzelgemeinden alle Angelegenheiten regulierte, welche für die Bewohner des ganzen Planeten ein gemeinsames Interesse besaßen.

Nachdem die Oberfläche des Planeten vollständig erforscht und besiedelt war, richtete sich die Aufmerksamkeit der Martier naturgemäß stärker wie je über die Grenzen ihres Wohnplatzes hinaus auf ihre Nachbarn im Sonnensystem. Und was konnte sie hier mächtiger fesseln als die strahlende Ba, die sagenumwobene Erde, die bald als Morgen-, bald als Abendstern alle andern Sterne ihres dunklen Himmels überstrahlt?

Die Ruhe und Durchsichtigkeit der Atmosphäre gestattete ihnen, bei ihren Fernrohren Vergrößerungen zu benutzen, wie sie auf der Erde unmöglich waren. Denn auf der Erde vereitelt die stets ungleichmäßig bewegte Luft, daß wir Instrumente von so starken Vergrößerungen praktisch anzuwenden vermöchten, als wir sie wohl theoretisch und technisch konstruieren könnten. Der Druck der Atmosphäre auf dem Mars ist aber so gering, wie wir ihn nur auf den allerhöchsten Berggipfeln der Erde besitzen, und die über der Marsoberfläche lastende Luftschicht ist dementsprechend dünner und durchsichtiger. Die Astronomen des Mars konnten daher, bei günstiger Stellung der Planeten gegeneinander, die Erde ihrem Auge so nahe bringen, als wäre sie nur gegen zehntausend Kilometer weit entfernt, und vermochten somit noch Gegenstände von zwei bis drei Kilometer Ausdehnung zu erkennen. Unter diesen Umständen hatten sie natürlich bemerkt, daß sich auf der Erde Einrichtungen finden, die nur als das Werk intelligenter Wesen zu erklären seien. Auch durchschauten sie viel zu klar den Bau und die Natur der Erde sowie die Analogien im gesamten Sonnensystem, als daß sie nicht die Überzeugung von der Bewohnbarkeit der Erde und einer gewissen Kultur der Erdbewohner gehabt hätten. Die Karte der Erde selbst war ihnen in umfassenderer Weise bekannt als uns Menschen; denn von ihrem Standpunkt aus konnten sie nach und nach alle jene Gebiete der Erdkugel, insbesondere die Polargegenden, durchmustern, die bisher unseren irdischen Forschungen verschlossen geblieben sind.

Es hatte nicht an Versuchen der Martier gefehlt, sich mit den von ihnen vermuteten Erdbewohnern in Verbindung zu setzen. Aber die gegebenen Zeichen waren wohl nicht bemerkt oder nicht verstanden worden. Jedenfalls mochten die Erdbewohner nicht in der Lage sein, darauf zu antworten. Die Erde war ein sehr viel jüngerer Planet und in ihrer ganzen Entwicklung auf einer Stufe, wie sie der Mars schon vor Millionen Jahren durchlaufen hatte. Da sagten sich die Marsbewohner selbstverständlich, daß die Bate, wie sie die hypothetischen Bewohner der Erde nannten, jedenfalls auf einem viel niedrigeren Standpunkt der Kultur ständen als sie, die Nume; ja wer weiß, ob sie sich überhaupt schon bis zur Höhe der ›Numenheit‹, zur Vernunftidee der Martier, erhoben haben!

Um jene Zeit, als man auf der Erde von einem Jahrhundert der Naturwissenschaft zu sprechen anfing, blickten die Martier längst nicht nur auf das Zeitalter des Dampfes, sondern auch auf das Zeitalter der Elektrizität wie auf ein altes Kulturerbe zurück. Damals vollendete sich bei ihnen eine wissenschaftliche Entdeckung, die eine Umgestaltung aller Verhältnisse nach sich zu ziehen geeignet war. Die Enthüllung des Geheimnisses der Gravitation war es, die einen ungeahnten Umschwung der Technik herbeiführte und die Martier zu Herren des Sonnensystems machte.

Die Gravitation ist jene Kraft, welche die Bewegungen der Gestirne im Weltraum beherrscht. Sie verbindet die Sonne mit den Planeten, die Planeten mit ihren Monden, sie hält die Gegenstände an der Oberfläche der Weltkörper fest und bewirkt, daß diese als dauernde einheitliche Gruppen im Universum bestehen; sie läßt den geworfenen Stein wieder zur Erde fallen und die Gewässer nach dem Meer hin sich sammeln. Sie ist eine allgemeine Eigenschaft der Körper, welche von ihrer gegenseitigen Lage im Raum abhängt; die Arbeit, welche ein Körper infolge der Gravitation zu leisten vermag, nennt man daher Raumenergie.

Wenn es gelänge, einem Körper diese eigentümliche Form der Energie zu entziehen, die er infolge seiner Lage zu den übrigen Körpern, insbesondere zu den Planeten und der Sonne besitzt, wenn es gelänge, seine Gravitation in eine andere Energieform überzuführen, so würde man diesen Körper dadurch unabhängig von der Schwerkraft machen; die Schwerkraft würde durch ihn hindurch oder um ihn herumgehen, ohne ihn zu beeinflussen; er würde ›diabarisch‹ werden. Er würde ebensowenig von der Sonne angezogen werden wie ein Stück Holz vom Magneten. Dann aber müßte es ja auch gelingen, den Körper dem Einfluß der Planeten und der Sonne soweit zu entziehen, daß man ihn im Weltraum frei bewegen könnte; dann also müßte es gelingen, den Weg von einem Planeten zum andern, von dem Mars zur Erde zu finden.

Dies war den Martiern gelungen. Sie vermochten Körper von gewisser Zusammensetzung herzustellen, so daß jede auf sie treffende Schwerewirkung spurlos an ihnen und an den von ihnen umschlossenen Körpern vorüberging – das heißt spurlos als Schwere. Die Gravitationsenergie wurde in andere Energieformen umgewandelt. Solche Körper können wir ›diabarisch‹ nennen.

Zwei Umstände hatten es den Martiern erleichtert, dem Geheimnis der Gravitation auf die Spur zu kommen. Der eine lag darin, daß die Schwerkraft auf ihrem Planeten nur ein Drittel von demjenigen Werte beträgt, den sie auf der Erde besitzt. Eine Last, die auf der Erde tausend Kilogramm wiegt, hat, auf den Mars gebracht, nur ein Gewicht von 376 Kilogramm; ein freifallender Körper, der bei uns in der ersten Sekunde 5 Meter herabfällt, fällt auf dem Mars in dieser Zeit nur um 1,8 Meter und kommt mit der sanften Geschwindigkeit von 3,6, statt bei uns mit fast 10 Meter, an. Infolgedessen war es den Martiern erleichtert, alle Eigentümlichkeiten der Schwere bequemer und genauer zu studieren.

Der zweite Umstand war ein geographischer, oder, wie wir beim Mars sagen müßten, ein areographischer, nämlich die Zugänglichkeit der Pole des Mars. Während auf der Erde die Pole mit ihrer ewigen Eisdecke des Besuches sich erwehren, sind die Marspole nicht vergletschert. Zwar bedecken sie sich im Winter mit einer dichten Schneehülle, die aber doch viel geringer ist als auf der Erde, weil die Atmosphäre des Mars viel weniger Feuchtigkeit enthält. Außerdem dauert der Sommer fast ein volles Erdenjahr, währenddessen der Pol in fortwährendem Sonnenschein liegt, so daß der Schnee zum größten Teil fortschmilzt. Die Pole des Mars sind daher den Marsbewohnern nicht nur bekannt, sondern sie haben gerade auf ihnen ihre bedeutendsten wissenschaftlichen Stationen angelegt. Denn die Pole eines Planeten sind ausgezeichnete Punkte, sie unterliegen nicht der Umdrehung um die Achse im Verlauf eines Tages, und sie bieten dadurch Gelegenheit zu Beobachtungen, die sich an keiner anderen Stelle so einfach anstellen lassen.

Gerade nun für die Untersuchung der Schwerkraft zeigte sich dies von größter Wichtigkeit. Ihre Wirkungen im Kosmos zu studieren, das heißt ihre Wechselwirkung mit andern kosmischen Kräften, mußte man sich von der Rotation des Planeten um seine Achse und allen dadurch entstehenden Komplikationen unabhängig machen. Dies konnte nur am Pol geschehen. Vom Pol gingen denn auch die Untersuchungen der Martier aus.

Die Martier hatten entdeckt, daß die Gravitation, ebenso wie das Licht, die Wärme, die Elektrizität, sich in Form einer Wellenbewegung durch den Weltraum und die Körper fortpflanzt. Während aber die Geschwindigkeit der strahlenden Energie, die wir als Licht, Wärme und Elektrizität beobachten, 300 000 Kilometer in der Sekunde beträgt, ist diejenige der Gravitation eine millionenmal größere. Nach den Berechnungen der Martier durchläuft die Gravitation den Raum mit einer Geschwindigkeit von 300 000 Millionen Kilometern pro Sekunde, sie verhält sich also zu derjenigen des Lichts etwa so wie die des Lichts zur Geschwindigkeit des Schalls. Den Weg von der Sonne bis zur Erde legt somit die Wirkung der Schwere in einem halben Tausendteil einer Sekunde zurück; kein Wunder, daß es den Astronomen der Erde nicht gelungen war, die von ihnen allerdings vermutete endliche Geschwindigkeit der Gravitation zu konstatieren.

Einen Körper, der die Lichtwellen nicht durch sich hindurchgehen läßt, nennen wir undurchsichtig; ließe er sie vollständig hindurchgehen, so würde er absolut durchsichtig sein, wir würden ihn so wenig sehen wie die Luft. Ein Körper, der die Wärmewellen durch sich hindurchgehen läßt, bleibt kalt; er muß sie in sich aufnehmen, sie absorbieren, um sich zu erwärmen. So ist es nun, wie die Martier entdeckten, auch mit der Gravitation. Die Körper sind darum schwer, weil sie die Gravitationswellen absorbieren. Körper ziehen sich nur dann gegenseitig an, wenn sie die von ihnen wechselseitig ausgehenden Gravitationswellen nicht durch sich hindurchtreten lassen. Sobald aber ein Körper so beschaffen ist, daß er die Gravitationswellen eines Planeten oder der Sonne nicht aufnimmt, sondern frei durchläßt, so wird er nicht angezogen, er hat keine Schwere, er ist diabar, schweredurchlässig, und dadurch schwerelos.

Die Martier hatte gefunden, daß das Stellit, ein auf ihrem Planeten vorkommender Körper, sich so verändern läßt, daß die Schwerewellen hindurchtreten können. Und mit diesem Augenblick wurde dieser Körper vom Mars wie von der Sonne nicht mehr angezogen. Allerdings ließ es sich nicht erreichen, absolut schwerelose Körper herzustellen, wie es ja auch keine absolut durchsichtigen Körper gibt; wohl aber ließ sich die Schwere so vermindern, daß sie nur kaum merklich auf den diabaren Körper wirkt. Indem man die Schwerelosigkeit verstärkte oder verminderte, konnte man nun, wenn einmal der Körper eine bestimmte Geschwindigkeit besaß, durch passende Benutzung der Anziehung der Planeten und der Sonne die Bahn des Körpers im Weltraum regulieren – vorausgesetzt, daß man sich in einem solchen diabaren Körper befand, in einer Kugel aus Stellit.

Dieses Wagestück, einen Apparat herzustellen, in welchem ein Mensch sich in den Weltraum schleudern lassen konnte, um dann durch Regelung der Anziehung, welche die Weltkörper auf ihn ausübten, seinen Weg zu lenken, das hatte zuerst der Martier Ar unternommen. Aber man hatte ihn nie wiedergesehen. War er in die Fixsternwelt jenseits des Sonnensystems hinausgeflogen? War er in die Sonne gestürzt? Umkreiste sein Raumschiff die Sonne oder irgendeinen Planeten als ein neuer Trabant? Niemand wußte es.

Aber andere kühne Forscher ließen sich nicht zurückschrecken. Sie hatten jetzt die theoretische Möglichkeit des interplanetaren Verkehrs eingesehen, es war jetzt keine Tollkühnheit mehr, sich dem Raum anzuvertrauen, sondern eine dringende Aufgabe der Kultur und somit eine sittliche Forderung, eine Pflicht der ›Numenheit‹. Die größte Schwierigkeit lag nur darin, die Geschwindigkeit unschädlich zu machen, welche der Planet in seiner eigenen Bahn besaß und die sich natürlich auf das schwerelose Raumschiff übertrug, sobald es den Mars verließ. Man reiste von einem der Pole ab, um von der Rotation des Planeten unabhängig zu sein, aber die Geschwindigkeit des Mars in seiner Bahn beträgt 24 Kilometer in der Sekunde, und mit dieser flog man hinaus in den Raum, fort von der Sonne in der Richtung der Tangente der Marsbahn. Es kam dann darauf an, sich der Sonnenanziehung in dem richtigen Augenblick zu überlassen, um durch die Flugbahn des Raumschiffs in den Anziehungsbereich der Erde zu gelangen. Man war somit ganz auf die vorhandenen Gravitationskräfte angewiesen, wie ein Schiff auf dem Meer auf die Richtung der Wasser- und Luftströmungen; und auf einen weiteren Erfolg konnte man erst hoffen, wenn es auch noch gelang, Mittel zu finden, die Richtung der erhaltenen Geschwindigkeit willkürlich abzulenken.

Aber auch dieses Problem war allmählich gelöst worden. Die Geschichte der menschlichen Entdeckungen auf der Erdoberfläche war nicht weniger reich an Opfern als diejenige der Versuche der Martier, den Weltenraum zu durchsegeln. Endlich aber war einmal nach jahrelangem Ausbleiben ein Raumschiff zurückgekehrt, das die Erde dreimal in großer Nähe umflogen hatte. Ein anderes war auf dem Mond der Erde gelandet. Zuletzt war es dem rastlosen Erdforscher Col auf seiner dritten Raumreise gelungen, den Nordpol der Erde zu erreichen. Der Südpol wurde zuerst vom Kapitän All betreten. Von jetzt ab verkürzte sich immer mehr die Reisezeit nach der Erde durch die vervollkommnete Technik der Raumfahrt, anstelle der vereinzelten Entdeckungsreisen trat eine planmäßige Besetzung des Nordpols. Und nachdem durch Konstruktion der Außenstation und die Errichtung des abarischen Feldes die Landung auf der Erde ebenso gesichert war wie die eines Dampfschiffes im Schutz eines trefflichen Hafens, waren die Martier an dem ersehnten Ziel angelangt, die Erde nach Belieben besuchen zu können.

Nur freilich, die beiden Pole waren bis jetzt die einzigen Punkte, welche sie zu erreichen vermochten. Am Südpol hatten sie eine ähnliche, wenn auch kleinere und weniger benutzte Station angelegt wie am Nordpol. Denn nur während des Sommers der Nordhalbkugel konnten sie die Nordstation unterhalten. Im Winter verlegten sie das abarische Feld auf den Südpol, der zu dieser Zeit Sommer hatte. Dagegen war es ihnen noch nicht gelungen, zu den bewohnten Teilen der Erde vorzudringen. Noch niemals hatten sie einen zivilisierten Menschen kennengelernt. Einige Eskimos waren die einzigen Vertreter, nach denen sie die Eigentümlichkeiten der Erdbewohner zu beurteilen vermochten. Aber bei ihren Umkreisungen der Erde in der Entfernung von einigen tausend Kilometern zeigten ihnen ihre vorzüglichen Instrumente natürlich die Einrichtungen der Kultur in solcher Deutlichkeit, daß sie sehr wohl wußten, die Hervorbringer dieser Werke seien keine Eskimos. Doch an andern Stellen als an den Polen zu landen, war ihnen bisher nicht gelungen. Durch die Rotation der Erde wurden die Verhältnisse dort so kompliziert, daß die technischen Schwierigkeiten nicht überwunden werden konnten. Diese ergaben sich aus der besonderen Natur der Gravitation und dem dadurch bedingten Bau der Raumschiffe, welche dem Druck der Luft und ihren Stürmen nicht widerstehen konnten. Auch am Pol war ja die Landung erst mit Sicherheit durchzuführen, seitdem es nach vielen Opfern und Verlusten gelungen war, die Außenstation zu errichten und so die Raumschiffe außerhalb der Atmosphäre zu halten. Wie die Brandung einer Insel gegen die Überrumpelung durch landende Feinde schützt, so deckte die Umdrehung um ihre Achse und die Dichtheit ihrer Atmosphäre die Erde gegen einen plötzlichen Einfall der Marsbewohner von der Luftseite her. Nur am Pol konnten sie sich festsetzen. Und wenn sie nun auf der Erde vordringen wollten, so mußte dies über die Gletscher und Eisschollen der Polargegenden geschehen.

Mit diesem Plan trugen sich nun freilich die Marsbewohner. Aber die Überwindung dieser Eiszonen bot ihnen ebensoviel Schwierigkeiten, als wenn Europäer in das vernichtende Sumpfklima eines tropischen Urwaldes oder über die wasserlose Wüste vordringen wollten. Unsere Schiffe tragen uns wohl ans Ufer unbekannter Länder, aber in das Innere vermögen wir erst später und unter den größten Schwierigkeiten einen Einblick zu gewinnen. Die Martier hatten auf der Erde vor allem mit zwei gewaltigen Hindernissen zu kämpfen: Luft und Schwere. Die Dichtigkeit der Luft, ihre Feuchtigkeit und die Größe des Luftdrucks waren für die Konstitution ihres Körpers verderblich; sie konnten das Klima der Erde nur kurze Zeit ertragen. Und die Stärke der Schwerkraft, dreimal so groß wie auf dem Mars, hinderte ihre Bewegungen und drückte jeder ihrer mechanischen Arbeiten eine dreifache Last auf. Sie hätten dieselbe überhaupt nicht tragen können, wenn sie nicht für die Verhältnisse ihres Planeten eine sehr bedeutende Muskelkraft besessen hätten. Gerade jetzt, als die Nordpolexpedition Torms in ihrem abarischen Feld scheiterte, waren sie mit den ernstesten Vorbereitungen beschäftigt, einen Vorstoß nach Süden zu unternehmen. Denn auf dem Mars waren die Versuche gelungen, einen Stoff herzustellen, der sich wie das Stellit schwerelos machen ließ, aber dabei genügende Festigkeit besaß, der Wärme und Feuchtigkeit der Luft zu widerstehen. Von ihm erhofften die Martier, daß er ihnen die Wege durch die Erdenluft bahnen werde.

9. Kapitel

Die Gäste der Marsbewohner

Als Saltner zum zweiten Mal auf der Insel erwachte, war er nicht wenig erstaunt, sich wieder in einer völlig veränderten Situation zu finden. Das Zimmer war verdunkelt, doch schimmerte die Decke desselben in einem matten Grau, so daß er einigermaßen seine Umgebung erkennen konnte. Er sah sofort, daß er in einen anderen Raum gebracht worden war. Fenster waren nicht vorhanden, und das Rauschen des Meeres vermochte er nicht zu hören. Dagegen sah er in der Nähe seines Bettes mehrere Körbe und Pakete aufgestapelt, in denen er einen Teil aus dem Inhalt der Gondel des untergegangenen Ballons zu erkennen glaubte. Wenn es nur etwas heller gewesen wäre! Aber wie konnte man Licht erhalten?

Er erhob erst vorsichtig seinen Arm, um nicht etwa wieder einen unfreiwilligen Luftsprung zu machen, und als er merkte, daß er sich unter den gewöhnlichen Umständen der Erdschwere befand, setzte er sich mit einem lebhaften Schwung auf den Rand seines Lagers. Und siehe da, in dem Augenblick, in welchem seine Füße den Boden berührten, wurde es hell im Zimmer. An der Decke hatte sich eine weite Oberlichtöffnung gebildet, und die Sonne, nur durch einen leichten Schirm gedämpft, schien fröhlich herein. Er erkannte nun, daß er in der Tat das Eigentum der Expedition vor sich hatte, auch seine sorgfältig gereinigte und getrocknete Kleidung fand er dabei. Und am Boden lag sogar sein Eispickel, den er zu etwaigen Gletscherbesteigungen am Nordpol mitgenommen hatte. Schnell erhob er sich, und schon bei den ersten Schritten, die er auf dem weichen Teppich des Zimmers probierte, fühlte er, daß er sich wieder völlig wohl und bei Kräften befand. Er schob einen Vorhang zu seiner Linken beiseite und sah dahinter verschiedene Geräte, die ihm höchst fremdartig vorkamen, aber doch soviel erraten ließen, daß sie einen Bade-Apparat vorstellten und was sonst zur Toilette eines Martiers gehören mochte. Ehe er sich jedoch getraute, von diesen ihm unbekannten Gegenständen Gebrauch zu machen, untersuchte er erst die übrigen Teile des geräumigen Schlafgemachs. In der Mitte der dem Bett gegenüberliegenden Wand befand sich eine große Tür, die er indessen vorläufig nicht zu öffnen wagte. Er wandte sich nun nach rechts und bemerkte, daß die Täfelung dieser Seitenwand ebenfalls eine Tür enthielt, die aber nicht ganz geschlossen war. Sie führte in ein verdunkeltes Gemach. Als Saltner an dem ihm unbekannten Mechanismus herumtastete, rollte sich die Tür auf und ließ dadurch mehr Licht in das Zimmer. Da erblickte er an der gegenüberliegenden Wand ein Bett genau wie das seinige und erkannte zu seiner unaussprechlichen Freude – Grunthe, der in ruhigem Schlummer lag.

»Guten Morgen, Doktor«, rief Saltner ohne weiteres. »Wie geht's?«

Grunthe schlug verwundert die Augen auf.

»Saltner?« sagte er.

»Hier sind wir, munter und gesund, wer hätte das gedacht! Aber der arme Torm – niemand weiß etwas von ihm!«

»Und wissen Sie denn«, fragte Grunthe, sogleich ermuntert, »wo wir uns befinden?«

»Ich weiß es, aber Sie werden's freilich nicht glauben wollen. Oder haben Sie etwa schon mit dem biedern Hil oder der schönen Se gesprochen?«

»Wir sind in der Gewalt der Nume«, antwortete Grunthe finster. »Sind wir allein?«

»Soviel ich weiß, aber der Teufel traue diesen Maschinerien – wer kann wissen, ob man nicht von irgendwo alles hört und sieht, was hier vorgeht, oder ob nicht irgendein geheimer Phonograph jedes Wort protokolliert. Na, deutsch verstehen sie vorläufig noch nicht.«

»Welche Zeit haben wir? Wie lange war ich bewußtlos?«

»Ja, wenn Sie das nicht wissen! Ich denke, hier gibt es überhaupt keine Zeit.«

»Nun, das wird sich alles bestimmen lassen, wenn wir erst einmal den freien Himmel wiedersehen«, sagte Grunthe. »Aber wie kann man hier Licht machen?«

»Treten Sie gefälligst mit Ihren Füßen auf den Boden vor Ihrem Bett, dann wird es Tag. Wir sind hier im Lande der automatischen Bedienung.«

»Das kann ich nicht, bester Saltner, mein Fuß ist verwundet –«

»I – das wäre – lassen Sie sehen –«

»Es ist nichts, ich bin schon verbunden, aber ich muß vorläufig noch liegen bleiben.«

Saltner war inzwischen an Grunthes Bett geeilt, und in dem Moment, in welchem er den Teppich vor demselben betrat, öffnete sich das Oberlicht.

»Sehen Sie«, rief Saltner, »allmählich lernt man diese Marskniffe. Ich kann übrigens schon etwas martisch und werde Ihnen gleich ein Frühstück bestellen. Erlauben Sie nur, daß ich vorher ein wenig Toilette mache.«

Er eilte nach dem Alkoven, der offenbar als Toilettenzimmer dienen sollte, und stellte sich überlegend vor die Apparate.

»Das da scheint mir eine Badewanne«, sagte er, während Grunthe durch die Tür sein halblautes Selbstgespräch vernahm, »aber Wasser ist nicht darin. Und dies dürfte wohl einen Waschtisch vorstellen. Aber hier sind drei verschiedene Griffe, und jeder hat eine Aufschrift – nur daß ich sie nicht lesen kann. Ich kenn mich halt nicht aus. Na, ich werde mal ein bissel drehen. Vielleicht kommt ein Wasser heraus.«

Er drehte vorsichtig an dem einen Wirbel, in der Meinung, das darunter befindliche flache Becken werde sich auf irgendeine Weise mit Wasser füllen. Aber ehe er sich's versah, sprang das Becken, sich fächerförmig zu einem Tisch ausbreitend, hervor und versetzte ihm einen unhöflichen Schlag gegen den Magen. Mit Hallo sprang er zurück, fand sich aber sofort wieder stolpernd nach vorn geschnellt, denn gleichzeitig hatte sich in seinem Rücken ein Sessel aus dem Fußboden erhoben. Nachdem er sich von seinem ersten Schreck erholt, betrachtete er sich die Sache eingehend, probierte an dem Tisch und Sessel, und da er sie standfest fand, ließ er sich gemütlich auf dem Sessel nieder.

»Was gibt's denn?« fragte Grunthe von seinem Bett aus.

»Ein Wasser war's nicht«, sagte Saltner, »aber es sitzt sich ganz gut hier. Nun wollen wir einmal den zweiten Wirbel probieren.« Doch schnell sprang er wieder auf, er dachte, der zweite Handgriff könne vielleicht dazu dienen Tisch und Sessel wieder verschwinden zu lassen, und bei dieser Gelegenheit wollte er sich erst in Sicherheit bringen. Aber es kam anders. Er erhielt nur von einer aufspringenden Schublade einen Stoß an die Hand. Die Schublade enthielt eine Anzahl jener Mundstücke, deren sich die Martier, wie Saltner wußte, zum Trinken bedienten, und nun bemerkte er auch, daß oberhalb des Tisches drei Öffnungen freigeworden waren, in welche die Mundstücke hineinpaßten.

»Halt«, sagte Saltner, »hier gibt's was zu trinken. Aber damit wollen wir doch noch warten.«

Er drehte an dem dritten Griff. Eine muldenförmige Schale wurde sichtbar, und in dieselbe fielen aus einer darüber befindlichen Öffnung fingerdicke, hellbraune Gegenstände, welche etwa die Gestalt von kleinen Würsten hatten.

»Das ist also ein Frühstück und keine Toilette«, rief Saltner lachend und probierte die sehr einladend aussehenden und würzig duftenden Stangen. Sie schmeckten vorzüglich und erwiesen sich als ein knuspriges Gebäck, das mit einer kräftigen Fleischfarce gefüllt war. Wenigstens hielt Saltner sie dafür. Aber während er die erste Stange verzehrte, setzte der Apparat seine Tätigkeit fort, und Gebäck auf Gebäck fiel in die Schale, die bald bis zum Rand gefüllt war. Das ist zuviel des Segens, dachte Saltner und suchte umher, wie sich wohl der geheimnisvolle Speisequell abstellen ließe. Doch vergebens, der Wirbel selbst ließ sich nicht zurückdrehen – Saltner wußte nicht, daß man zu diesem Zweck erst durch Drehen der Schale den automatischen Spender des Gebäcks abstellen mußte. Einen weiteren Handgriff aber verstand er nicht zu finden, und so quoll ein unstillbarer Strom von Fleischrollen auf die Schale, fiel von dort auf Tisch und Fußboden und begann sich zu einem stattlichen Haufen aufzutürmen. Saltner lief in Verzweiflung hin und her, aber er fand kein Mittel – er wollte die Öffnung nicht mit Gewalt verstopfen. – Schließlich dachte er, der Vorrat muß ja doch einmal ein Ende nehmen, und wollte der Sache ihren Lauf lassen. Er wollte nun die auf der Schale liegenden Stücke fortnehmen, um Grunthe eine Portion zu bringen, dabei merkte er, daß die Schale sich drehen ließ, und auf einmal hörte die weitere Spedition des Gebäcks auf.

Er sammelte die umherliegenden Massen der Delikatesse bis auf einen kleinen Rest und trug sie in Grunthes Zimmer, der bei diesem Anblick und Saltners tragikomischer Miene sich eines Lächelns nicht erwehren konnte. Dort verbarg er sie in einem der leeren Körbe der Expedition, denn auch in Grunthes Gemach hatte man einen Teil der aus der Gondel geretteten Gegenstände geschafft.

»Warum lassen Sie das Zeug nicht einfach liegen?« fragte Grunthe.

»Das geht nicht, ich bin ja sonst unsterblich vor den Damen als dummer Bat blamiert. Übrigens sehne ich mich nach dem Frühstück; aber erst muß ich doch sehen, wo ich ein Waschwasser finde.«

Er drehte der Reihe nach an verschiedenen Griffen, ohne daß er das Gewünschte antraf. Bald sprang ein Schrank auf, der ihm unverständliche Geräte enthielt, bald entzündeten sich Lampen an verschiedenen Stellen des Zimmers. Dann zeigte sich eine Schüssel, und schon hoffte er am Ziel zu sein, aber erschrocken fuhr er zurück, denn die Schüssel begann sich zu erhitzen. Endlich erweiterte sich in der Ecke des Zimmers der Fußboden zu einem flachen Bassin, und ein Springbrunnen sprühte einen Strahl hervor. Vorsichtig überzeugte sich Saltner, ob er es auch wirklich mit Wasser zu tun habe, und war sehr erfreut, als sich seine Vermutung bestätigte. Nun vervollständigte er mit Hilfe seiner wiedergefundenen Reiseeffekten seine Toilette und setzte sich mit Behagen an den Frühstückstisch.

Es war ihm ungewohnt und seltsam, daß das Tischchen so leer war und weder Gläser noch Tassen oder Löffel und Messer enthielt. Das Gebäck wenigstens wollte er auf einen Teller legen und sah sich deshalb nochmals im Zimmer um. Er bemerkte jetzt, daß sich auch ein großer Spiegel im Zimmer befand, neben welchem ein Gestell mit mehreren glänzenden runden Scheiben stand, die er für silberne Teller hielt. Er holte sich einen solchen Teller und legte sein Frühstücksgebäck darauf. Dann ließ er sich das Getränk munden, das die Öffnungen über dem Tischchen bereitwillig spendeten, nachdem er die Mundstücke daran befestigt hatte. Es war eine warme und zwei kalte Flüssigkeiten, die er erhielt und als Schokolade, Wein und Selterswasser bezeichnete, da sie mit diesen Getränken am meisten Ähnlichkeit hatten, obwohl er sich sagte, daß sie sich doch in vieler Hinsicht von den auf der Erde üblichen Genüssen dieser Art unterschieden. Insbesondere die Schokolade war sehr fettreich.

Neu gestärkt trat er in seinem kleidsamen Reiseanzug zu Grunthe ins Zimmer und sagte:

»Ich bin nun bereit, unsere Polarforschung fortzusetzen. Hoffentlich können Sie auch bald mitkommen. Aber ehe wir uns beraten, was wir zu tun haben, will ich doch sehen, ob ich Ihnen nicht ein Getränk verschaffen kann. Sie müssen ja einen grausigen Durst haben.«

»Danke schön«, erwiderte Grunthe lachend, »sehen Sie, was ich habe.« Und er wies auf das Mundstück eines Schlauches hin, das neben seinem Kopf über dem Bett herabhing. »Und hier«, fuhr er fort, »kosten Sie einmal diese Pastete oder was es sonst ist. Ich habe zwar keine Ahnung, wie es eigentlich schmeckt, aber ich fühle mich dadurch wunderbar gestärkt. Wenn mich mein Fuß nicht hinderte, stünde ich sogleich auf.«

»Sakra auch, das lasse ich mir gefallen! Wie haben Sie das entdeckt? Ich habe mich inzwischen abgeschunden, verschiedene Stöße bekommen und das Zimmer in ziemliche Unordnung gebracht. Wie fanden Sie das, es war doch vorhin nicht hier?«

»Einfach durch Nachdenken. Ich sagte mir, die Martier sind viel klüger als wir und jedenfalls viel umsichtiger. Wenn wir nun einen Patienten haben, der nicht gehen kann, so werden wir ihm doch ein Frühstück ans Bett bringen, und wenn wir selbst aus irgendeinem Grund nicht kommen wollen, so werden wir es ihm hinstellen. Ich sah mich also um. Nun betrachten Sie einmal diese beiden kleinen Zettel an diesen Ringen.«

»Das sind ja lateinische Buchstaben!«

»Allerdings. Es sind zwei Wörter der Eskimosprache. ›Misalukpok‹ und ›Imerpok‹. Das eine bezeichnet ›Essen‹ und das andere ›Trinken‹.«

»Warum hat man mir aber nicht auch solche Aufschrift angeklebt? Bei mir sind alle Schilder in einer Zeichenschrift, die jedenfalls martisch ist.«

»Sie verstehen ja nicht Grönländisch.«

»Woher wissen aber die Nume, daß Sie es verstehen?«

»Weil ich mich gestern mit einer – mit jemand darin unterhalten habe.«

»Potztausend, Grunthe, Sie sind mir über! Aber eins begreif ich nicht, wie können die Leute, die Herren Martier, wissen, wie man diese Worte in unsern Buchstaben schreibt?«

»Darüber bin ich mir auch noch nicht klar. Sie sehen, es ist Antiqua, der lateinischen Druckschrift genau nachgemalt. Und mein kleines Wörterbuch ist nicht mehr da, daraus haben sie die Zeichen entnommen. Aber wie sie die richtigen Worte in dem Buch aufgefunden haben, das ist mir ein völliges Rätsel. Denn sie kennen doch nur den Laut der Eskimoworte, aber nicht die gedruckten Zeichen.«

»Es ist eine unheimliche Geschichte«, sagte Saltner. »Aber ein gutes Weiberl ist sie doch, die Se, ich bin halt ganz hin! Wenn ich nur wüßt, warum sich kein Mensch bei uns sehen läßt, kein Nume, wollt ich sagen, denn darauf scheinen sie sich was Großes einzubilden, daß sie keine Menschen sind.«

»Das kann ich Ihnen auch sagen, Saltner. Würden Sie ihren Gästen nachts zwischen drei und vier Uhr einen Besuch machen?«

»Ist das die Uhr? Aber vorhin wußten Sie's ja nicht, und ich denke, am Pol gibt's überhaupt keine Zeit.«

»Eine konventionelle Zeit muß es doch geben. Die Leute müssen doch festsetzen, wann sie schlafen und wann sie zu Mittag essen sollen. Wir also haben zum Beispiel unsere mitteleuropäische Einheitszeit auf unseren Taschenuhren mitgebracht, und danach hätten wir jetzt neun Uhr 55 Minuten vormittags. Als der Ballon scheiterte, war es nach mitteleuropäischer Zeit gegen sechs Uhr abends. Nun weiß ich bloß nicht, ob seitdem ein oder zwei Nächte vergangen sind, denn das hängt von der Länge unserer Ohnmacht und unseres Schlafes ab.«

»Das weiß ich allerdings auch nicht. Ich weiß auch nicht, wann unser erstes Erwachen stattgefunden hat; das Ihrige vermutlich bald nach dem meinigen.«

»Nun, das läßt sich nachher aus der Deklination der Sonne feststellen, welches Datum wir haben. Ich habe meine Uhr auch jetzt erst wieder entdeckt – beide Uhren, und da sie übereinstimmen, sind sie auch nicht stehengeblieben –«

»Nein, ich habe dieselbe Zeit –«

»Ja, aber welche Zeit rechnen die Martier hier? Sehen Sie, das haben sie mir auch mitgeteilt, und daher weiß ich, daß es für sie jetzt Schlafenszeit ist und daß sie erst in vielleicht zwei Stunden aufstehen werden. Deswegen sagte ich, es sei zwischen drei und vier bei unsern Wirten; wie sie die Stunden zählen und benennen, weiß ich allerdings auch nicht.«

»Aber Doktor, woher wissen Sie denn, was bei den Martiern für eine Tageseinteilung Mode ist und was die Glocke bei ihnen geschlagen hat?«

»Glauben Sie wohl, Saltner, in einem Schlafzimmer, das mit allem Komfort der Martier ausgestattet ist, werde eine Uhr fehlen?«

»Ich habe keine gesehen und Sie vorhin auch nicht.«

»Seitdem aber habe ich sie entdeckt. Sehen Sie die Malerei, welche die kreisförmige Öffnung des Oberlichts einschließt? Sie ist in zwölf mal zwölf gleiche Abschnitte geteilt. Und jene schmalen hellen Streifen, die Sie dazwischen sehen, liegen nicht fest, sondern bewegen sich auf dem Ring. Das ist mir erst allmählich klar geworden, als ich während ihrer Toilette hier ruhig lag und in die Höhe starrte. Hier haben Sie die Uhr der Martier.«

»Ich schau sie wohl an, aber klug werd ich nimmer draus.«

»Entziffern kann ich sie auch nicht. Aber sehen Sie, es sind zwei Zettel angesteckt, die offenbar nicht zur Uhr gehören, sondern nur für heute, für uns, eine Nachricht geben. Der eine zeigt ein geschlossenes, der andere ein offenes Auge. Die Deutung ist klar: Schlafen und Wachen.«

»Es ist richtig, und dieser helle Strich –«

»Das ist der Stundenzeiger –«

»Dachte ich mir. Er steht noch ungefähr um ein Zwölftel des ganzen Kreises von dem geöffneten Auge ab.«

»Daher eben schließe ich, daß noch zwei Stunden zirka bis zum Beginn des Erwachens der Martier sind.«

»Aber finden Sie es nicht seltsam, daß die Martier den Tag ebenfalls in zwölf Stunden teilen?«

»Ebenfalls? Wir teilen ihn ja in vierundzwanzig –«

»Nun, das sind zweimal zwölf.«

»Daß die Zwölf wiederkehrt, wundere ich mich gar nicht – ich würde mich wundern, wenn es anders wäre. Es liegt das im Wesen der Zahl, das heißt im Wesen des Bewußtseins überhaupt. Die Gesetze der Mathematik sind die Gesetze der Welt. 12 ist 3 mal 4, die kleinste aller Zahlen, welche die drei ersten Zahlen 2, 3 und 4 zu Teilern besitzt. Alle intelligenten Wesen, welche Mathematik treiben, werden die 12, nächstdem die 60 zur Grundlage ihrer Einteilungen machen.«

»Aber wir haben ja doch die Zehn –«

»Die alte Astronomie wählte die Zwölf – zwölf Zeichen bilden den Tierkreis – die Zehn ist nur ein unwissenschaftlicher Rückfall in die sinnliche Anschauung der zehn Finger – Krämerpolitik –, doch lassen wir das.«

»Meinetwegen«, sagte Saltner. »Aber was tun wir nun? Erst müssen Sie natürlich Ihren Fuß auskurieren.«

»Ich fürchte«, erwiderte Grunthe, »wir werden auch dann nichts anderes tun können, als was die Martier über uns beschließen. Mit der Expedition wird es wohl so ziemlich aus sein. Suchen wir uns inzwischen möglichst mit den Verhältnissen vertraut zu machen. Rekognoszieren Sie ein wenig!«

»Im Zimmer habe ich mich schon umgesehen, und ich möchte nicht noch mehr von den rätselhaften Instrumenten probieren – man kann sich zu leicht blamieren. Ich komme mir vor wie ein Wilder in einem physikalischen Institut, bloß daß unsereiner nicht die nötige Naivität besitzt.«

»Was haben wir denn für Ausgänge?«

»Nur einen aus jedem unserer Zimmer. Ich weiß die Tür nicht zu öffnen. ich glaube, es ist auch schicklicher, wir warten hier, bis man uns aufsucht, als daß ich aufs Ungewisse herumstöbere.«

»Sie haben recht! Vielleicht haben Sie die Güte, unsere Sachen ein wenig zu ordnen, und wenn Sie mein Tagebuch finden, so bitte ich Sie darum. Zunächst müssen wir sehen, daß wir sowohl Torms Eigentum als die offiziellen Aktenstücke der Expedition in Sicherheit bringen.«

»Ich habe schon einiges hier beiseite gelegt«, sagte Saltner, indem er unter den Gegenständen aufräumte, welche die Martier aus der Gondel gerettet hatten. Sie waren zum Teil durch den Sturz und das Meerwasser beschädigt.

»Es wäre mir übrigens gar nicht unangenehm«, fuhr Saltner fort, »wenn noch einiges von unserm Proviant brauchbar wäre. Denn ich traue nicht recht, wie einem dieser Würstchen-Automat hier bekommen wird. Sehen Sie einmal, was die Herrn Nume alles aufgehoben haben! Da haben sie uns ja das Futteral mit den beiden Flaschen Champagner hergelegt, das Sie in der Not als Ballast auf die Insel warfen. ich hab halt gedacht, das würde ihnen die Köpfe zerschlagen und dabei in tausend Trümmer gehen. Aber es scheint ganz unversehrt. Nun, ich will die beiden Monopol nur aus dem Kasten nehmen. Die können wir doch nimmer mit Freude ansehn. Arme Frau Isma!« Er nahm die Flaschen heraus.

»Halt«, sagte er, »da in dem Futter steckt noch ein Paketchen. – Was haben wir denn da?«

Der Verschluß hatte sich gelöst. Ein Buch in der Größe eines Notizkalenders kam zum Vorschein.

»Na«, sagte Saltner, »Frau Isma wird uns doch nicht noch ein Album mitgegeben haben. Sehen Sie doch einmal, Grunthe, was das ist.«

»Was geht das mich an?« sagte Grunthe unwirsch.

Saltner schlug das Buch auf. Er stutzte sichtlich, blätterte darin und sah lange hinein.

»Das ist –«, sagte er dann kopfschüttelnd, »das ist ja – Aber wie ist das möglich?«

Das kleine Buch enthielt ein Wörterverzeichnis der Sprache der Martier; die Worte waren mit Hilfe der Lautzeichen des lateinischen Alphabets transkribiert, daneben befand sich eine deutsche Übersetzung und zugleich das Zeichen des Wortes in der stenographischen Schrift der Martier. Saltner hatte an den wenigen ihm bekannten Worten die Bedeutung des Inhalts erkannt.

»Sagen Sie mir das eine«, fuhr er fort, »mir steht der Verstand still – wie kann ein deutsch-martisches Wörterbuch hierherkommen – wie kann es überhaupt existieren?«

Grunthe streckte sprachlos die Hand aus und ergriff das Buch.

Er warf nur einen Blick hinein. Dann sagte er leise: »Das ist die Handschrift von Ell.«

Grübelnd schloß er die Augen. Das unlösbare Rätsel trat ihm wieder entgegen – wie kam Ell zur Kenntnis der Sprache der Marsbewohner? Und wenn er sie kannte, warum hatte er sich nicht offen ausgesprochen? Warum hatte er nicht ihm oder Torm die Sprachanleitung mitgegeben? Wie kam sie versteckt in das Futteral, unter die Flaschen?

Er wußte keine Antwort.

Saltner hatte inzwischen das Buch ergriffen und suchte sich daraus einige Worte zusammen.

Da hörte er im Nebenzimmer leises Lachen und Stimmen der Martier. Der Arzt Hil war in Saltners Zimmer eingetreten. Se hatte ihn bis an die Tür begleitet und amüsierte sich köstlich über die Unordnung, welche Saltner angestiftet hatte, am meisten aber darüber, daß er bei seinem Frühstück als Teller die – Kämme benutzt hatte. Die flachen Scheiben, welche Saltner für Teller gehalten hatten, dienten den Martiern dazu, das Haar zu ordnen; sie wurden elektrisch geladen und streckten dann die Haare geradlinig vom Kopf ab. »Es ist zu lustig«, lachte Se. »Aber wir wollen ihm jetzt nichts sagen, dem armen ›deutsch Saltner‹.« Darauf zog sie sich wieder zurück. Denn es war ihr zu ›schwer‹ in den Zimmern der Bate.

Hil trat bei Grunthe und Saltner ein.

10. Kapitel

La und Saltner

Hil war mit dem Zustand seiner Patienten sehr zufrieden. Mit großem Interesse betrachtete er ihre Effekten. Sichtliches Erstaunen aber malte sich auf seinen Zügen, als ihm Grunthe den kleinen deutsch-martischen Sprachführer überreichte. Er blätterte eifrig darin, und indem er auf einzelne Zeichen der martischen Schrift zeigte und sich das danebenstehende deutsche Wort nennen ließ, gelang es ihm bald, einige Fragen zu stellen, die Grunthe durch das umgekehrte Verfahren beantwortete. Da es ihm selbst an Zeit gebrach, den gegenseitigem Sprachunterricht sofort eingehend aufzunehmen, fragte er Grunthe mit Hilfe des Grönländischen, ob er nicht mit La, die sich gern mit Sprachstudien beschäftigte, martisch sprechen wolle, um recht bald zu einem gegenseitigen Verständnis zu kommen. Grunthe war dies sehr unangenehm. Er war recht froh, daß sich keine von seinen Pflegerinnen hier bei ihm sehen ließ, und er wandte sich daher an Saltner mit dem Vorschlag, ihn in dieser Hinsicht zu vertreten. Obgleich dieser die Sprache der Eskimos nicht als verbindendes Hilfsmittel benutzen konnte, glaubte er doch, mit Hilfe des Ellschen Sprachführers auszukommen und erklärte sich gern zu allen Diensten bereit.

Hil nahm den Sprachführer mit sich und geleitete Saltner in den anstoßenden großen Salon der Martier. Hier stellte er ihn einer Anzahl der dort versammelten Martier vor, unter denen sich der Leiter der Station Ra mit seiner Frau sowie neben einigen andern Martierinnen auch Se und La befanden.

Saltner wußte nicht, wo er seine Augen zuerst hinwenden sollte. Fast alles, was er sah, war ihm fremd, am meisten aber überraschten ihn die Gestalten der Martier selbst. Es war ihm nur lieb, daß er sich aus Mangel an Sprachkenntnissen in Schweigen hüllen und sich mit dem Sehen begnügen konnte. Hil nannte ihm die Namen der einzelnen, die ihn mit ihren martischen Handbewegungen begrüßten, was Saltner mit europäischen Verbeugungen erwiderte. Nur fielen dieselben leider etwas steif aus, da er infolge der verminderten Schwere sehr vorsichtig sein mußte. Er sah wohl an den Gesichtern derjenigen Martier, welche in ihm zum ersten Mal einen Europäer erblickten, wie sie sich Mühe gaben, ihre Belustigung über seine Ungeschicklichkeit zu verbergen. Es war ihm daher sehr angenehm, als sich die Mehrzahl der Anwesenden zurückzog.

Gleich bei seinem Eintritt war ihm neben der reizenden Se die Gestalt Las aufgefallen, und als er bei der Nennung der Namen erkannte, daß dieses wunderbare Wesen seine Sprachlehrerin sein sollte, heftete er seine Blicke erwartungsvoll auf ihre Züge. Aber in ihren großen Augen war keine Spur von Spott zu bemerken, sie begrüßte ihn mit ruhiger Liebenswürdigkeit, und ein Lächeln, das sie mit Se tauschte, sagte dieser, daß ihr dieser Bat besser gefiel als der andere. Saltner war überzeugt, daß er riesenschnelle Fortschritte im Martischen machen würde, wenn ihm die Anerkennung aus solchen Augen als Lohn winke. Er wußte nur nicht recht, wie die Sache zu beginnen sei, da keines der beiden die Sprache des andern kannte. La holte einige Bücher aus der Bibliothek, darunter den ihm schon bekannten Atlas, der ihm zur ersten Verständigung mit Se gedient hatte. Sie streckte sich dann in ihrer Lieblingsstellung auf den Diwan und winkte Saltner, sich dicht an ihrer Seite niederzulassen. Sie begann zunächst einige Gegenstände zu bezeichnen, die sich unmittelbar der Anschauung darboten, und sich die Benennung martisch und deutsch wiederholen zu lassen; dann verfuhr sie ebenso mit verschiedenen Abbildungen in den Büchern. Aber so ging die Sache zu langsam. Sie griff zu dem Sprachführer, den Se in der Hand hielt. Se hatte bis jetzt in dem Büchlein geblättert und eine Anzahl von deutschen Worten auf einem Streifen durchsichtigen Papiers einfach dadurch nachgebildet, daß sie das Papier einen Augenblick auf das betreffende gedruckte Wort legte und andrückte. Das Papier war lichtempfindlich und gehörte zu einem kleinen Taschenschnellphotograph, den man als Notizbuch bei sich zu führen pflegte. Saltner las: »Schüler fleißig. Lehrer streng. Fernhörer. Alles hören.«

Als er wieder aufblickte, sah er, daß Se schelmisch lachte. Sie machte sich dann noch an dem Apparatentisch zu schaffen und entfernte sich mit freundlichen Winken: »Das ist recht«, sagte La, »sie hat den Phonograph aufgezogen. Danach können wir dann unser Pensum gut repetieren.«

Darauf nahm La den Sprachführer vor und ging mit Saltner die Redensarten und kleinen Gespräche durch, welche dort in beiden Sprachen angegeben waren. Er las sie deutsch, sie martisch, und beide lachten dazwischen herzlich, wenn sie ihre Aussprache zu verbessern suchten oder komische Mißverständnisse zutage kamen. Saltner mußte La dicht über die Schulter blicken, um im Buch zu lesen. Es ließ sich nicht vermeiden, daß sein Blick nach der wunderbaren Farbe ihres Haares und den weichen Formen des Nackens abirrte und die Worte manchmal zerstreut herauskamen. Ein seltsamer Wärmestrom ging von ihrem Körper aus, und dies war nicht bloß ein Spiel seiner Phantasie; er erfuhr später, daß die Martier in der Tat eine höhere Blutwärme besitzen als die Menschen. Er merkte, daß sich seine Sinne verwirrten. Und auch dies hatte seinen Grund nicht nur in seinen Gefühlen, sondern war eine Wirkung der geringen Schwere, an die seine Konstitution noch nicht gewöhnt war. Das Blut wurde ihm stärker zu Kopfe getrieben.

La erkannte dies bald. Sie gab ihm das Buch zu halten, lehnte sich zurück und stellte das abarische Feld ab. Alsbald fühlte sich Saltner wieder wohler, und die Studien nahmen mit erneuter Kraft ihren Fortgang. So vergingen schnell einige Stunden. Und auf einmal stellte sich heraus, daß die Lehrerin viel mehr deutsch gelernt hatte als der Schüler martisch. Nicht weniger als Saltner hatte Grunthe dabei gelernt, der den Sprechübungen durch den Fernhörer zugehört hatte. Er fragte an, ob er jetzt vielleicht das Buch auf einige Zeit erhalten könnte.

La stellte die Schwere ab, um sich wieder frei bewegen zu können.

»Oh, wie zerstreut bin ich doch!« rief sie aus. »Wir brauchten uns doch nicht mit dem einen Exemplare zu quälen! Wenn Sie mir das Buch noch eine halbe Stunde erlauben« – wandte sie sich durch den Fernsprecher an Grunthe –, »so werde ich es sofort vervielfältigen lassen.«

Sie schrieb einige Worte auf ein Stückchen Papier, legte dies in das Buch und packte das Ganze in einen Umschlag. Dann warf sie das kleine Paket in einen an der Wand befindlichen Kasten.

Saltner sah ihr verwundert zu.

»Das ist die pneumatische Post nach der Werkstatt«, sagte La erklärend. »Es wird nicht lange dauern, so bekommen wir die Kopien des Buches, aber nicht in Ihrem ungeschickten Format, sondern in unserer hübschen Tafelform.« Sie erläuterte das Gesagte durch verschiedene Handbewegungen.

»Und wer besorgt denn dies?« fragte Saltner.

»Wer von den Technikern gerade an der Reihe für den Tag ist. Die Arbeitszeit wechselt in geregelter Ablösung. Jeder hat seinen besonderen Tätigkeitskreis. Ich zum Beispiel muß mich mit der Erlernung der schrecklichen Menschensprachen quälen. Haben Sie mich verstanden?«

Da Saltner noch ein ziemlich fragendes Gesicht machte, wiederholte sie die Antwort noch einmal, zu seiner Verwunderung in zwar etwas seltsamem, aber doch verstehbarem Deutsch.

»Sie sprechen ja deutsch, La La!« rief er aus.

»Sie haben nicht aufgepaßt«, sagte sie lachend. »Die Worte sind ja alle heute in unserm Pensum vorgekommen. Wir wollen es repetieren.« Sie ging an den Tisch und drückte auf den Knopf des Grammophons.

Man hörte sogleich die Worte wieder, die La zu Se bei ihrer Verabschiedung gesprochen hatte. La zog sich nun auf ihren Diwan zurück, stellte die Abarie ab und winkte Saltner, sich zu setzen.

Es war ihm ganz seltsam zumute, als er so seine eigene Stimme, jedes Wort mit der eigenen Betonung, jeden Sprachfehler – dazwischen das tiefe, halblaute Organ Las und ihr leises Lachen – wieder vernahm. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen rückten bis an Las Ruhestätte und entzündeten ein seltsames Farbenspiel zwischen den losen Wellen ihres Haares, sie spielten als ein Meer von Funken auf den glitzernden Fäden ihres Schleiers, die sich bei ihren Atemzügen leise hoben und senkten. War er noch er selbst, oder war er in ein fernes Geisterreich entrückt und mußte er nun sein eigenes Leben an sich vorüberziehen lassen?

»Nicht träumen«, sagte La halblaut, »aufpassen.«

Nun hörte er wieder auf die Worte ihrem Sprachsinn nach, er repetierte.

Da klapperte es an dem Postkasten.

»Da sind unsere Bücher«, sagte La. »Stellen Sie, bitte, das Grammophon ab, und öffnen Sie den Kasten.«

Saltner vollzog den Auftrag. Er enthob dem Kasten ein Paket, das die Kopien des Sprachführers enthielt. La nahm das Original heraus und gab es Saltner.

»Hier«, sagte sie, »bringen Sie dies Ihrem Freund zurück, mit bestem Dank. Und wenn es Ihnen recht ist, arbeiten wir am Nachmittag noch einmal.«

»Verfügen Sie vollständig über mich«, sagte Saltner mit einem bewundernden Blick. Eine vornehme Handbewegung verabschiedete ihn.

*

Die Sprachstudien fanden am Nachmittag eine unerwartete Unterbrechung.

Eben wollte Saltner, der mit Grunthe zusammen gespeist hatte, sich wieder in den Salon begeben, als Ra bei ihnen eintrat, um ihnen eine Mitteilung zu machen, die beide Forscher aufs Lebhafteste erregte.

Die Martier hatten auf ihren Jagdbooten das Binnenmeer und seine Ufer noch weiter nach Spuren der Expedition abgesucht. In einem der Fjorde, welche sich ungefähr in der Richtung des 70. Meridians westlicher Länge von Greenwich verzweigten, am Fuß eines unmittelbar in das Wasser abfallenden Gletschers, hatte man den bisher vermißten Fallschirm der Expedition gefunden, zwischen losgebrochenen Eisschollen treibend. Derselbe mußte so nahe am Ufer niedergefallen sein, daß es wohl denkbar war, ein an demselben hängender Mensch hätte sich auf den Gletscher retten können. Die Martier hatten das Land selbst nicht betreten können; ohne besondere maschinelle Vorrichtungen war ihnen dies überhaupt nicht möglich.

Saltner sprang auf und bat dringend, ihn sofort an Ort und Stelle zu bringen. Hier war eine Möglichkeit gegeben, daß Torm doch noch am Leben und zu retten sei. Daß der Fallschirm in so weiter Entfernung vom Ballon gefunden war, und zwar an einer Stelle, über die der Ballon nicht geflogen sein konnte, ließ sich nur dadurch erklären, daß Torm den Schirm vom Ballon getrennt hatte. Dann konnte die in den unteren Luftschichten herrschende Windströmung den langsam fallenden Schirm sehr wohl bis dorthin getrieben haben. Aber ob sich Torm an dem Schirm befunden hatte? Vermutlich hatte er sich mit demselben niedergelassen; aus welchen Gründen ließ sich nur unsicher vermuten. Vielleicht hatte er den Ballon dadurch zu retten gedacht, daß er ihn um sich selbst erleichterte; vielleicht auch hatte er die Gefährten für erstickt gehalten und für sich selbst ein letztes Rettungsmittel versucht, ehe der Ballon wieder über das Meer hinaustrieb. Jedenfalls mußte man alles daransetzen, etwaige Spuren von Torm aufzufinden.

Ra stellte Saltner bereitwillig ein Boot und Mannschaft zur Verfügung, sagte aber sogleich, daß die Martier zu einer Untersuchung des Gletschers selbst sehr wenig geeignet seien. Sie würden jedoch für einige Apparate sorgen, die zum Transport etwaiger Lasten oder auch von Personen mit Vorteil benutzt werden könnten. Insbesondere aber schlüge er ihm vor, die beiden Eskimos, welche sich auf der Station aufhielten, Vater und Sohn, mitzunehmen. Sie leisteten den Martiern gute Dienste bei Arbeiten und Transporten im Freien, bei denen es menschlicher Muskelkraft bedürfe, und könnten ihn gewiß bei einer etwaigen Besteigung des Gletschers unterstützen.

Nach einer halben Stunde war das Boot bereit. Da Saltner sich nicht auf die ihm unbekannten Apparate der Martier verlassen wollte, hatte er sich mit seinem eigenen Seil und seinem getreuen, glücklich geretteten Eispickel versehen, die ihn schon bei so mancher schwierigen Klettertour in den Gebirgen seiner Heimat begleitet hatten.

Saltner war nicht wenig erstaunt, als er in dem langen, elegant gebauten Boot neun riesige Kugeln von etwa einem Meter Durchmesser erblickte, die Kopfhüllen der Martier, die ihnen direkt auf den Schultern saßen. Sie sahen dadurch wie seltsame Karikaturen aus. Der Führer des Bootes stand am Land und begrüßte Saltner, worauf er sich mühsam an Bord begab und nun ebenfalls seinen Kugelhelm aufsetzte. Die beiden Eskimos befanden sich schon im Boot und lösten das Seil, sobald der Führer eingestiegen war. Sie verstanden nicht recht seine Handbewegung, und das Boot begann von der Landestelle abzutreiben, gerade als Saltner seinen Fuß auf den Rand desselben setzte. Die Martier, welche glaubten, er müsse unfehlbar ins Wasser stürzen, winkten lebhaft mit ihren Armen, während er selbst sich mit einem leichten Schwunge vom Ufer abstieß und gewandt in das Boot sprang. Für einen geschickten Turner war dies eine Kleinigkeit, erregte aber bei den Martiern offenbare Anerkennung. Unter dem Einfluß der Erdschwere wäre diese Leistung keinem von ihnen möglich gewesen.

Kaum hatte Saltner einige Schritte getan, indem er sich nach einem passenden Platz umsah, als einer der Martier seine große Kugel von der Schulter nahm und an ihrer Stelle der anmutige Kopf Las zum Vorschein kam. Sie sah ihn mit ihren großen Augen heiter an und nickte ihm freundlich zu.

»Wie kommt es, daß Sie hier sind, La La?« sagte Saltner, in seiner Überraschung deutsch sprechend. »Sie scheuen doch die Schwere draußen. Diese Fahrt ist gewiß sehr anstrengend für Sie?«

»Ganz richtig«, antwortete La ebenfalls deutsch, »ich tue es nicht zum Vergnügen. Ich bin im Dienst. Wie wollen Sie verstehen diese Nume? Wie wollen Sie verstehen diese Kalalek? Ich bin als Dolmetscher hier«, fügte sie auf martisch hinzu.

»Das ist wahr, an diese Schwierigkeit habe ich gar nicht gedacht. Aber wie leid tut es mir, daß Sie sich so bemühen müssen. Freilich, was könnte ich mir Besseres wünschen – doch wollen Sie nicht Ihren Helm wieder aufsetzen?« La schüttelte den Kopf. Aber sie schlug hinter ihrem Platz eine Lehne mit weichem Polster in die Höhe und stützte dort ihr Haupt auf. So lehnte sie sich zurück und ließ ihre Augen prüfend über das Boot und die ganze Umgebung wandern.

Mit großer Geschwindigkeit durchschnitt das Boot die leise bewegten Wellen der Bucht und hatte in etwa zehn Minuten die Stelle erreicht, an welcher sich mehrere Kanäle von verschiedener Breite verzweigten. Jetzt mußte langsam und vorsichtig gefahren werden, denn ein Gewirr von Felsblöcken und Eisbergen oder Schollen erstreckte sich am Stirnende des Gletschers entlang und verengte das Fahrwasser. Die Martier hatten den Platz bezeichnet, an welchem sie den Fallschirm gefunden hatten, und Saltner spähte nach einer geeigneten Stelle aus, wo man den Gletscher erklimmen könnte. Er schlug seinen Eispickel in eine Scholle und sprang auf dieselbe hinüber, kam wieder zurück und ließ das Boot weiterfahren. Es schien sich von selbst zu verstehen, daß er hier kommandierte.

La ließ ihre Augen mit Wohlgefallen auf seinen entschiedenen Bewegungen ruhen. Dieser Bat, über den sie als Martierin sich so weit erhaben fühlte, war ihr bisher nur seltsam vorgekommen. Aber hier, in seinem Element als gewandter Kletterer, machte er ihr doch einen viel vorteilhafteren Eindruck. Gegenüber den unbeweglichen Kugeln, die ihre Landsleute auf den Schultern trugen, gegenüber den grauen, stumpfen Gesichtern der Eskimos mit ihren vorstehenden Backenknochen bot sein ausdrucksvoller Kopf, seine freie Haltung und kräftige Kühnheit ein Bild, das sie gern betrachtete.

Der Gletscher fiel an den meisten Stellen mit einem senkrechten Abbruch von zehn bis fünfzehn Metern Höhe in die See ab. Endlich hatte Saltner eine Stelle gefunden, an welcher ihm der Aufstieg möglich schien. Gewandt schlug er Stufe auf Stufe in das ziemlich weiche Eis und kletterte, von den Augen der Martier unter Spannung verfolgt, die Eiswand hinauf. Dann warf er das Seil hinab, und die beiden Eskimos folgten ihm an demselben. Bald waren die drei für die Insassen des Bootes hinter dem Rand des Eises verschwunden.

Längere Zeit war nichts von den Kletterern zu vernehmen, und La begann schon ungeduldig nach der Höhe zu blicken. Da erschien Saltner etwa hundert Meter weiter am Rand des Absturzes und winkte dem Boot, sich dorthin zu begeben. Als dies geschehen war, rief er hinunter:

»Ich habe Spuren gefunden. Wird es möglich sein, einige Leute hier heraufzubringen?«

La übersetzte, und der Führer des Bootes ließ antworten, daß dies sehr leicht sei, wenn es Saltner gelänge, mit seinem Seil die Rolle des Aufzuges, den die Martier mit sich führten, hinaufzuziehen und oben zu befestigen.

Dies geschah nach Wunsch. Alsbald hatten die Martier einen bequemen Aufzug eingerichtet, den sie mit den Akkumulatoren ihres Bootes betrieben.

Nicht weit von der Stelle, an welcher die Martier ihren Aufzug angebracht hatten, stieß eine Seitenschlucht in das Haupttal, und hier zog sich ein Streifen von Felstrümmern und Moränenschutt, von Flechten überkleidet, auf dem ganz allmählich ansteigenden Gletscher in die Höhe. Auf diesem Streifen konnte man, ohne sich der unsicheren Oberfläche des Gletschers anzuvertrauen, gut ins Innere des festen Landes gelangen. Saltner hatte nun in dieser Richtung einen Gegenstand zwischen dem Geröll bemerkt, der zwar der weiten Entfernung wegen nicht deutlich erkennbar war, aber jedenfalls untersucht werden mußte, da er von Menschen herzurühren schien, wenn es nicht gar der nur zum Teil sichtbare Körper eines Menschen war. Um jedoch das Gestein zu erreichen, mußte man zunächst eine tiefe und breite Spalte passieren; diese Spalte war an einer Stelle durch eine Schneebrücke überspannt gewesen, die offenbar erst vor kurzem zusammengebrochen war. Gegenwärtig war es unmöglich, dieselbe ohne künstliche Hilfsmittel zu überschreiten, und deshalb hatte Saltner die Martier heraufgerufen. Er sagte sich, es sei sehr wohl denkbar, daß Torm mit Hilfe des vom Fallschirm abgelösten Seiles auf den Gletscher und von dort auf den Moränenstreifen gelangt sei. Mit großer Aufregung hatte er daher jenen dunklen Gegenstand in der Ferne betrachtet.

Die Martier wanden nun aus ihrem Boot genügend lange Stangen empor, um die Spalten überbrücken zu können, und Saltner verrichtete mit den Eskimos die übrige Arbeit. Alsdann wanderte er über die Felstrümmer weiter, eine Kletterpartie, die übrigens schwieriger war und langsamer vor sich ging, als er ursprünglich erwartet hatte.

La hatte sich ebenfalls emporziehen lassen. Auf ausgebreiteten Fellen ruhend sah sie den Arbeiten der Menschen zu. Sie hatte noch niemals einen Gletscher in der Nähe gesehen, geschweige denn betreten. Auf dem Mars gab es solche Gebilde nicht; die Atmosphäre war viel zu trocken, um dieselben zu unterhalten. Mit Bewunderung blickte sie in das Gewirr von Spalten, Trümmern und Zacken, die mit ihren grünlichen Schatten sich von den rötlich im Sonnenschein schimmernden Schneeflächen abhoben. Gar zu gern hätte sie einen Blick in die unergründliche Eisschlucht hineingetan, welche die Menschen überbrückten, aber sie scheute sich, den mühsamen Gang zu zeigen, mit dem sie sich hätte hinschleppen müssen.

Jetzt waren die Menschen fortgegangen; sie konnten die seltsame Figur nicht mehr beobachten, die sich langsam von den Fellen erhob, ihren Kugelhelm aufsetzte und auf zwei Stöcke gestützt der Spalte zuschlich. Der Weg war gar nicht so anstrengend, wie La glaubte; sie hatte sich doch schon einigermaßen geübt, ihre Glieder unter dem Einfluß der Erdschwere zu bewegen. So gelangte sie an den angebrachten Steg und ließ sich am Rand der Gletscherspalte nieder.

An die eine der hinübergelegten Stangen sich haltend, beugte sie vorsichtig den Kopf über den Abgrund. Dunkelgrün dämmerte die Tiefe, aus der das Rauschen des Schmelzwassers dumpf herauftönte. Genau unter ihr streckte sich ein zackiger Grat ihr entgegen, der die Schlucht der Länge nach durchzog. Ein großer Felsblock war hinabgestürzt und auf dem Grat festgehalten worden. Er bildete eine Art Brücke da unten in der Tiefe. Daneben zeigte ein frischer Spalt seine kristallklaren Eiswände. La konnte sich an dem ungewohnten Schauspiel nicht sattsehen. Schwindel kannte sie nicht. Sie war gewohnt, den Weltraum in seiner Unendlichkeit unter ihren Füßen zu erblicken, wenn das Raumschiff die Leere des Sternenhimmels durcheilte. Aber sie kannte auch nicht die Gefahren dieses mürben, abbröckelnden Elements, auf dessen überhängender Kante sie ruhte. Um besser hinabzublicken, zog sie sich an der Stange weiter und stemmte ihre Füße gegen einen Vorsprung des Randes. Der Vorsprung brach. Zerstiebend stürzte er in die Tiefe. Ihr Fuß verlor die Stütze. Sie wollte sich wieder hinaufschwingen, aber die Last war zu schwer für ihre Kräfte. Der unförmliche Helm hinderte sie, ihren Oberkörper frei an dem Steg zu bewegen, an welchen sie sich geklammert hielt. Sie rief um Hilfe, doch die Stimme drang nur schwach unter dem Helm hervor. Eine erneute Anstrengung brachte ihren Körper höher, aber nun glitt die Stange aus ihrer Lage, ihre Hände verloren den Halt – – La stürzte in den Abgrund.

Ihr Angstschrei verhallte zwischen den Eiswänden der Spalte. Aber der Helm, der ihren Absturz verschuldete, wurde vorläufig zu ihrem Retter. Sie fiel auf die Stelle, welche der auf dem Grat ruhende Felsblock verengte, und der elastische Helm hemmte den Sturz. Er war zertrümmert, aber sie selbst fühlte sich unverletzt, sie hatte das Bewußtsein nicht verloren. Mit den Armen sich festklammernd, lag sie auf dem Felsen, unter sich die finstere Tiefe, über sich den schmalen Lichtstreifen des Himmels, unfähig, sich zu bewegen. Sie vermochte nichts zu ihrer Rettung zu tun, Minute auf Minute verrann. Wann würde man sie bemerken? Konnte sie gerettet werden? Sie war vollkommen ruhig. Das Bild der fernen Heimat stieg vor ihr auf. »Noch einmal möcht ich ihn sehen, meinen schönen Nu«, so klang es in ihr, »aber wenn es nicht sein soll, so füg ich mich Deinem Willen im Weltenplan.«

Da vernahm sie Rufe über sich. Ein Kugelhelm wurde sichtbar. Die Martier hatten ihr Verschwinden bemerkt, sie ward gesehen. Man rief ihr zu, sie möge Mut fassen, man werde den Aufzug herbeischaffen. Sie wußte, daß darüber lange Zeit vergehen müsse; die Martier konnten nur langsam arbeiten. Und sie fühlte, wie die Kälte der Schlucht ihre Glieder erstarren ließ.

Plötzlich hörte sie oben erneute Rufe und schnelle Schritte. Eilende Gestalten schwangen sich über den Steg. La wußte, wer es war. Saltner war mit den beiden Eskimos zurückgekehrt. Kaum hatte er erkannt, was geschehen war, als er sich auch sofort anseilte und von seinen beiden Begleitern in den Spalt hinabsenken ließ. La sah, wie seine Gestalt näher und näher kam. Mit der einen Hand hielt er sich von der Wand der Spalte ab. Und nun kniete er neben ihr auf dem Felsblock. Er löste den Rest ihres Helmes geschickt von ihren Schultern; dumpf donnerte er in den Abgrund. Dann hob er sie empor und sagte besorgte Worte, die sie nur halb verstand. Jetzt erst erfaßte sie der Schwindel, und das Bewußtsein drohte sie zu verlassen. Aber sie fühlte, daß Saltner sie fest umschlang, und in diesem Augenblick wußte sie sich geborgen. Jetzt rief er mit lauter Stimme in seiner Muttersprache nach oben: »Ein zweites Seil!«

La lächelte, ihn dankbar ansehend, und sagte leise: »Kalalek nicht verstehen.«

»Doch, doch!« erwiderte Saltner. Und wirklich, der jüngere der beiden Eskimos rief die deutschen Worte hinab:

»Nicht hier. Warten. Nume kommen.«

La blickte ihn fragend an. Aber er antwortete nicht, er sah, daß sie fror.

»Werft die Decke herab!« rief er.

Man schien ihn jetzt nicht zu verstehen. »Was heißt auf grönländisch Decke?« fragte er.

»Kepik.«

»Kepik!« rief er hinauf.

Eine wollene Decke wurde hinabgeworfen. Saltner schlug den Pickel fest in die Wand und beugte sich weit vor, um sie aufzufangen. Es gelang. Er hüllte La hinein. Er zog seine Feldflasche heraus, die er vorsorglich aus den geretteten Reisevorräten mit Kognak gefüllt hatte. La wußte zwar damit nicht Bescheid, aber er flößte ihr etwas von dem feurigen Getränk ein, das ihr sehr wohltat.

Er berichtete kurz. Sein Ausflug war ohne entscheidenden Erfolg geblieben. Der fragliche Gegenstand war eine der im Ballon befindlichen Decken gewesen, dieselbe, die La jetzt einhüllte. Aber ob sie von Torm mitgenommen und dort zurückgelassen war oder ob sie aus dem Ballon bei seinem Flug verloren und vom Wind hingetrieben worden war, ließ sich nicht feststellen; das letztere war sogar das wahrscheinlichere. Dabei hatte sich überraschenderweise herausgestellt, daß der Sohn des Eskimos einige Worte deutsch verstand. Er war ein Jahr in Diensten deutscher Missionare auf Grönland gewesen und hatte einzelne Worte aufgefaßt, als Saltner mit La deutsch sprach. Nur hatte er in Gegenwart der Martier nicht gewagt, dies zu erkennen zu geben.

Endlich erschienen die Martier wieder am Rand der Spalte. Ein zweites Seil wurde herabgelassen. Saltner machte einen erträglichen Sitz zurecht, und indem er La stützte und mit dem Eispickel beide von der Wand fernhielt, wurden sie glücklich an die Oberfläche befördert.

»Ich weiß, was ich Ihnen verdanke«, sagte La.

Eine tiefe Erschöpfung ergriff sie, und sie mußte bis an das Boot getragen werden.

Man trat sofort die Heimfahrt an.

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