Inzwischen war man auf dem Mars recht ungeduldig. Nachdem die Abreise des ersten Raumschiffs sich bereits verzögert hatte, vergingen weitere fünfundzwanzig Tage, bis die erste kurze Lichtdepesche die glückliche Ankunft desselben auf der Außenstation am Südpol der Erde meldete. Dann dauerte es wieder einige Tage, bis man erfuhr, daß die übrigen Raumschiffe ebenfalls angelangt und die Luftschiffe in Betrieb gesetzt seien. Die Verzögerung der Antwort seitens der britischen Regierung wirkte verstimmend. Man war daher angenehm überrascht, als man vernahm, daß die Regierung zu einem tatkräftigen Vorgehen entschlossen war, und als das Ultimatum an England bekannt wurde, wurden dem Zentralrat und insbesondere Ill lebhafte Ovationen dargebracht. Die nach der Erde mit Verstärkung abgehenden Schiffe wurden mit begeisterten Abschiedshuldigungen gefeiert. Man bedauerte nur, daß die Nachrichten von der Erde so kurz und spärlich waren, weil man auf den schwierigen Verkehr durch Lichtdepeschen angewiesen war.
Mit Spannung sah man der Rückkehr des ersten Raumschiffes entgegen, welches ausführlichere Nachrichten bringen mußte. Aber da die Planeten jetzt von Tag zu Tag sich weiter voneinander entfernten, dauerte die Überfahrt länger. Jetzt war seine Ankunft indessen jeden Tag zu erhoffen. Ill wollte nur dieses Ereignis abwarten, um sich selbst nach der Erde zu begeben.
Niemand aber ersehnte die Ankunft des Schiffes ungeduldiger als Isma. Sollte es ihr doch Nachrichten von der Erde bringen. Sie wußte zwar, daß sie mit diesem Schiff noch keinen Brief von ihrem Mann erhalten konnte, denn es hatte die Erde verlassen, ehe eine Antwort auf ihr Schreiben in Sydney eintreffen konnte. Aber sie hoffte auf Zeitungen, die ja über die Rückkehr Torms Auskunft geben mußten.
Isma lebte einsam und traurig in Ills Haus, und alle Bemühungen der guten Frau Ma, sie zu erheitern, waren vergeblich. Ell begleitete Ill auf seinen häufigen Reisen nach dem Südpol und der Schiffsbaustätte. Bei Isma ließ er sich nicht mehr sehen, und heimlich bereute sie ihre leidenschaftliche Trennung von dem alten Freund. La war in der Ferne. Zu andern Martiern vermochte sie in kein vertrauteres Verhältnis zu kommen. Ihr einziger näherer Umgang war Saltner, der seinen Sprachunterricht in Kla wieder aufgenommen hatte. Aber auch er war nicht mehr der übermütige, lustige Mann wie früher, und Isma bemerkte wohl, daß ihn noch eine andere Sorge drückte als das Heimweh und der Kummer um das Schicksal der Menschen. Und doch war es schon schwer genug, hier in der Verbannung zu leben, während das Vaterland in drohendster Gefahr schwebte.
Und endlich, heute war die Depesche gekommen, daß das Raumschiff in der Nacht gelandet sei. Kaum vermochte Isma ihre Aufregung zu beherrschen. Doch die Aufgaben des Tages mußten erledigt werden, sie zwang sich zur Ruhe, obwohl sie bei jedem Geräusch hoffte, man bringe die ersehnten Nachrichten.
Die französische Konversationsstunde war beendet. Isma schloß die Klappe des Fernsprechers und setzte sich an ihren Schreibtisch. Er war ein Geschenk Ells, der ihn nach dem Muster ihres Schreibtisches in Friedau aus der Erinnerung so gut wie möglich hatte herstellen lassen, weil er wußte, daß Isma die Schreibmaschine und die Möbel der Martier nicht sehr liebte. Sie zog wieder ihr Tagebuch hervor. Die Zeitrechnung machte ihr Schwierigkeiten, denn der Marstag war um 37 Minuten länger als der Erdentag, da sie aber stets einen Marstag gleich einem Erdentag in ihrem Buch gerechnet hatte, so mußte sie alle neununddreißig Tage einen Erdentag überspringen, um nicht gegen den Kalender der Erde zu weit zurückzubleiben. Das war nun jetzt zum viertenmal der Fall – so lange weilte sie auf dem Mars! Sie fand, daß heute auf der Erde der 27. Februar sei, ein Sonntag! Und der Geburtstag ihres Mannes! Wie glücklich hatte sie diesen Tag sonst verlebt, und mit welchen Hoffnungen im vorigen Jahr! Und wo mochte Hugo jetzt weilen? Der Trost, den seine Rettung ihr gewährte, hatte nur auf kurze Zeit angehalten. Die Unmöglichkeit, sich mit ihm so zu verständigen, wie es ihr Herz verlangte, erhöhte nur ihre Sehnsucht und ihre Sorge. Was hatte er von ihr gehört, in welchem Licht mußte sie ihm erscheinen, wie würde er ihre Handlungsweise beurteilen? Konnte er ihr Glauben schenken? Wie enttäuscht und einsam mußte er sich fühlen wenn er das Haus leer fand, wo er sein Glück wiederzufinden hoffte!
Das Herabfallen der Fernsprechklappe schreckte sie aus ihren Gedanken.
»Liebe Isma, sind Sie da? Ja? Ich bringe Ihnen etwas!« Es war die Stimme von Frau Ma. Im Augenblick war Isma aufgesprungen. Schon erschien Ma an der Tür.
»Da, Frauchen«, rief sie, »da haben Sie die ganze Post für Sie. Ein großes Paket, nicht wahr? Ill hat alle deutschen Zeitungen aufkaufen lassen, die in Sydney zu haben waren. Und nun ängstigen Sie sich nicht, es wird alles gut werden. Ich will Sie jetzt nicht stören.« Sie küßte Isma auf die Stirn und ging.
Das Paket, von einem leichten Korbgeflecht umhüllt, lag auf dem Tisch. Ismas Hände zitterten, als sie den Verschluß auseinanderbog. Ein Haufen Zeitungen lag vor ihr. Sie setzte sich und zwang sich zur Ruhe. Systematisch nahm sie ein Blatt nach dem andern zur Hand, sah nach dem Datum und entfaltete es. Die Blätter waren offenbar schon von einer kundigen Hand geordnet. Das erste war vom 24. September vorigen Jahres. Gleich nach dem Leitartikel enthielt es in fettem Druck die Nachricht, daß das englische Kanonenboot ›Prevention‹ auf der Rückkehr begriffen sei. Es habe in der Nähe von Grinnell-Land einen siegreichen Kampf mit einem Luftschiff, angeblich den Bewohnern des Planeten Mars gehörig, bestanden. An Bord befinde sich der Leiter der deutschen Nordpolexpedition, Torm, der von wandernden Eskimos dahin gebracht sei – – –
Isma las nicht weiter. Sie ergriff ein neues Blatt. »Torm in London.« Sie überflog nur die Zeilen. »Tiefergreifend wirkten auf den kühnen Forscher die Nachrichten über das Schicksal der übrigen Expeditionsmitglieder, insbesondere die glückliche Heimkehr Grunthes und die Rettung der wissenschaftlichen Resultate. Aber alles tritt im Augenblick in den Hintergrund gegenüber der Tatsache, daß die Martier –« – Weiter – »Der Festabend der geographischen Gesellschaft litt unter der getrübten Stimmung des Gefeierten, den traurige Familiennachrichten niederdrückten –«
Isma seufzte tief. Sie vermochte kaum zu lesen. Jeden Augenblick fürchtete sie auf ihren Namen zu stoßen und die Verleumdung öffentlich ausgesprochen zu sehen. Aber es war nichts weiter gesagt. Ein anderes Blatt! »Torm in Hamburg. Begeisterter Empfang.« – Weiter! »Torm in Berlin. – Rührendes Wiedersehen von Torm und Grunthe. – Allgemein bedauerte man die Abwesenheit Friedrich Ells, des geistigen und pekuniären Vaters der Expedition, der sich bekanntlich nach dem Mars begeben hat. – Wie wir hören, beabsichtigt Torm, seinen Wohnsitz vorläufig in Berlin zu nehmen –«
Isma atmete auf. Diese Zeitung wenigstens schien diskret zu sein – man wollte offenbar den verdienten Forscher schonen. Und sie, sie sollte schuld sein, daß man ihn schonen mußte? Was mochten andere von ihr sagen? Und warum sagte man nicht offen, weshalb sie fortgegangen war – Grunthe wußte es doch, er konnte sie rechtfertigen.
»Es glaubt ihm niemand!« Wie ein Schrei entrang es sich Isma. Mechanisch blätterte sie weiter. Da haftete ihr Auge auf einer Stelle.
»Infolge der gehässigen Angriffe, die von gewissen Blättern gegen den Martier-Sohn Friedrich Ell gerichtet werden und die sich bemühen, die Gattin unseres großen Landsmanns Torm zu verleumden, sehen wir uns gezwungen, von unserm Grundsatz abzugehen, wonach wir um persönlichen Klatsch uns nicht kümmern. Wir sind jedoch in der Lage, aus bester Quelle jene schamlosen Hetzereien zurückzuweisen, die, soviel wir wissen, ihren Ursprung aus einem Artikel des Friedauer Intelligenzblattes genommen haben. Es war dort gesagt, jedermann in Friedau wisse, daß zwischen Ell und Frau Torm intime Beziehungen seit Jahren bestanden hätten. Die Polarexpedition, so deutete man an, sei von Ell angeregt, um Torm zu entfernen. Auf die Nachricht von seiner zu erwartenden Rückkehr habe Frau Torm ihr Haus verlassen und sei aus Friedau verschwunden. Man vermute, daß sie mit ihrem Freund nach dem Mars gegangen sei, und so weiter. – Dies alles ist erbärmliche Lüge. Herr Dr. Karl Grunthe, der Begleiter Torms, an dessen Wahrhaftigkeit wohl selbst das Friedauer Intelligenzblatt nicht zu zweifeln wagen wird, schreibt uns, daß Frau Torm in seiner Gegenwart in einer mit Ell geführten Unterredung sich entschlossen habe, das Luftschiff der Martier zu benutzen, um auf demselben Nachforschungen nach dem Verbleib ihres verschollenen Gemahls anzustellen und die Rettung desselben zu betreiben. Ohne Zweifel ist es dasselbe Luftschiff, welches in Konflikt mit dem englischen Kanonenboot ›Prevention‹ geraten ist, zu einer Zeit, als sich Torm noch bei den Eskimos befand. Nicht aufgeklärt bleibt nur, warum das Luftschiff Friedau eher als geplant, mitten in der Nacht, verlassen hat und warum es dann, entgegen der Zusage des Befehlshabers, nicht nach Friedau zurückgekehrt ist. Man kann hieraus die Befürchtung ziehen, daß ihm irgendein Unglücksfall zugestoßen ist, und dies um so mehr, als der Kapitän Keswick versichert, durch seine Beschießung das Luftschiff beschädigt zu haben. Alle andern Schlüsse aber sind als Verleumdungen zurückzuweisen. Der heldenmütige Entdecker des wahren Nordpols, den der unerklärliche Verlust seiner geliebten Gattin tief niederdrückt, verdiente wohl, daß man ihn im eigenen Vaterland nicht noch in seinem Teuersten beschimpft.«
Die Nummer der Zeitung war bereits vom November des vorigen Jahres. Die folgenden Nummern, die bis zum Anfang Januar dieses Jahres reichten, schienen nichts weiter über diese Angelegenheit zu enthalten. Wenigstens fand Isma beim eiligen Durchblättern keine dahinzielende Notiz, und sie hoffte schon, die Erklärung habe ihre Wirkung getan.
Isma saß lange unfähig ihre Gedanken zu ordnen, den Kopf in die Hände gestützt. Dann begann sie weiterzusuchen. Es folgten jetzt Exemplare anderer Zeitungen, sogar einige Witzblätter. Da sah sie mit Abscheu und Entsetzen, daß man offenbar im großen Publikum sich nicht an die gegebene Aufklärung kehrte. Wo von Ell die Rede war – und sein Buch über die Martier wurde überall erwähnt – da fand sich auch irgendeine hämische oder witzelnde Bemerkung. Was mußte Torm dabei fühlen! Isma wollte nichts mehr sehen, sie ballte die Hände zusammen. Da erblickte sie auf der halbgebrochenen Seite eines Witzblattes unverkennbar das Gesicht Torms – sie schlug das Blatt auf. Es war eine Karikatur – Torm in einem Luftballon auf dem Nordpol, über ihm ein Luftschiff der Martier, worin Ell und Isma ihm lange Nasen drehen – – Sie las nicht, was darunter stand, sie sprang auf und ergriff den Rest der noch nicht durchblätterten Papiere, um sie fortzuschleudern.
Da, was fällt da herab? Ein zusammengelegtes, geschlossenes Papier – eine telegraphische Depesche – ein Formular des Telegraphenamts in Sydney – die Adresse ist in englischer Sprache geschrieben – ›An die Gesandtschaft der Marsstaaten für Frau Torm‹.
Isma reißt das Papier auf. Der Inhalt ist deutsch, mit lateinischen Buchstaben von einer englischen Hand geschrieben. Die Buchstaben tanzen vor ihren Augen, sie kann sie kaum entziffern.
»Berlin, den 6. Januar. Herzlichen Dank für die Aufklärung durch dein langes, liebes Telegramm! Das Mißgeschick, das dich fernhält, schmerzlich betrauernd, sende ich innige Grüße in treuer Liebe und erhoffe baldiges, ungetrübtes Wiedersehen. Dein Torm!«
Das Telegramm entsank ihrer Hand, und ihre nervöse Spannung löste sich in einem schluchzenden Weinen. Eine direkte Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie wußte, daß die Martier am 2. Januar nach Sydney gekommen waren und das Raumschiff bereits Mitte Januar die Erde wieder verlassen hatte. In dieser Zeit konnte kein Brief nach Berlin gelangen. Dein langes, liebes Telegramm! Also man war so aufmerksam gewesen, ihren ganzen Brief an Torm zu telegraphieren. Ein leichter Schreck durchzog ihr sparsames Hausfrauenherz, wenn sie an die ungeheuren Kosten dieses Riesentelegrammes dachte. Aber es versöhnte sie einigermaßen mit der Hartnäckigkeit der Martier, nur offene Briefe zuzulassen. Sie war glücklich über das Telegramm, das kein Wort des Vorwurfs enthielt, und doch wie wenig sagte es! Aber was kann man auch in einem Telegramm sagen! Sie las die wenigen Zeilen immer wieder.
Ma trat in das Zimmer.
»Sitzen Sie nun schon zwei Stunden über den Blättern, Frauchen? Und geweint haben Sie auch? Ärgern Sie sich nur nicht. Was gibt es denn?«
Isma versuchte zu lächeln. »Hätte ich nur das Telegramm eher gefunden«, sagte sie, »so hätten mich die dummen Menschen weniger gekränkt.«
»Aber Sie haben ja den Korb auf der falschen Seite geöffnet – es hat doch wahrscheinlich obenauf gelegen. Und nun kommen Sie gleich einmal mit mir! Saltner ist da, er hat auch Nachrichten, von seiner Mutter und von Grunthe. Und Ell hat die Depesche hergeschickt, die er von Ihrem Mann bekommen hat. Es ist doch nett von Ell, daß er alle euere Briefe an ihre Adresse hat telegraphieren lassen und sofortige telegraphische Antwort bestellt hat.«
Isma erhob sich. »Ich komme sogleich«, sagte sie.
Also Ell hatte sie es zu verdanken, daß sie schon eine Antwort bekommen hatte! Während sie ihre Augen kühlte und ihr Haar ordnete, bedrückte sie der Gedanke, daß ihr Brief zwanzig Seiten, eng beschrieben – das waren gewiß an die viertausend Worte – enthalten hatte. Wenn Ell das alles telegraphieren ließ, das war ja eine Depesche für zwanzigtausend Mark! Früher hätte sie bei Ell überhaupt nicht daran gedacht, daß zwischen ihnen ein Abwägen des Gebens oder Nehmens bestehen könne, aber jetzt war es ihr peinlich, sich so verpflichtet zu fühlen.
Bei ihrem Eintritt in das Empfangszimmer hielt ihr Saltner zuerst freudestrahlend ein Telegramm entgegen, das sie gar nicht zu entziffern vermochte. Es war von seiner Mutter. Aus den abgebrochenen, nicht ganz dialektfreien Sätzen, welche die gute Frau in der Absicht, recht kurz zu sein, gebaut hatte, war durch den englischen Telegraphisten ein unmögliches Kauderwelsch geworden. Saltner aber genügte es vollständig, daraus die Freude der Mutter über sein Wohlbefinden zu ersehen, und jedes verstümmelte Wort machte er mit rührender Sorgfalt zu einem besonderen Studium.
Grunthe hatte nur kurz an Saltner telegraphiert, daß die plötzliche Abreise Ells sehr störend für die Stimmung der Bevölkerung in bezug auf die Martier sei, da er selbst die gegen Ells Schriften erhobenen Bedenken nicht genügend widerlegen könne. Die politischen Verhältnisse bezeichnete er als ziemlich trostlos; seine Ansicht, daß man alle von den Martiern gestellten Forderungen bewilligen müsse, um ihnen jede Veranlassung zu nehmen, sich in die menschlichen Angelegenheiten einzumischen, finde wenig Anhänger. Man unterschätze die Macht der Martier und baue auf ihre Unfähigkeit, sich außerhalb ihrer Schiffe auf der Erde zu bewegen, während doch rückhaltloses Vertrauen und reiner Wille die einzigen Mittel sein würden, den Einfluß der Nume zum Besten zu lenken.
Isma hatte die Zeilen nur durchflogen, um nun in Ruhe Torms langes Telegramm an Ell zu lesen. Es trug das Datum vom 8. Januar. Zunächst war es rein geschäftlich gehalten, ein Bericht des Leiters der Nordpolexpedition an deren Veranstalter. Was Isma am meisten interessierte, die persönlichen Schicksale Torms, war nur kurz geschildert. Dann aber hieß es:
»Ich bedauere tief, daß Sie den heldenmütigen, aber übereilten Entschluß meiner Frau unterstützten und Friedau unter so ungewöhnlichen Umständen verließen. Mir persönlich, wie dem allgemeinen Interesse entstehen dadurch Schwierigkeiten, die sich noch gar nicht absehen lassen. Bieten Sie allen Einfluß auf, um Ismas Rückkehr zu ermöglichen, und kommen Sie selbst, um Ihre Sache zu führen. Wirken Sie darauf hin, daß die Marsstaaten keine anderen Bestrebungen verfolgen, als ganz allmählich einige ihrer technischen Fortschritte uns zugänglich zu machen. Von jeder direkten Einwirkung befürchte ich Unheil für die Menschen. Ich bleibe vorläufig in Berlin. Leider scheint in den maßgebenden Kreisen Entschlußlosigkeit zu herrschen. Ich bestätige dankend den Empfang der von Ihnen für die nachträglichen Kosten der Expedition angewiesenen Summe von 100 000 Mark. Torm.«
Isma ließ das Blatt sinken. Sie fühlte sich unsäglich elend. Um ihren Mann zu retten, hatte sie sich zur Reise entschlossen, und was hatte sie erreicht! Welche Qualen hatte sie ihm bereitet! Und den Freund abgezogen von seiner höchsten Pflicht, für den Frieden der Planeten zu wirken! Und sie selbst, einsam, machtlos, verbannt – –
Sie sprang auf und faßte Mas Hände.
»Lassen Sie mich fort«, rief sie leidenschaftlich. »Ich muß nach der Erde, ich muß zu meinem Mann! Ich muß Ell sprechen. Wo ist er?«
»Aber Frauchen, was ist Ihnen? Zu Ell können Sie jetzt nicht, er ist nach dem Pol gereist, um mit Ill zu konferieren. Aber beruhigen Sie sich. Die nächsten Tage werden alles entscheiden. Ich darf ihnen sagen, wir verhandeln mit den Mächten, auch mit ihrem Vaterland. Sobald der Frieden gesichert ist, sollen Sie nach Hause.«
»Ich gehe natürlich mit«, rief Saltner. »Auf Ell rechnen Sie nicht, für ihn ist es jetzt zu spät, oder noch zu zeitig. Was er versäumt hat, kann er jetzt nicht einholen. Er hätte mit dem ersten Raumschiff nach dem Südpol gehen und sich sofort nach Deutschland begeben müssen. Das wollte er nicht. Es war ein großes Unrecht.«
»Und wann«, seufzte Isma, »wann kommt endlich die Befreiung.«
Ma sprach einige tröstende Worte, als sie plötzlich abberufen wurde. Schon nach wenigen Minuten kehrte sie zurück.
»Weinen Sie nicht mehr«, sagte sie zu Isma, »ich bringe Wichtiges für sie, hoffentlich Gutes: Nachricht von Ill. Er hat telegraphiert, weil es vertraulich ist, und beim Sprechen weiß man nie, wer zuhört. Nun, ich lese ja schon, hören Sie nur: Soeben meldet Lichtdepesche, daß sämtliche Großmächte, falls England unser Ultimatum nicht annimmt, Neutralität erklärt haben. Wir verpflichten uns gegen Verkehrsfreiheit, jeder Einmischung in politische Angelegenheiten uns zu enthalten. Leider Annahme des Ultimatums durch England aussichtslos.«
Saltner sprang auf. »Das ist doch etwas! So wird der Krieg wenigstens lokalisiert, wenn man so sagen darf. England geht es freilich an den Kragen, es ist ja traurig. Aber wir haben Frieden, Gott sei Dank! Nun dürfen wir zurück, nicht wahr?«
»Ich zweifle nicht«, sagte Ma. »Gibt England nicht nach, so geht übermorgen, sobald Ihr zweiter März anfängt, Raumschiff auf Raumschiff nach dem Nordpol, und Sie dürfen sicher mitreisen. In vier bis fünf Wochen können Sie daheim sein. Aber Frauchen, was machen Sie, wie sehen Sie aus? Gleich kommen Sie mit mir, Sie müssen in Ihr irdisches Schwerekämmerchen!«
Die Aufregung, die Sorge und nun die plötzliche Aussicht auf Heimkehr hatten Ismas Widerstandskraft gelähmt. Alles Blut war aus ihrem Gesicht entwichen, mit bleichen Wangen, einer Ohnmacht nahe, lag sie auf ihrem Sessel. Ma umfaßte sie und führte sie schonend auf ihr Zimmer.
41. Kapitel
England hatte das Ultimatum abgelehnt. Hierauf ging an den Befehlshaber der martischen Streitkräfte auf dem Südpol der Erde die Weisung, mit Gewaltmaßregeln unnachsichtlich, doch ohne Blutvergießen vorzugehen.
Am zweiten März erfolgte die Kriegserklärung.
Eine Mitteilung an die Regierungen und eine Proklamation an alle Völker der Erde besagte, daß vom sechsten März mittags zwölf Uhr an England und Schottland von jedem Verkehr abgeschnitten sein würden. Von diesem Zeitmoment an werde die Blockade über die Küste dieser Länder effektiv sein, und zwar in der Art, daß es keinem Schiff gestattet sein solle, die Zone von fünf bis zu zehn Kilometer Abstand von der Küste weder landwärts noch seewärts zu überschreiten. Alle fremden Schiffe müßten bis dahin die englischen Häfen verlassen haben.
Man lachte in England darüber als über eine Aufschneiderei der Martier. Doch als es sich in der Nacht vom zweiten zum dritten März herausstellte, daß sämtliche Kabel, welche England mit dem Kontinent und mit Irland verbanden, unterbrochen waren und die telegraphische Verbindung somit aufgehoben war, ohne daß eines der vor der Küste kreuzenden Kriegsschiffe bemerkt hatte, wie die hierzu erforderlichen Arbeiten ausgeführt worden seien, beeilten sich die in den Häfen befindlichen fremden Schiffe, sich zu entfernen. Die in England weilenden Ausländer ergriffen scharenweise die Flucht.
Am Morgen des sechsten März hatten alle fremden Schiffe, die es irgend ermöglichen konnten, England verlassen. Auch die Postdampfer legten nicht mehr in den englischen Häfen an. Die Flotte war, soweit sie nicht in den Kolonien gebraucht wurde, vor Portsmouth versammelt. Von allen Schiffen, von allen Befestigungen am Land, von den Anhöhen und den Landhäusern auf Wight spähte man nach dem Gegner aus, der sich anheischig gemacht hatte, ein Land von 230 000 Quadratkilometern Fläche mit einer Bevölkerung von 35 Millionen, geschützt von der stärksten Flotte der Erde, vom Weltverkehr abzusperren. Nichts war zu sehen. Die zwölfte Stunde rückte heran. Einige Schiffe, die von der Blockade noch nichts gehört hatten, passierten ungehindert die zu sperrende Zone. Besonders lebhaft war der Verkehr nach der Insel Wight. Zahlreiche Personendampfer waren hier unterwegs, Boote aller Art belebten das Wasser. Noch fehlten wenige Minuten zu zwölf Uhr. Die Kriegsflotte im Hafen ging unter Dampf. Majestätisch verließ, allen voran, das neue Riesenpanzerschiff ›Viktor‹ von 15 000 Tonnen mit seinen 30 000 indizierten Pferdekräften die Hafeneinfahrt. Die Kanonen donnerten ihren Salut.
Nichts Verdächtiges zeigte sich nach der Seeseite zu. Aber eine Minute vor zwölf Uhr erschienen plötzlich über dem Land sechs dunkle Punkte, die sich schnell vergrößerten. Im Fernrohr erkannte man sie als Luftboote. In eine Reihe aufgelöst hatten sie im Augenblick alle Schiffe überholt und senkten sich dem Wasser zu. Es schlug zwölf Uhr. In demselben Augenblicke wurde die bis dahin ruhige See lebhaft bewegt. Am östlichen Ausgang der Spithead-Bucht, dort wo der Abstand zwischen Wight und der englischen Küste die Breite von zehn Kilometern erreicht, erschien eine gewaltige Brandung, wie durch ein Seebeben aufgewühlt. Die Schiffe, welche sich in der Nähe befanden, beeilten sich, den Wogen zu entgehen, indem sie nach dem Land zurückkehrten.
Nahe über der Oberfläche des Meeres schwebend, markierte ein Luftschiff der Martier den Punkt, bis zu welchem der Absperrungsgürtel sich in die Bucht von Spithead hineinzog. Die übrigen verteilten sich in der Nähe auf der Südseite von Wight und östlich von Portsmouth. Die Martier hatten, indem sie das Wasser durch eine Reihe von Repulsitschüssen aufregten, nur die weiter als fünf Kilometer von der Küste befindlichen Schiffe vertreiben wollen. Weiter durfte sich von jetzt ab kein Schiff vom Land entfernen und keines näher als zehn Kilometer sich der Küste nähern. Indessen blieb der Verkehr westlich von dem markierten Punkt zwischen Wight und der Küste ungehindert, die Insel gehörte mit in den blockierten Bezirk.
Ein großer englischer Dampfer, von Le Havre nach Southampton zurückkehrend, wurde sichtbar. Schneller als ein Pfeil durch die Luft schießend, erreichte ihn eines der Marsschiffe und rief ihm, dicht an Bord hinschwebend, den Befehl zu, umzukehren. Wohl wußte der englische Kapitän, daß er sein Schiff aufs Spiel setze, wenn er dem Gebot nicht folge. Aber von dem Ausguck haltenden Matrosen war ihm bereits gemeldet, daß die Kriegsflotte in der Bucht unter Dampf sei und auf ihn zuhalte. Schon näherte sich der ›Viktor‹ dem Luftschiff, welches die Sperrgrenze markierte; eine Granate sauste unter dem schnell aufsteigenden Luftschiff fort. Unter diesen Umständen glaubte der Kapitän, dem Befehl des Marsschiffes Trotz bieten zu können, und setzte seinen Kurs fort. Aber sofort richtete ein Schlag, der das Schiff an seinem Vorderteil traf, eine starke Verwüstung auf dem Deck an, und von dem Marsschiff wurde ihm zugerufen, daß, wenn er nicht sofort wende, sein Schiff auf der Stelle in Grund gebohrt werden würde. Nun zögerte der Kapitän nicht länger und entfernte sich wieder vom Land, in der Hoffnung, die Flotte werde den Weg bald freimachen.
Inzwischen begann sich die Kriegsflotte in einer Stärke von gegen dreihundert Schiffen, darunter zwanzig Panzerschiffe erster Klasse, in der Bucht von Spithead zu entwickeln und schickte sich an, die blockierte Linie zu forcieren, auf der man nichts bemerkte als drei langsam hin- und hergleitende Luftschiffe der Martier. Auf diese konzentrierte sich jetzt das Feuer von vielleicht fünfzig Geschützen stärksten Kalibers. Geschoß auf Geschoß flog gegen die in mäßiger Höhe schwebenden Ziele. Aber seltsam! Nicht ein einziges Geschoß schien zu treffen. Völlig ruhig, als existierte für sie der Angriff gar nicht, ließen die Martier die Flotte herankommen. Allen voran dampfte die Riesenmasse des ›Viktor‹. Sein gepanzertes Verdeck war, in Rücksicht auf die Erfahrungen der ›Prevention‹ mit dem martischen Luftschiff, mit einer besonderen Konstruktion von Schießscharten versehen, um einen in der Höhe befindlichen Gegner mit Gewehrkugeln begrüßen zu können. Aber das Marsschiff, gegen welches sich jetzt die Handfeuerwaffen richteten, schien gegen dieselben gefeit zu sein. Unheimlich erschien diese Ruhe des Feindes, den man bald direkt über sich erblicken mußte.
Jetzt konnte man an einem der aus dem Hafen dampfenden Schiffe die Admiralsflagge unterscheiden. Sofort hißte auch eines der Marsschiffe, um sich den Engländern, dem menschlichen Gebrauch folgend, kenntlich zu machen, die Flagge, welche die Anwesenheit des obersten Befehlshabers an Bord bezeichnete. Es war dasselbe Schiff, das den von Le Havre kommenden Dampfer eben zurückgewiesen hatte. In noch nicht einer Minute hatte es die zehn Kilometer zurückgelegt, die es vom englischen Admiralsschiff trennten, und hier legte es sich direkt zur Seite des Kommandoturmes, in welchem sich der Admiral, ein königlicher Prinz, neben dem Kapitän des Schiffes befand. Vergeblich richtete sich ein Hagel von Geschossen gegen das kühne Luftschiff. Es schien in einem leichten Nebel zu schwimmen, in welchem Granaten wie Langblei wirkungslos zerrannen. Und nun geschah etwas ganz Unerwartetes. Immer näher rückte das Luftschiff dem Kommandoturm, und lautlos, ein unerhörtes Wunder, lösten sich die stählernen Platten des Panzerturms auf der Seite des Luftschiffs und verdampften oder verschwanden in der Luft. Schutzlos sahen sich die Befehlshaber dem schwebenden Feind gegenüber. Aber kein Angriff auf sie erfolgte. Durch den Donner der Geschütze der in der Front befindlichen Schiffe geschwächt, aber deutlich verständlich vernahmen sie die englischen Worte: »Der Oberbefehlshaber der martischen Luftflotte, Dolf, beehrt sich an Ew. kgl. Hoheit die Bitte zu richten, sämtlichen unter Ihren Befehlen stehenden Schiffen die Weisung zu erteilen, die Flagge zu streichen und sich binnen einer Stunde in den Hafen von Portsmouth zurückzuziehen. Ich würde mich sonst gezwungen sehen, jedes Schiff, das nach zehn Minuten noch seine Flagge zeigt oder einen Schuß abgibt und das nach einer Stunde sich nicht im Hafen befindet, zu versenken, und müßte Ew. kgl. Hoheit für die entstehenden Verluste verantwortlich machen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, war das Luftschiff verschwunden. Aber ehe es noch in die Linie der Marsschiffe zurückgekehrt war, hatte der ›Viktor‹ den Punkt erreicht, den nach der Instruktion der Martier kein Schiff überschreiten durfte. Da ging das dort befindliche Luftschiff aus seiner Wartestellung. Es senkte sich direkt hinter dem Panzerschiff bis dicht über die Oberfläche des Wassers und drängte sich an seine Rückseite. Die Nihilithülle des Luftschiffes, die es gegen jeden Angriff schützte, zersetzte die fünfzig Zentimeter dicken Panzerplatten binnen ebensoviel Sekunden. Ein Repulsitschuß zerstörte das Steuer, ein zweiter schlug schräg von oben nach unten durch das Schiff und zerbrach eine Schraubenwelle. Das Riesenschiff war unfähig, sich zu bewegen. Jetzt erhob sich das Luftschiff wieder und schmolz das Dach des Kommandoturms ab. Mit Entsetzen sah der Kapitän das Schiff über sich schweben, während die von seiner Mannschaft auf dasselbe gerichteten Schüsse nicht die geringste Wirkung zeigten. Ratlos starrte er in die Höhe. Diese Art des Kampfes mit einem unverletzbaren Gegner mußte auch den Tapfersten entmutigen.
Aus dem Marsschiff kam eine Stimme: »Die gesamte Besatzung in die Boote. Das Schiff wird versenkt. Wir müssen ein Exempel statuieren, damit unsre Befehle künftig besser befolgt werden.«
Der Kapitän sah, daß er verloren war. Er ließ die Boote bemannen und abstoßen. Er selbst blieb im Kommandoturm, entschlossen, mit dem Schiffe, dessen Flagge im Winde flatterte, unterzugehen. Die Boote entfernten sich. Das Marsschiff drängte seinen Nihilitpanzer an die Seite des Panzerschiffes, dicht über der Wasserlinie. Die eisernen Wände öffneten sich, während sich das Marsschiff in die Luft erhob. Es wandte sich nach dem Kommandoturm, um den Kapitän an seiner Selbstaufopferung zu verhindern. Aber schon neigte sich der Koloß ›Viktor‹ zur Seite. Mit wehender Flagge sank er in die Flut, die sich weitaufbrausend über ihm und seinem Führer schloß.
Der Kommandant des Marsschiffes trieb sein Boot dicht über den schäumenden Wirbel hin, um nach dem Kapitän des ›Viktor‹ zu suchen. Die Woge brachte ihn nicht zurück. Die Augen der Martier verdüsterten sich, und finsterer Ernst lagerte über ihren Zügen. Noch einmal umkreiste das Boot langsam die Stelle.
»Wir sollen den Willen der Menschen brechen«, sagte der Anführer, den Gedanken der Seinigen Worte leihend, »aber kein Menschenleben soll mit unserem Willen zugrunde gehen. Doch der Wille dieses Tapfern war stärker als der unsere. Er konnte nicht leben, der das stärkste Schiff der Erde nicht weiter als drei Seemeilen über den Hafen hinausgebracht hatte. Gott verzeihe uns, wir wollten nicht töten.«
Ein Signal weckte die Mannschaft aus ihrer Stimmung, die mehr der eines Besiegten als eines Siegers glich. Das Luftboot des Oberbefehlshaber Dolf war zurückgekehrt. »Vorwärts!« rief er dem ersten Marsschiff zu, »drei andere Panzerschiffe durchbrechen die Linie. In den Grund mit ihnen!«
Der Offizier gehorchte schweigend. »Wir sind keine Mörder«, murmelte es in der Mannschaft. Aber das Luftboot stürzte sich auf ein zweites Panzerschiff und zerschmetterte ihm das Steuer und die Maschine. Ein Gleiches taten die übrigen Boote mit den englischen Schiffen, welche die Grenze der Blockade überschritten. Als ein steuerloses, hilfloses Wrack trieben bereits sieben Panzerschiffe erster Klasse auf den Wellen. Aber die Martier versenkten sie nicht, weil sie jeden Augenblick erwarteten, daß der englische Admiral das Signal zur Ergebung und zum Rückzug der Flotte geben würde.
Doch nichts dergleichen geschah. Die zehn Minuten waren längst abgelaufen. Die Flotte rückte weiter vor. Der Admiral konnte sich nicht entschließen, so ruhmlos die Waffen zu strecken, obwohl ihn ein Grauen vor dem unerreichbaren Gegner umfing.
Das Verderben nahm seinen Fortgang. Die Martier begnügten sich überall damit, die Maschinen und Steuervorrichtungen zu zerstören. Obwohl sie ihre sicheren Repulsitströme nur auf das Material wirken ließen, traten trotzdem hier und da Explosionen und Zerschmetterungen ein, denen auch Menschenleben zum Opfer fielen. Doch waren die Verluste der Engländer an Mannschaft gering, ihre Schiffe aber kampfunfähig. Bleiches Entsetzen bemächtigte sich allmählich der Offiziere und Matrosen, als sie sahen, daß sie dem Feind schutzlos preisgegeben waren. Ihre herrlichen Fahrzeuge waren ein Spiel der Wellen. Von den Luftschiffen der Martier, die unverletzlich blieben, verließ nur von Zeit zu Zeit eines den Kampfplatz, um von einem in großer Höhe schwebenden Munitionsschiff seinen Vorrat an Nihilit und Repulsit zu ergänzen. Eine halbe Stunde mochte dies nutzlose Ringen gedauert haben, als auch das Admiralsschiff manövrierunfähig wurde. Ein Luftschiff übersegelte seine Masten, und die Flagge verschwand. Was sich von Schiffen noch bewegen konnte, suchte in den Hafen zu fliehen. Aber dies nützte nun nichts mehr. Ein großer Teil der Schlacht war direkt unter den Kanonen der Festungswerke geschlagen worden. Sie konnten die Vernichtungsarbeit der Martier nicht beeinträchtigen. Die Luftschiffe gingen in den Hafen und zerstörten systematisch die Bewegungsmechanismen sämtlicher Schiffe.
Nun wurde von den Engländern die Parlamentärflagge aufgezogen. Die Martier verlangten als erste Bedingung, daß die Mannschaft der kampfunfähigen Schiffe geborgen werde. Alles, was an Handelsschiffen und Booten aufzutreiben war, wurde darauf nach der Reede entsandt und brachte die Mannschaft der außer Bewegung gesetzten Schiffe ans Land.
Die Engländer hatten jetzt eingesehen, daß es ganz nutzlos sei, ihr Pulver zu verschießen. Sie konnten nur noch darauf bedacht sein, das Leben der Seeleute zu schonen und weiteren Materialschaden zu vermeiden. Als alle Menschen und die Hilfsflottille wieder im Hafen angelangt waren, legten sich zwei der Marsschiffe vor die Mündung und erklärten den Hafen für gesperrt. Die herrenlosen Schiffe trieben unter einem leichten Westwind allmählich in den Kanal hinaus und wurden nach und nach von französischen, holländischen und deutschen Dampfern geborgen, die sich in großer Anzahl in sicherer Entfernung von der Blockadelinie angesammelt hatten und Zeugen des rätselhaften Vernichtungskampfes geworden waren.
Ähnliche Vorgänge wie bei Portsmouth, nur in kleinerem Maßstab, spielten sich überall ab, wo sich Kriegsschiffe an der englischen Küste vorfanden. Die Martier hatten Punkt 12 Uhr am 6. März die gesamte Küste von England und Schottland in ihrer Ausdehnung von fast 4800 Kilometer mit ihren Luftschiffen besetzt, deren sie vorläufig 4 8zur Verfügung hatten. So kam im Durchschnitt eine Küstenlänge von 100 Kilometer auf jedes Schiff. Doch dehnte sich diese Strecke, je nach der Beschaffenheit der Küste, für manche Schiffe auf 500–600 Kilometer aus, während sich die Marsschiffe vor den besuchten Häfen dichter gruppierten. Wo ein Schiff sich zeigte, stürzte sofort ein Luftschiff der Martier herbei und zwang es zur Umkehr oder vernichtete es im Fall des Ungehorsams auf eine solche Weise, daß sich die Mannschaft gerade noch nach der Küste retten konnte. Von außen kommende fremde Schiffe wurden einfach durch einen ins Wasser abgegebenen Repulsitschuß zurückgetrieben. Tatsächlich gelangte außer den einheimischen, kleineren Fischerbooten, die man passieren ließ, kein Schiff mehr vom 6. März an nach der englischen Küste, keines gelangte ins Ausland.
An diesem Tage ward die Macht Englands gebrochen. Die Flotte war vernichtet. Wut und Bestürzung herrschten im ganzen Land. In London war man ratlos. Niemand wußte, wie man sich gegen einen solchen Feind verhalten solle. Das Ministerium trat zurück, aber es fanden sich keine Nachfolger. Man wollte um Frieden bitten, aber die aufgeregte Volksstimme rief nach Rache. Endlich entschloß man sich, den Widerstand fortzusetzen, in der Hoffnung, daß sich Hilfe von auswärts finden werde oder daß man irgendein Mittel entdecke, die Blockade zu brechen. So vergingen Wochen, in denen man nichts hörte, als daß die Martier in diesem oder jenem Hafen noch ein armiertes Schiff entdeckt oder versenkt, daß sie hier eine Werft, dort ein Dock vernichtet hätten. Alle Versuche, den gesperrten Gürtel heimlich im Schutz der Nacht zu passieren, blieben vergeblich. Die Marsschiffe, einen Weg von hundert Kilometern in sieben bis acht Minuten durchsausend, beleuchteten mit ihren Scheinwerfern den gesperrten Streifen taghell, und ehe ein Schiff sich weit genug entfernen konnte, war es aufgefunden. Selbst der Nebel schützte nicht vor Entdeckung. Denn nach einigen Tagen hatten die Martier einen großen Teil der Küste mit einem dünnen, schwimmenden Kabel umzogen, dessen Berührung durch ein Schiff ihnen sofort die getroffene Stelle anzeigte. Und keine Nachricht von außen! Der Handel unterbrochen, alle Arbeiter, deren Beschäftigung von der Schiffahrt abhing, ohne Tätigkeit. Und schon begann die mangelnde Einfuhr der Lebensmittel in einer drückenden Erhöhung der Preise sich zu zeigen.
England war aus der Welt gestrichen. Aber die Welt ging weiter. Neue Raumschiffe kamen an mit neuen Luftbooten. Diese gingen nicht zur Verstärkung der Blockade ab, sondern sie suchten die englischen Kriegsschiffe in den Kolonien auf und bedrohten sie mit Vernichtung, soweit nicht die Befehlshaber sich in den Dienst der Kolonien stellten. Letztere sahen sich plötzlich auf sich selbst angewiesen. Indien, Kanada, die australischen Kolonien und das Kapland erklärten sich für unabhängig und setzten selbständige Regierungen ein. Dasselbe tat Irland. Die Marsstaaten erkannten sie als souveräne und neutrale Staaten an, und so gewaltig war der Eindruck, den die Vernichtung der englischen Flotte auf der ganzen Erde gemacht hatte, daß kein Staat Einspruch gegen diese Veränderungen erhob. Keine Hand rührte sich für England. Die anderen Nationen beeilten sich vielmehr, die bisherigen Handelsgebiete Großbritanniens für sich zu sichern. Von den kleineren Kolonien zog jede Macht an sich, was sie zur Abrundung oder zur besseren Verbindung ihres Besitzes für nötig hielt. Die Beute war vorläufig so reich, daß man sich an diejenigen Gebiete noch nicht machte, die zu Streit unter den Erbteilern hätten Anlaß geben können. Im stillen verhandelten die europäischen Großmächte über eine Teilung des englischen Besitzes am Mittelmeer und eine Auflösung der Türkei.
Jetzt erst ließen die Martier Zeitungen der auswärtigen Staaten nach England gelangen. Was man dort längst befürchtet hatte, war eingetroffen. Die Völker teilten sich in die englische Erbschaft, ohne sich viel darum zu bekümmern, ob der Erblasser wirklich tot sei. Das gab den Ausschlag. Die Furcht, auch das Letzte zu verlieren, bändigte den englischen Nationalstolz. Man bat um Frieden.
Alles, was die Martier verlangt hatten, wurde zugestanden, nur den Kapitän Keswick und den Leutnant Prim konnte man nicht mehr bestrafen. Sie waren bei einem Versuch, die Blockade zu brechen, mit ihrem Schiff untergegangen, von den Martiern aber gerettet worden. Sie befanden sich als Gefangene bereits am Nordpol. Aber auch den gegenwärtigen Zustand in den Kolonien und die Abmachungen der Mächte über die Türkei mußte England anerkennen. Dafür erklärten die Marsstaaten, das nun wehrlose England gegen alle etwaigen weiteren Angriffe auf seinen nunmehrigen Bestand schützen zu wollen. England hatte einen Protektor. – –
Nach einer durch ungeheuren Repulsitverbrauch beschleunigten Fahrt von nur siebzehn Tagen war Ill auf dem Nordpol der Erde eingetroffen. Am fünften April war der Präliminarfriede geschlossen und die Blockade aufgehoben worden.
Aber nicht nur das gedemütigte England beugte sich dem Sieger, der unter den Kanonen von Portsmouth dreihundert Kriegsschiffe binnen drei Stunden durch ein halbes Dutzend Luftschiffe mit nur 144 Mann Besatzung vernichtet hatte. Was die Nachrichten über die hohe Kulturaufgabe der Martier nicht vermocht hatten, das Entgegenkommen der zivilisierten Erdstaaten zu gewinnen, das brachte die Bezwingung Englands durch Nihilit und Repulsit alsbald zustande. Es begann ein förmlicher Wetteifer der Regierungen, die Gunst des martischen Machthabers zu gewinnen, der aus dem reichen englischen Besitz Länder und Meere verschenkte. Die Marsstaaten waren unter dem Namen ›Polreich der Nume‹ nicht nur als ein Faktor im Rat der Großmächte anerkannt, sie nahmen bereits tatsächlich die führende Stellung ein. Unter dem Titel eines Präsidenten des Polreichs und Residenten von England und Schottland übte Ill die Regierungsgewalt im Auftrag der Marsstaaten aus. Alles dies war geschehen, ohne daß ein Martier sein Luftschiff verlassen hatte. in dem großen, in einem Park Londons auf weiter Wiesenfläche ruhenden Luftschiff empfing Ill die Minister Englands und die Gesandten der fremden Staaten. Es erregte daher trotz allem Ungewöhnlichen, das man im letzten Jahr erlebt hatte, nicht geringe Spannung und Befriedigung, daß der Präsident des Polreichs bei den Höfen und Regierungen in Berlin, Wien, Petersburg, Rom, Paris und Washington um einen persönlichen Empfang nachsuchen ließ. Es verlautete, daß sich daran die Einsetzung ständiger Botschafter in diesen Hauptstädten und ein von den Martiern einzurichtender regelmäßiger Luftschiffverkehr mit dem Pol anschließen werde. Im stillen hoffte man, daß das geheimnisvolle Grauen, welches die Personen der Martier für die Menschen umhüllte, verschwinden werde, sobald man Gelegenheit haben würde, sie außerhalb des Schutzes ihrer Luftschiffe unter der natürlichen Schwerkraft der Erde sich beugen zu sehen.
Der einzige Mensch auf der Erde, der diese Hoffnung nicht teilte, war vielleicht Grunthe. Er war überzeugt, daß Ill diesen Schritt nicht getan hätte, wenn nicht die Martier zuvor ein Mittel entdeckt hätten, sich auch außerhalb ihrer Schiffe vom Druck ihres Körpergewichts zu befreien.
42. Kapitel
Torm bewohnte in Berlin zwei bequem eingerichtete Zimmer in einem Hotel garni der Königgrätzer Straße. Nach seiner Rückkehr war er überall der Held des Tages gewesen, den man nicht genug feiern konnte und um so mehr feierte, als Grunthe sich sehr geschickt von der Öffentlichkeit zurückzuziehen wußte. Seit der Ankunft der Martier in Australien und dem Ausbruch ihres Krieges mit England waren aber die beiden Polarforscher, deren Reise die eigentliche Veranlassung war, daß die Martier mit den Staaten der Erde in Verbindung traten, ziemlich in Vergessenheit geraten. Das öffentliche Interesse hatte sich jetzt wichtigeren Gegenständen zugewendet.
Am 20. März, dem Tag nach der Ankunft Ills am Pol, hatte Torm zwei in Calais aufgegebene Depeschen erhalten, datiert aus Kla auf dem Mars, vom 2. März. Die erste enthielt nur die Worte: »Ich komme mit dem nächsten Raumschiff. Deine Isma.«
Die zweite war von Saltner und besagte, daß Frau Torm und er selbst die Erlaubnis zur Heimreise erhalten hätten, da sie aber zum Abgang des Regierungsschiffes nicht mehr zurechtkommen könnten, erst mit dem nächsten Schiff reisen und daher vor Mitte April nicht bei ihm eintreffen würden. Auch Ell habe sich entschlossen, sie zu begleiten. Seitdem hatte Torm keine Nachricht mehr erhalten und konnte auch keine erwarten. Denn kein anderes Raumschiff als der ›Glo‹ legte, wie Grunthe erklärte, bei der jetzigen Planetenentfernung den Weg unter fünf Wochen zurück.
Heute schrieb man den 12. April. Es war ein Festtag in Berlin, das in verschwenderischem Schmuck prangte. Die Gesandtschaft des Mars sollte vom Kaiser empfangen werden. Unter Glockengeläut und Kanonendonner drängte sich eine jubelnde Menge in den Straßen. In goldigem Eigenlicht wie die Morgenröte strahlend, mit nie gesehenen Verzierungen geschmückt, bewegte sich ein glänzender Zug kleiner Luftgondeln, in Mannshöhe über dem Boden schwebend, durch die Straßen; von den Fenstern aus überschütteten die Damen den Zug, trotz der frühen Jahreszeit, mit kostbaren Blumen. Brausende Hurrarufe betäubten das empfindliche Ohr der Martier.
Torm hatte seinen Platz auf der Tribüne im Lustgarten nicht benutzt. Ihm waren diese Martier verhaßt. Hatten sie ihm doch den Haupterfolg seiner Expedition und nun auch die Freude der Heimkehr ins eigene Haus geraubt. Unruhig ging er in seinem Zimmer auf und ab. Es klopfte, und Grunthe trat ein.
»Sie sind auch nicht draußen bei den Narren, ich dachte es mir«, empfing ihn Torm.
Grunthe runzelte die Stirn und blickte finster vor sich hin.
»Es ist eine Schmach«, sagte er, »die Menge bejubelt ihre Unterdrücker. Aber das tut sie immer. Morgen wird sie ebenso in Paris, übermorgen in Rom jubeln, und noch viel ärger. Wenn man das sieht, so kann man nur sagen, diese Menschen verdienen es nicht besser, als von den Martiern vernichtet zu werden. Sie werfen sich ihnen zu Füßen, und so werden sie als Mittel ihrer Zwecke zertreten werden.«
Torm zuckte die Achseln. »Was sollen sie tun? Nihilit ist kein Spaß.«
»Und ich sage Ihnen«, entgegnete Grunthe fast heftig, »kein Martier vermag den Griff des Nihilitapparates zu drehen, keiner einem Menschen seinen Willen aufzuzwingen, wenn ihm der Mensch mit festem, sittlichem Willen gegenübertritt, mit einem Willen, in dem nichts ist als die reine Richtung auf das Gute. Aber jene Engländer – und wir sind nicht besser – hatten nur das eigene Interesse, ihren spezifisch nationalen Vorteil, nicht aber die Würde der Menschheit im Auge, und so sind sie Wachs in den Händen der Martier. Sie können mir glauben, denn ich habe jenem Ill getrotzt, vor dem jetzt Kaiser und Könige sich neigen. Ich weiß es freilich, daß wir verloren sind. Ich habe Ill gesehen, wie er mit seinen Martiern nur einige Schritte durch den Garten der Sternwarte von Friedau schlich, auf Krücken gestützt und zusammenbrechend unter der Erdschwere. Und ich habe ihn heute gesehen, durch den Garten des Kanzlerpalais schreitend, aufgerichtet wie ein Fürst, im schimmernden Panzerkleid; unter den Knien schützten ihn weit nach den Seiten ausgebogene Schäfte und über dem Haupt, auf kaum sichtbaren Stäben, von der Schulter gestützt, der glänzende diabarische Glockenschirm gegen die Schwere. So haben sie es verstanden, sich von dem Druck der Erde unabhängig zu machen. Aber dies alles würde ihnen nichts nützen, wenn wir selbst wüßten, was wir wollen.«
Auf der Treppe entstand Lärm. Man vernahm eine helle Stimme.
»Sakri, lassens mich los! Ich kenn' mich schon aus.«
»Das ist Saltner«, rief Torm. Er stürzte zur Tür. Sie flog auf.
»Da bin ich halt wieder! Grüß Gott viel tausendmal!«
Er schüttelte beiden die Hände.
»Und meine Frau?« war Torms erste Frage.
»Machens sich keine Sorge!« sagte Saltner. »Die Frau Gemahlin wird bald nachkommen, es geht ja jetzt alle paar Tage ein Schiff nach der Erde.«
»So ist sie nicht mitgekommen?« rief Torm erbleichend.
»Sie hat halt nicht gekonnt. Sie ist ein bisserl bettlägrig, aber 's hat weiter nichts auf sich, nur daß sie der Doktor nicht gerad wollt' reisen lassen.«
»So hat sie geschrieben?«
»Schreiben konnte sie nicht. Aber grüßen tut sie gewiß vielmals.«
»So haben Sie sie gar nicht gesprochen?«
»Das war mir gerad in den Tagen nicht möglich, weil sie noch zu schwach war. Aber der Doktor sagt, sie wird bald soweit sein, daß sie reisen kann. Sie brauchen sich wirklich nicht zu ängstigen.«
Torm setzte sich.
»Und Ell?« fragte er finster. »Wo ist Ell?«
»Er ist zurückgeblieben, bis die Frau Gemahlin reisen kann. Er wollte sie nicht allein lassen. Es ist vielleicht unrecht, daß ich allein gereist bin und nicht gewartet hab. Aber schauen Sie, die Sehnsucht, und dann dacht' ich, es wär doch besser, ich brächte Ihnen selbst die Auskunft, als daß wir bloß schreiben sollten.«
»Es ist recht, daß Sie kamen«, sagte Torm, sich erhebend, »verzeihen Sie, daß ich zuerst an mich dachte, ich habe Ihnen ja soviel und herzlich zu danken. Und jetzt komme ich sogleich wieder mit einer Bitte. Sie sollen mir einen Platz auf dem nächsten Raumschiff erwirken, ich will nach dem Mars!«
Saltner und Grunthe blickten ihn erstaunt an.
»Das werden Sie doch nicht tun!« rief Saltner. »Sie würden sich mit der Frau Gemahlin verfehlen.«
»Das werde ich nicht. Ill ist hier. Grunthe wird mir die Bitte nicht verweigern, er wird mit ihm sprechen, uns eine Lichtdepesche zu gewähren. Wir werden erfahren, ob Isma noch dort ist, wir werden uns verständigen. Und wenn ihre Krankheit noch anhält, so werde ich reisen. Ich werde.«
»Das Reisen läßt sich schon machen. Ich bin jetzt mit der Gesandtschaft, das heißt heute im Nachtrab, angekommen, daher weiß ich's. Von jetzt ab geht alle Wochen ein Luftschiff von hier nach dem Pol, und von dort an jedem 15. des Monats ein Raumschiff nach dem Mars, das Menschen als Passagiere mitnimmt. Man will den Planetenverkehr eröffnen. Es kostet hin inklusive Verpflegung bloß 500 Thekel – 5000 Mark wollte ich sagen.«
Torm sah ihn verwundert an. »Bloß?« fragte er.
»Ja, wir haben Geld. Fünftausend Mark sind die Währungseinheit.«
Torm ergriff seine Hand. »Setzen Sie sich erst und erzählen Sie dann.«
Saltner nahm Platz und begann zu sprechen. Grunthe fragte mitunter dazwischen. Torm aber hörte nur halb, seine Gedanken waren auf dem Mars. Sie war krank! Und immer wieder kam ihm die Frage, wie konnte Saltner dessen sicher sein? War sie auch wirklich krank? Und wenn sie nicht krank war?
»Ich muß reisen!« rief er plötzlich.
»Nun, nun«, sagte Saltner beruhigend. »Im Moment können Sie nichts tun. Ill ist jetzt gerade im Schloß.«
Torm sank auf seinen Platz zurück.
Erneuter Kanonendonner verkündete, daß sich der Kaiser neben dem Präsidenten des Polreichs vor dem jubelnden Volk zeigte.
Grunthe stand auf und schloß das Fenster.
*
Isma lag bleich und angegriffen auf ihrem Sofa. Langsam genas sie von der schweren nervösen Krankheit, die sie unter dem Zusammenwirken der ungewohnten Lebensverhältnisse und der seelischen Aufregungen ergriffen hatte.
Hil trat bei ihr ein.
»Wann kann ich reisen?« war, wie immer, ihre erste Frage.
»Nun, nun«, sagte er, »sobald wir kräftig genug sind.«
»Ach, Hil, das sagen Sie nun schon seit vierzehn Tagen. Lassen Sie es mich doch versuchen!«
»Erst müssen wir einmal einen Versuch machen, wie es Ihnen bekommt, wenn Sie hier in Ihrem Zimmer anfangen, wieder ein wenig mit der Welt zu verkehren. Es wartet da schon lange einer, der Sie gern einmal sprechen und sehen möchte, aber ich habe bis jetzt nicht erlaubt –«
»Und heute darf er kommen, ja?« unterbrach ihn Isma lebhaft.
Hil lächelte. »Es ist ein gutes Zeichen, daß Sie selbst danach verlangen. Aber hübsch ruhig, Frau Isma, und höchstens ein Viertelstündchen! So will ich es ihm sagen lassen.«
Er verabschiedete sich.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Ell eintrat.
Eine leichte Blutwelle drängte sich in Ismas Wangen, als sie ihm langsam die schlanke Hand entgegenstreckte, die er leidenschaftlich küßte. Lange hielt er die Hand fest, bis sie sie ihm sanft entzog.
»Sie sind schon lange zurück?« sagte sie endlich verlegen.
»Auf die Nachricht, daß Sie reisen dürften, kam ich hierher. Ich hätte Sie nicht allein reisen lassen, obwohl – doch sprechen wir von Ihnen. Ich fand Sie erkrankt. Es war unmöglich, Sie wiederzusehen.«
»Und Sie sind mir nicht mehr böse?«
»Isma!«
»Ich habe es eingesehen, ich war ungerecht gegen Sie. Und ich war doch schuld, daß Sie Ihren Posten auf der Erde verließen –«
»Sie wollten das Beste. Ich aber habe eine Schuld auf mich geladen – und ich werde sie büßen müssen. Jetzt ist für mich auf der Erde nichts mehr zu tun, aber die Zeit wird wieder kommen. Dann soll es nicht an mir fehlen.«
»Und Sie wollen mich begleiten?«
»Wenn Sie reisen dürfen. Aber –«
»Was haben Sie, Ell? Seien Sie aufrichtig, ich beschwöre Sie – sagen Sie mir die Wahrheit! Sie glauben, ich werde nie wieder –«
»Um Gottes willen, Isma, wenn Sie so sprechen, darf ich nicht hierbleiben. Sie dürfen sich nicht erregen. Sicherlich ist Ihr Gesundheitszustand in kurzer Zeit so vorgeschritten, daß Sie die Reise antreten dürfen. Nein, ich dachte nur an Verzögerungen, die möglicherweise aus anderen Gründen eintreten könnten, falls sich der Antritt der Reise nicht bald ermöglichen läßt –«
»Verbergen Sie mir nichts. Man sagt mir sehr wenig von der Erde. Ich denke, Ill ist mit so großartigem Jubel in Berlin aufgenommen worden. Und mein Mann ist gesund –«
»Darüber können Sie beruhigt sein. Ich darf Ihnen noch mehr sagen, Hil hat es jetzt erlaubt. Sollten Sie aus irgendeinem Grund an der Reise verhindert sein, so werden Sie Ihren Mann doch bald wiedersehen. Er ist an der Nordpolstation und erwartet dort die Nachricht, ob Sie kommen oder ob er nach dem Mars reisen soll.«
»Nach dem Mars will er kommen! Und das wissen Sie? Und ich –?«
»Briefe können noch nicht hier sein. Es kam nur eine Lichtdepesche von Ill. Aber Hil wollte Sie mit der Nachricht nicht aufregen – nun seien Sie auch vernünftig und zeigen Sie, daß Sie die Probe bestehen und uns nicht wieder kränker werden.«
»Er will kommen! Aber wozu? Ich möchte doch lieber nach der Erde!«
»Das sollen Sie ja auch. Nur für den Fall –«
»Was für einen Fall?«
»Wenn zum Beispiel die Verhältnisse auf der Erde in der nächsten Zeit sehr unruhig werden sollten –«
»Ich denke, alles ist jetzt friedlich.«
»Die letzten Nachrichten sind weniger erfreulich.«
»Erzählen Sie, schnell! Unsre Viertelstunde ist bald um.«
»Die Mächte sind in Streit geraten. Was soll ich Sie mit den politischen Einzelheiten ermüden, die ich selbst nur mangelhaft hier kenne, weil bisher erst Lichtdepeschen hergelangt sind. Es ist der Streit um die englische Erbschaft. Frankreich und Italien, Deutschland und Frankreich, Österreich und Rußland rechten um ihre Grenzen im Kolonialbesitz in Afrika, Asien und der Türkei. Am Mittelmeer gibt es kaum einen Punkt, über den man sich einigen kann. England ist ohnmächtig, die Marsstaaten schützen es in einigen Punkten, und gerade diese möchten die andern haben. Die Staaten rüsten gegeneinander, schon sind an den Kolonialgrenzen Schüsse gefallen, man muß darauf gefaßt sein, daß ein Weltkrieg ausbricht. Dies werden die Martier auf keinen Fall zugeben, und so steht zu befürchten, daß wir zu neuen Gewaltmaßregeln gegen die Menschen, diesmal auch gegen Deutschland, getrieben werden. Deshalb wäre es gut, wenn Sie bald reisen könnten, ehe vielleicht wieder eine Sperrung eintritt. Auf jeden Fall aber würde Torm hierherkommen dürfen. Das hat Ill ihm zugesichert.«
Isma schüttelte den Kopf. »Was Sie da alles sagen, verwirrt mich, ängstigt mich –« Und nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Aber ich will gesund sein! Ich will gar nicht darüber nachdenken. ich fühle, daß ich Ruhe brauche. Ich danke Ihnen herzlich, Ell, daß Sie gekommen sind. Nun weiß ich doch wieder, daß ich nicht verlassen bin.«
Sie reichte ihm die Hand.
»Leben Sie wohl, Isma. Sie können ganz ruhig sein. Sie werden bald gesund sein.«
Er sah sie an mit den alten, treuen Augen und ging. Sie lächelte müde und lehnte sich zurück. Die Lider fielen ihr zu.
»Ich will gesund sein«, dachte sie. Aber sie hörte schon nicht mehr, daß Hil bei ihr eintrat und sie teilnahmsvoll betrachtete.
*
Eine Woche später, es war ein herrlicher Maitag, tobte eine aufgeregte Volksmenge in den Straßen der europäischen Städte. Überall hörte man Beschimpfungen der Martier. Wo man vor vier Wochen gejubelt hatte und Hurra geschrien, ertönte jetzt: »Nieder mit dem Mars!« Die Geschäfte mit Marsartikeln, die wie Pilze in die Höhe geschossen waren, sahen sich genötigt, ihre Läden zu schließen. »Nieder mit den Glockenjungens«, hieß es in Berlin, wo man die Martier ihrer diabarischen Helme wegen mit diesem geschmackvollen Titel beehrte. Die Menge demonstrierte vor dem Gebäude, das die Marsstaaten für ihre Botschaft gemietet hatten. Auf dem flachen Dach ruhten die Luftschiffe, bereit, in der nächsten Stunde die Hauptstadt zu verlassen.
Aber nicht weniger erregt, vielmehr erfüllt von einem heiligen Zorn, war die Stimmung auf dem Mars. Die Nachricht von einem ungeheuren Blutvergießen der Menschen untereinander war angelangt. In der Türkei und in Kleinasien, wo man hauptsächlich nur aus Furcht vor England sich soweit im Zaume gehalten hatte, daß die europäischen Fremden sich sicher fühlen durften, war jetzt diese Schranke gefallen. Der mohammedanische Fanatismus flutete über. Auf einen heimlichen Wink der türkischen Regierung erhoben sich die Massen. Ein entsetzliches Gemetzel begann gegen die Christen. Die Gebäude der Botschaften wurden erstürmt, Männer, Kinder und Frauen binnen einer Nacht in gräßlicher Weise gemordet. Und furchtbar war die Rache. So weit die Kanonen der fremden Kriegsschiffe reichten, wurden am andern Tag die blühenden Küsten, Paläste und Moscheen Konstantinopels in Trümmerhaufen verwandelt. Und nicht genug damit. Zwischen den europäischen Staaten selbst entbrannte die Eifersucht, wer die Trümmer mit seinen Truppen besetzen sollte. Der Krieg war so gut wie ausgebrochen, ehe er formell erklärt war.
Tiefe Empörung ergriff die Bevölkerung der Marsstaaten. Der Antibatismus gewann die Oberhand. Das Parlament forderte von der Regierung die sofortige Unterdrückung der Greuel und die Herstellung des Friedenszustandes auf der Erde. Am 12. Mai beschloß das Parlament unter Zustimmung des Zentralrats folgendes:
»Da die Menschen nicht fähig sind, aus eigener Macht unter sich einen friedlichen Kulturzustand zu erhalten, sieht sich die Regierung der Marsstaaten gezwungen, hiermit das Protektorat über die gesamte Erde zu erklären und jede politische Aktion der Erdstaaten untereinander, ohne vorherige Zustimmung der Marsstaaten, zu verbieten. Der Präsident des Polreichs der Nume auf der Erde wird beauftragt und bevollmächtigt, alle Maßregeln sofort anzuordnen, die er für notwendig erachtet, um dem ausgesprochenen Willen der Marsstaaten auf der Erde, und zwar zunächst in Europa, Geltung zu verschaffen.«
Es war dieser Beschluß der Marsstaaten und die von Ill hinzugefügte Erklärung, wodurch die Bevölkerung aller zivilisierten Staaten in so außerordentliche Aufregung geraten war. Die Mitteilung an die Regierungen war gleichzeitig in Form einer Bekanntmachung in den europäischen Staaten von den Martiern verbreitet worden. Man zerriß jetzt die Blätter, die sie enthielten, man entfernte die Plakate von den Häusern. Die Bekanntmachung lautete folgendermaßen:
»Indem ich den vorstehenden Beschluß der Marsstaaten zur allgemeinen Kenntnis bringe, übernehme ich mit dem heutigen Tage in ihrem Namen die Schutzherrschaft über alle Staaten der Erde und bestimme wie folgt:
Alle Regierungen und Nationen werden bis auf weiteres in ihren verfassungsmäßigen Rechten bestätigt und sind in ihren inneren Angelegenheiten frei, mit Ausnahme der unten angegebenen Bestimmung über das Heerwesen.
Alle internationalen Verträge und Kundgebungen bedürfen zu ihrer Gültigkeit der durch mich zu vollziehenden Bestätigung der Marsstaaten.
Alle Kriegsrüstungen sind verboten. Die von den europäischen Regierungen ausgegebenen Mobilisierungsbefehle sind aufzuheben. Die Friedenspräsenzstärke ihrer Heere wird auf die Hälfte der bisherigen herabgesetzt. Die Hauptwaffenplätze werden unter Oberaufsicht eines von mir zu ernennenden Beamten gestellt.
Alle Regierungen werden eingeladen, bevollmächtigte Vertreter zu der Weltfriedenskonferenz zu entsenden, die am 30. Mai unter meinem Vorsitz am Nordpol der Erde wird eröffnet werden.
Von der Bevölkerung der Erde erwarte ich, daß sie die Bemühungen der Marsstaaten, ihr die vollen Segnungen des Friedens und der Kultur zu bringen, mit allen Kräften unterstützen wird.
Gegeben am Nordpol der Erde, den 15. Mai
Ill, Präsident des Polreichs der Nume. Bevollmächtigter Protektor der Erde.« |
Mit klingendem Spiel und von der Menge mit Hochrufen begrüßt rückten zwei Kompagnien der Garde vor das Gebäude der Botschaft der Marsstaaten, um dasselbe gegen etwaige Übergriffe der aufgeregten Bevölkerung zu schützen. Ein Adjutant begab sich in das Haus, um dem Botschafter zu melden, daß die Regierung Seiner Majestät dem Präsidenten des Polreichs nach dem bereits telegraphisch übermittelten Protest nichts weiter mitzuteilen habe.
Eine Viertelstunde später erhoben sich die Luftschiffe der Martier und richteten unter dem tobenden Gejohle der Menge ihren Flug nach Norden.
43. Kapitel
Es war an einem regnerischen Augustabend des Jahres, das auf die tumultuarische Abreise der Gesandtschaft der Marsstaaten aus Berlin gefolgt war, als ein Mann, in einen Reisemantel gehüllt, hastig die menschenleere Straße hinaufstieg, die nach der Sternwarte in Friedau führte. Ein dichter Bart und der tief ins Gesicht gerückte Hut ließen wenig von seinen Zügen erkennen. Hin und wieder warf er aus scharfen Augen einen scheuen Blick nach der Seite, als fürchtete er, beobachtet zu werden. Aber niemand bemerkte ihn. Die Laternen waren noch nicht angezündet, und der leise niederrieselnde Regen verschluckte das letzte Licht der Dämmerung.
Je näher der Fremde dem eisernen Gittertor der Sternwarte kam, um so mehr verzögerte sich sein Schritt, als suche er einen Augenblick hinauszuschieben, den er noch eben so eilig erstrebte. Vor dem Tor stand er eine Weile still. Er spähte nach den dunkeln Fenstern des Gebäudes. Er nahm den Hut ab und trocknete die Stirn. Sein Gesicht war tief gebräunt und trug die Spuren harter Entbehrungen und schwerer Sorgen, die ihm das Haar gebleicht hatten. Mit einem plötzlichen Entschluß zog er die Klingel.
Es dauerte lange, ehe sich ein Schritt hören ließ. Ein junger Hausbursche öffnete die Tür.
»Ist der Herr Direktor zu sprechen?« fragte der Fremde mit tiefer Stimme.
»Der Herr Doktor Grunthe ist ausgegangen«, antwortete der Diener. »Aber um halb neun kommt er wieder.«
»Ist denn Herr Dr. Ell nicht mehr hier?«
»Den kenne ich nicht. Oder – Sie meinen doch nicht etwa – aber das wissen Sie ja –«
»Ich meine den Herrn Dr. Ell, der die Sternwarte gebaut hat.«
»Ja – der Herr Kultor residieren doch in Berlin –«
Der Fremde schüttelte den Kopf. »Ich werde in einer Stunde wiederkommen«, sagte er dann kurz.
Er wandte sich um und ging. Der Herr Kultor? Was sollte das heißen? Er wußte es nicht. Gleichviel, er würde ihn finden. Also Grunthe war hier. Das war ihm lieb, bei ihm konnte er Auskunft erhalten. Aber wohin inzwischen?
Einige Häuser weiter, in einem Nebengäßchen, leuchtete eine rote Laterne. Er fühlte das Bedürfnis nach Speise und Trank. Er wußte, die Laterne bezeichnete ein untergeordnetes Vorstadtlokal; von den Gästen, die dort verkehrten, kannte ihn gewiß niemand, würde ihn niemand wiedererkennen. Dorthin durfte er sich wagen.
Er trat ein und nahm in einer Ecke Platz. Das Zimmer war fast leer. Er bestellte sich etwas zu essen.
»Wünschen Sie gewachsen oder chemisch?« fragte der Wirt.
»Was ist das für ein Unterschied?«
Der Wirt sah den Fremden erstaunt an. Dieser bedauerte seine Frage, da er sah, daß er dadurch auffiel, und sagte schnell: »Geben Sie mir nur, was das Beste ist.«
»Das ist Geschmackssache«, sagte der Wirt. »Das Gewachsene ist teurer, aber wer nicht für das Neue ist, zieht es doch vor.«
»Was essen Sie denn?« fragte der Fremde.
»Immer chemisch, ich habe eine große Familie. Und – es schmeckt auch besser. Aber, wissen Sie, man will es mit keinem verderben – und das Gewachsene gilt für patriotischer. Ich habe sehr patriotische Gäste.«
»Vor allen Dingen bringen Sie mir etwas, ich habe nicht viel Zeit. Also chemisch.«
»Kohlenwurst, Retortenbraten, Mineralbutter, Kunstbrot, alles modern, aus der besten Fabrik, à la Nume.«
»Was Sie wollen, nur schnell.«
Der Wirt verschwand, und der Fremde griff eifrig nach einer Zeitung, die auf dem Nebentisch lag. Es war das ›Friedauer Intelligenzblatt‹. Mit einer plötzlichen Regung des Ekels wollte er das Blatt wieder beiseite schieben, aber er überwand sich und begann zu lesen. Zufällig haftete sein Blick auf ›Gerichtliches‹.
»Wegen mangelhaften Besuchs der Fortbildungsschule für Erwachsene wurden achtundzwanzig Personen mit Geldstrafen belegt; eine Person wurde wegen dauernder Versäumnis dem psychologischen Laboratorium auf sechs Tage überwiesen. Dem psychophysischen Laboratorium wurden auf je einen Tag überwiesen: drei Personen wegen Bettelns, eine Person wegen Tierquälerei, fünf Personen wegen Klavierspielens auf ungedämpften Instrumenten. Die Klaviere wurden eingezogen. Der ehemalige Leutnant v. Keltiz, welcher seinen Gegner im Duell verwundete, wurde zu zehnjähriger Dienstleistung in Kamerun, die beiden Kartellträger zu einjähriger Deportation nach Neu-Guinea verurteilt. Allen wurden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Der vom Schwurgericht zum Tode verurteilte Raubmörder Schlack wurde zu zehnjähriger Zwangsarbeit in den Strahlenfeldern von Tibet begnadigt.«
Kopfschüttelnd sah der Fremde nach einer andern Stelle und las: »Die Petition, welche mit mehreren tausend Unterschriften aus Friedau an den Verkehrsminister gerichtet war und die Bitte aussprach, unserer Stadt eine Haltestelle für das Luftschiff Nordpol-Rom zu gewähren, hat wieder keine Beachtung gefunden. Unsere Leser wissen wohl, warum unsere Stadt bei gewissen einflußreichen Numen schlecht angeschrieben steht. Wir werden uns trotzdem nicht abhalten lassen, immer wieder darauf hinzuweisen, daß das rätselhafte Verschwinden unseres großen Mitbürgers und Ehrenbürgers Torm im Mai vorigen Jahres noch immer nicht aufgeklärt worden ist, wie unangenehm die Erinnerung daran auch für manche sein mag.«
Das Blatt zitterte in der Hand des Fremden. Seine Augen überflogen noch einmal die Stelle. Da trat der Wirt mit den Speisen herein. Der Gast legte die Zeitung möglichst unbefangen beiseite.
»Der Retortenbraten ist leider ausgegangen«, sagte der Wirt. »Aber die Kohlenwurst ist zu empfehlen, von richtiger Friedauer Schweinewurst gar nicht zu unterscheiden. Bestes Mineralfett darin, nicht etwa Petroleum, die Kohle ist aus atmosphärischer Kohlensäure gezogen, der Wasserstoff aus Quellwasser, der Stickstoff ist vollständig argonfrei, die Zellbildung nach neuester martischer Methode im organischen Wachstumsapparat hergestellt mit absoluter Verdaulichkeit –«
»Es ist wirklich sehr gut«, sagte der Gast, mit großem Appetit essend. »Aber wo haben Sie denn Ihre Chemie her?«
»Ich? Was meinen Sie denn? Muß ich nicht jeden Tag zwei Stunden in der Fortbildungsschule sitzen? Denken Sie, ich gehe nur hin, um meine zwei Mark Lern-Entschädigung einzustreichen? Da war neulich einmal so ein König oder Herzog vom Mars hier durchgereist, der sich die Erde beschauen wollte, der wollte mich durchaus als chemischen Küchenchef mitnehmen, habe es aber abgeschlagen, weil es auf dem Mars keine Hühner gibt. Und ein richtiges Rührei, das ist das einzige Erdengut, wovon ich mich nicht trennen kann. Soll ich Ihnen vielleicht eins machen lassen?«
»Ich danke, geben Sie mir noch ein Glas Bier.«
»Sofort. Nicht wahr, das ist fein? Das exportieren wir sogar nach dem Mars. So was haben sie dort noch gar nicht gekannt, wie das Friedauer Batenbräu.«
»Verkehren denn auch Martier bei Ihnen?«
»Nume meinen Sie? Oh, ich könnte sie schon aufnehmen, habe ein paar Extrazimmer. Gewiß verkehren sie hier, ich meine, sie werden noch verkehren, ich werde auf dem Mars annoncieren lassen. Fritz, noch ein Bier für den Herrn! Das ist mein Oberkellner. Ist so vornehm daß er erst abends um acht Uhr antritt. Sie werden gleich sehen, wie voll mein Lokal wird, jetzt ist nämlich die Fortbildungsschule aus, dann kommen die Herren hierher.«
»Wo ist denn die Fortbildungsschule?«
»Die Kaserne ist gleich nebenan, in der nächsten Straße.«
»Das weiß ich, aber die Schule?«
Der Wirt machte wieder ein erstauntes Gesicht. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »sind Sie denn nicht aus Europa? Dann müßten Sie doch wissen, daß die Kasernen so ziemlich alle in Schulen umgewandelt sind?«
»Ich war allerdings zwei Jahre verreist, in China und Indien –«
»Zwei Jahre! Ei, da wissen Sie wohl gar nicht –. Militär haben wir ja nicht mehr, bis auf fünf Prozent der früheren Präsenzstärke. Dafür bekommt jeder eine Mark pro Stunde, die er in der Fortbildungsschule sitzt. Ich sage Ihnen, gelehrt sind wir schon, das ist kolossal. Nächstens gebe ich ein philosophisches Buch heraus, auf das will ich Stadtrat werden, oder vielleicht Regierungsrat. Nämlich wegen der Schwerkraft. Auf dem Mars ist doch alles leichter. Nun schlage ich vor, wenn man schwer von Begriffen ist, so geht man auf den Mars, und dort – ah, guten Abend, Herr von Schnabel, guten Abend, Herr Doktor, guten Abend, Herr Direktor –, entschuldigen Sie, ich will nur die Herren bedienen –«
Der Wirt wandte sich zu den eingetretenen Gästen, die sich an ihren Stammtisch setzten.
Der Fremde hatte seine Mahlzeit beendet. Er sah nach der Uhr, es war noch zu früh, um Grunthe zu treffen. Er rückte sich tiefer in die Ecke, blickte in die Zeitung und wandte den Gästen den Rücken zu. Sie waren ihm bekannt. Seltsam, dachte er im stillen, während er, scheinbar in seine Lektüre vertieft, auf ihre Stimmen hörte, wie kommen die Leute in diese Vorstadtkneipe? Früher hatten sie ihren Stammtisch im ›Fürst Karl Sigmund‹, dieser Schnabel führte da das große Wort. Er scheint auch jetzt wieder zu schimpfen.
Die halblauten Stimmen der Stammgäste waren deutlich vernehmbar, insbesondere das hohe, quetschige Organ Schnabels.
»Haben Sie wieder den Knicks von der Warsolska gesehen«, sagte Schnabel, »wie der Kerl, der Dor, rausging? Und wie die Anton die Augen verdrehte? Und die haben am allermeisten geschimpft, als die ersten Instruktoren herkamen. Und jetzt fletschen sie vor Vergnügen die Mäuler.«
»Und bei Ihnen war's umgekehrt, lieber Schnabel«, sagte Doktor Wagner, mit einem Auge blinzelnd. »Jetzt schimpfen Sie, aber ich kenne einen, der an den ersten Instruktor Wol einen großen Rosenkorb geschickt hat mit den schönen Versen:
Sei mir gegrüßt, erhabner Nume, Dich kränzet zu der Erde Ruhme Ein Bat mit seiner schönsten Blume –« |
»Ach, hören Sie auf«, rief Schnabel ärgerlich. »ich hatte mir die Geschichte anders gedacht. Ich bin von den Numen enttäuscht worden –«
»Und die Warsolska ist wahrscheinlich nicht enttäuscht worden.«
»Die verdammten Kerle. Aber die Anton ist doch eigentlich über die Jahre hinaus –«
»Pst! meine Herren, Vorsicht!« sagte der Fabrikbesitzer Pellinger, den der Wirt mit Herr Direktor angeredet hatte. »Das Klatschgesetz ist bereits in erster Lesung angenommen. § 1: Wer unberufenerweise das Privatleben abwesender Personen beurteilt, wird mit psychologischem Laboratorium nicht unter zwölf Tagen bestraft.« Und sein kahles Haupt über den Tisch beugend, richtete er seine schwarzen Augen auf Schnabel und fuhr fort: »Wie sagt doch der Dichter?
Denn herrlicher als Kant und Hume Hebt uns die Weisheit hoher Nume Empor zu freiem Menschentume.« |
Darauf brach er in ein kräftiges Lachen aus.
»Seien Sie endlich still mit Ihren Versen, es ist gar nicht zum Lachen«, brummte Schnabel.
»Es sind ja auch gar nicht meine Verse.«
»Na, meine auch nicht.«
»Ei, ei«, sagte Wagner, »von wem haben Sie sie denn machen lassen?«
»Ich glaube, Sie wollen mich beleidigen!« rief Schnabel.
»§ 2 des Klatschgesetzes!« sagte Pellinger: »Der Begriff der Beleidigung ist aufgehoben. Eine Minderung der Ehre kann nur durch eigene unwürdige Handlungen, niemals durch die Handlungen anderer erfolgen.«
»Das ist die richtige dumme Martiermoral. Wie kann der Reichstag sich auf solche Gesetze einlassen? Die Demokraten haben ja freilich die Majorität. Aber die Regierung! Sie dürfte sich nicht von den Martiern einschüchtern lassen.«
»Die Regierung heißt Ell, Kultor der Numenheit für das deutsche Sprachgebiet in Europa«, sagte Wagner.
»Dieser Schuft«, rief Schnabel. »Der Kerl hat elend vor meiner Pistole gekniffen und ist auf den Mars ausgerissen. Und jetzt spielt er hier den Diktator. Ich werde den Burschen –«
»Pst, meine Herren, Vorsicht!« flüsterte Pellinger. »Schimpfen können Sie, soviel Sie wollen, Herr von Schnabel. Sehen Sie, das ist eben das Gute an der Numenherrschaft, das müßten Sie doch dankbar anerkennen, es kann Sie niemand wegen Beleidigungen verantwortlich machen. Aber um Himmels willen nicht vom Fordern reden. Seien Sie froh, wenn Ell Gründe hat, nicht auf Ihre Affäre vor zwei Jahren zurückzukommen. mit dem Laboratorium ist es dann nicht abgetan, Sie kommen nach Neu-Guinea oder auf die neuen Strahlungsfelder in der Libyschen Wüste.«
»Sie beschönigen natürlich alles, Herr Pellinger.«
»Wieso?«
»Wie war denn das, als wir neulich von Leipzig zurückkamen und gemütlich in unserm Wagenabteil schliefen. In – Dingsda – auf einmal wird die Tür aufgerissen – steht so ein Nume da in abarischen Stiefeln mit seiner Käseglocke über dem Kopf und winkt bloß mit der Hand. Im Augenblick ist alles hinaus, und der Kerl setzt sich allein in unsern schönen Wagen. Wir mußten in die vollgepfropfte dritte Klasse kriechen. Da haben Sie auch gesagt: Das ist ganz in der Ordnung, als Nume kann der Mann ein Coupé für sich allein beanspruchen.«
»Wo soll er denn sonst mit seinem Helm hin? Und wenn kein anderes frei ist? Wir sind doch einmal die Besiegten!«
»Deswegen brauchen wir nicht so feig zu sein. Aber Sie haben ja auch damals den Kerl, den Ell, verteidigt –«
»Das möchte ich wirklich wissen«, fiel Wagner ein, »ob er an dem Verschwinden von Torm unschuldig ist. Man sagt doch, Torm habe ihn gefordert und sei deshalb von den Martiern beseitigt worden.«
»Das ist nicht möglich«, rief Pellinger. »Damals existierte das Duellgesetz noch nicht.«
»Aber es war Krieg, und die Martier brauchten unsere Gesetze nicht anzuerkennen.«
»Da sehen Sie wieder einmal, wie ungerecht Sie urteilen«, sagte Pellinger. »Torm ist verschwunden, ehe Ell überhaupt auf die Erde zurückkam. Ich weiß es ganz genau. Ell ist erst nach dem Friedensschluß am 21. Juni vorigen Jahres zurückgekehrt, Torm ist aber schon beim Ausbruch des Krieges im Mai verschwunden. Die Sache muß also anders liegen. Und Grunthe ist auch der Ansicht, daß Ell unschuldig ist.«
»Ach, Grunthe!« rief Schnabel. »Das ist ein Mathematikus, der sich den Teufel um Weiberangelegenheiten kümmert. Davon versteht er nichts. Und daß die Frau hier dahintersteckt, da will ich meinen Kopf verwetten. Warum säße sie denn sonst jetzt in Berlin?«
Der Fremde hatte sich plötzlich auf seinem Stuhl bewegt, sich aber sogleich wieder hinter seine Zeitung zurückgezogen. Doch war Pellinger dadurch auf ihn aufmerksam geworden, er bedeutete Schnabel, seine Stimme zu mäßigen.
»Erhitzen Sie sich nicht«, sagte er, »die Sache geht uns eigentlich gar nichts an. Ich möchte auch nicht gern nach dem neuen Klatschgesetz ins Laboratorium wandern.«
»Sie würden sich aber ausgezeichnet zu Durchleuchtungsversuchen des Gehirns eignen«, sagte Wagner. »Das Opfer wären Sie eigentlich der Wissenschaft schuldig. Sie brauchen sich den Schädel nicht erst rasieren zu lassen.«
»Mein Gehirn ist zu normal«, antwortete Pellinger. »Aber Sie müssen ja wissen, Herr Doktor, wie's dort zugeht, Sie sind ja wohl schon einen Tag drin gewesen. Haben Sie nicht Übungen machen müssen über die Ermüdung beim Kopfrechnen? Was hatten Sie denn eigentlich verbrochen?«
»Was Sie alles wissen wollen!« sagte Wagner etwas verlegen. »Ich wollte mir die Apparate einmal ansehen. Ich sage Ihnen, da habe ich ein Instrument gesehen, mit dem kann man die Träume photographieren.«
»Ach was«, rief Schnabel, »flunkern Sie doch nicht so, ich war ja auch –«
»Ei, Sie waren auch schon einmal drin? Prosit, da gratuliere ich.«
Beide gerieten in ein Wortgefecht, während Pellinger aufmerksam den Fremden am Nebentisch beobachtete. Dieser beglich jetzt seine Rechnung mit dem Wirt, stand dann auf, setzte den Hut auf den Kopf und verließ das Zimmer, ohne sich umzublicken.
»Den Mann sollte ich kennen«, sagte Pellinger vor sich hin.
»Wie meinen Sie?«
»Oh, nichts. Es kam mir nur so vor, als wäre der Herr, der eben fortging, ein alter Bekannter. Aber ich habe mich wohl geirrt. Sie wollten ja erzählen, wie Sie sich im Laboratorium amüsiert haben. Hahaha!«
44. Kapitel
Der Fremde war inzwischen auf die Straße getreten, wo jetzt der Schein der spärlichen Laternen auf dem feuchten Pflaster glitzerte. Bald war er wieder vor der Sternwarte angelangt und wurde in das Haus geführt. Im Vorflur trat ihm Grunthe entgegen.
»Was wünschen Sie?« fragte dieser, den späten Gast mißtrauisch musternd.
»Ich möchte Sie in einer Privatangelegenheit sprechen«, sagte der Fremde mit einem Blick auf den Hausburschen.
Beim Klang der Stimme zuckte Grunthe zusammen.
»Bitte, treten Sie in mein Zimmer.«
Der Fremde schritt voran. Grunthe schloß die Tür. Beide blickten sich eine Weile wortlos an.
»Erkennen Sie mich wieder?« fragte der Fremde langsam.
»Torm?« rief Grunthe fragend.
»Ich bin es. Zum zweiten Male von den Toten erstanden. Ja, ich habe noch zu leben, bis –«
Er schwankte und ließ sich auf einen Stuhl nieder.
»Wo ist meine Frau?« fragte er dann.
»In Berlin.«
»Und Ell?«
»In Berlin.«
Torm erhob sich wieder. Seine Augen funkelten unheimlich.
»Und wie – wovon lebt sie dort?« sagte er stockend. »Was wissen Sie von ihr?«
»Ich – ich bitte Sie, legen Sie zunächst ab, machen Sie es sich bequem. Was ich weiß, ist nicht viel. Ihre Frau Gemahlin ist vollständig selbständig und lebt in gesicherten Verhältnissen. Sie hat alle Anerbietungen von der Familie Ills und von Ell zurückgewiesen und nur die Stelle als Leiterin einer der martischen Bildungsschulen angenommen. Sie müssen wissen, daß sich vieles bei uns geändert hat –«
»Ich meine, was wissen Sie sonst? Was sagt man –«
Er brach ab. Nein, er konnte nicht von dem sprechen, was ihm am meisten am Herzen lag, am wenigsten mit Grunthe.
»Was sagt man von mir?« fragte er. »Meinen Sie, daß ich mich zeigen darf, daß ich wagen darf, nach Berlin zu reisen?«
»Ich wüßte nicht, was Sie abhalten sollte. Allerdings weiß ich ja auch nicht, was mit Ihnen geschehen ist, wie es kam, daß Sie plötzlich verschwunden waren –«
»Werde ich denn nicht verfolgt? Bin ich nicht von den Martiern, die ja jetzt die Gewalt in Händen zu haben scheinen, verurteilt? Hat man keine Bekanntmachung erlassen?«
»Ich weiß von nichts – ich würde es doch aus den Zeitungen erfahren haben, oder sicherlich von Saltner, von Ell selbst – ich weiß wohl, daß Ell sich bemüht hat, Ihren Aufenthalt ausfindig machen zu lassen, aber ich habe das als persönliches Interesse aufgefaßt, es ist niemals eine Äußerung gefallen, daß man Sie – sozusagen – kriminell sucht...«
»Das verstehe ich nicht. Dann müssen besondere Gründe vorliegen, weshalb die Martier schweigen – ich vermute, man will mich sicher machen, um mich alsdann dauernd zu beseitigen...«
»Aber ich bitte Sie, ich habe nie gehört, daß Sie Feinde bei den Numen haben.«
Torm lachte bitter. »Es könnte doch jemand ein Interesse haben –«
Grunthe runzelte die Stirn und zog die Lippen zusammen. Torm sah, daß es vergeblich wäre, mit Grunthe von diesen Privatangelegenheiten zu sprechen.
»Ich bin in der Tat« sagte er leise, »in den Augen der Martier ein Verbrecher, obwohl ich von meinem Standpunkt aus in einer berechtigten Notlage gehandelt habe. Und in diesem Gefühl bin ich hierhergekommen und schleiche umher wie ein Bösewicht, in der Furcht, erkannt zu werden. Ich weiß nichts von den Verhältnissen in Europa. Ich bin hierhergekommen, weil ich glaubte, Ell sei hier, und mit ihm wollte ich ab-, wollte ich sprechen, gleichviel, was dann aus mir würde. Mein einziger Gedanke war, nicht eher von den Martiern gefaßt zu werden, bis ich Ell persönlich gegenübergetreten war. Und das werde ich auch jetzt ausführen. Ich gehe morgen nach Berlin. Ich habe noch Gelder auf der hiesigen Bank, aber ich habe nicht gewagt, sie zu erheben, weil ich überzeugt war, man warte nur darauf, mich bei dieser Gelegenheit festzunehmen.«
»Ich stehe natürlich zu Ihrer Verfügung, aber ich glaube, daß Ihre Befürchtungen völlig grundlos sind. Und, wenn ich das sagen darf, daß Sie auch Ell irrtümlich für Ihren Feind halten. Er hat sich stets gegen Ihre Frau Gemahlin so rücksichtsvoll, freundschaftlich und fürsorgend verhalten, daß ich wirklich nicht weiß, worauf sich Ihr Argwohn stützt –«
»Lassen wir das, Grunthe, lassen wir das. Sagen Sie mir vor allem, wie ist das alles gekommen, wie sind diese Martier hier Herren geworden, wie sind die politischen Verhältnisse?«
»Sie sollen alles erfahren. Aber ich bitte Sie, erklären Sie mir zunächst, worauf Ihre Besorgnis gegen die Martier sich gründet – ich bin ja völlig unwissend über Ihre Erlebnisse. Wir hatten die Hoffnung aufgegeben, Sie wiederzusehen. Wo kommen Sie her, wo waren Sie, daß Sie so ohne jeden Zusammenhang blieben mit den Ereignissen, welche die ganze Welt umgestürzt haben?«
»Nun gut, hören Sie zuerst, was mir geschehen ist. Ich kann mich kurz fassen. Sie wissen, daß ich die Absicht hatte, selbst nach dem Mars zu reisen, falls meine Frau nicht kräftig genug war, die Reise nach der Erde anzutreten.«
»Gewiß. Ill bewilligte Ihnen eine Lichtdepesche, und Sie erfuhren daraus, daß Sie nicht abreisen sollten, da Ihre Frau Gemahlin mit einem der nächsten Raumschiffe nach der Erde käme. Sie gingen darauf Anfang Mai nach dem Nordpol, um Ihre Frau dort zu erwarten. Ich erhielt noch am 10. Mai einen Brief von Ihnen, in welchem Sie die Hoffnung aussprachen, bald mit Ihrer Frau, die in den nächsten Tagen zu erwarten sei, nach Deutschland zurückzukehren. Am 12. war dann jener unselige Tag der Protektoratserklärung – und seitdem war jede Spur von ihnen verschwunden.«
»So ist es«, sagte Torm. »An dem Tag, dem 12. Mai kam das Raumschiff, aber es brachte weder meine Frau noch Ell, sondern die Nachricht, daß der Arzt die Reise für die nächste Zeit noch untersagt hätte. Ich geriet dadurch in eine gereizte Stimmung, die sich noch steigerte, als ich erfuhr, daß die politischen Verhältnisse sich bis zum Abbruch der friedlichen Beziehungen zugespitzt hatten. Meine Pflicht rief mich nun unbedingt nach Deutschland zurück; denn obwohl seit diesem Tag der Verkehr mit Deutschland aufgehoben war, mußte ich doch annehmen und erfuhr es auch bald aus ausländischen Blättern, daß das gesamte Heer mobilisiert werde. Wie aber sollte ich in die Heimat gelangen? Die Luftboote nach Deutschland verkehrten nicht mehr, und auf meine direkte Bitte um Beförderung nach einem englischen Platz wurde mir erwidert, daß ich in meiner Eigenschaft als Offizier der Landwehr während der Dauer des Kriegszustandes zurückgehalten werden müßte, es sei denn, daß ich mich ehrenwörtlich verpflichtete, mich nicht zu den Waffen zu stellen. Das konnte ich selbstverständlich nicht tun. Nach dem Mars zu gehen, war mir gestattet, aber damit war mir nun nicht mehr gedient. Ich mußte nach Deutschland. Wiederholte unangenehme Dispute mit den Offizieren der Martier, von denen die Insel jetzt wimmelte, machten mir den Aufenthalt unerträglich. Ich erwog hundert Pläne zur Flucht, selbst an unsern alten Ballon, der noch immer dort lagert, dachte ich. Endlich beschloß ich auf eigene Faust die Wanderung über das Eis zu versuchen, die mir ja schon einmal gelungen war. Im Fall der vorzeitigen Entdeckung konnte doch, wie ich meinte, meine Lage nicht verschlimmert werden. Natürlich wurde ich entdeckt und zurückgebracht. Man kündete mir an, daß ich wegen Verdachts der Spionage die Insel Ara nicht mehr verlassen dürfe – vorher hatte man meinen Besuchen auf den benachbarten Inseln nichts in den Weg gelegt – und daß ein Kriegsgericht oder dergleichen über mein weiteres Schicksal beschließen würde. Schon glaubte ich, daß man mich nach dem Mars bringen würde; dann konnte ich wenigstens hoffen, meine Frau zu treffen. Aber ich erfuhr bald, daß ich jedenfalls auf der Außenstation interniert werden würde, von wo jede Flucht für mich unmöglich war. In dieser Zeit dort untätig als Gefangener zu sitzen, war mir ein entsetzlicher Gedanke. Ich faßte einen Entschluß der Verzweiflung. Jetzt sehe ich ein, daß es eine Torheit war. Doch Sie müssen sich in meine damalige Stimmung versetzen – wenn Sie es können. Ich bildete mir außerdem ein, man werde mich daheim für einen fahnenflüchtigen Feigling halten, wenn ich nicht vom Pol zurückkehrte. Ich hatte auch keine Zeit zur Überlegung, denn am nächsten Tag sollte das Kriegsgericht sein, worauf ich sofort in den Flugwagen gebracht worden wäre. – Kurzum, ich beschloß, die Zeit zu benutzen, während der ich mich noch auf der Insel frei bewegen durfte. Die Luftschiffe zu betreten und zu studieren, war mir immer erlaubt gewesen, ich kannte jetzt ihre Einrichtung genau und erinnerte mich an das Abenteuer, das Saltner auf dem Mars erlebt hatte, als er sich in dem Luftschiff des Schießstandes versteckte. Ich wußte, welches Schiff im Lauf der nächsten Stunden abgehen würde, denn sowohl nach dem Schutzstaat England als auch nach andern Teilen der Erde fand lebhafter Verkehr statt. So glaubte ich, wenn es mir gelänge, mich in dem nach England gehenden Schiffe zu bergen, von den Martiern selbst fortbefördert zu werden. Ich wollte es wagen. Ich versah mich mit etwas Proviant, denn ich war entschlossen, im Notfall zwei Tage in meinem Versteck zu verbleiben. Da fiel mir ein, daß ich ohne Sauerstoffapparat unmöglich in der Höhe aushalten könnte, in der die Schiffe zu fahren pflegen. Hier blieb mir nichts anderes übrig, als zu stehlen. Ich eignete mir zwei von den Absorptionsbüchsen der Martier an, mehr konnte ich nicht fortschaffen. Trübes Wetter – wir hatten ja freilich keine Nacht – begünstigte mein Vorhaben durch ein starkes Schneegestöber, so daß kein Martier, der nicht durch sein Amt gezwungen war, sich auf dem Dach der Insel sehen ließ. So gelang es mir leichter, als ich glaubte, mich in das noch gänzlich unbesetzte Schiff einzuschleichen, dessen Wächter in einer der Kajüten beschäftigt war. Es war ein ausnehmend geräumiges Boot, und ich fand meine Zuflucht, wie damals Saltner, zwischen und hinter dem Stoff, den Saltner für Heu hielt, der aber, wie Sie jetzt wissen werden, den besondern Zwecken der Diabarieverteilung dient. Bei gutem Glück rechnete ich, da noch drei Stunden bis zur Abfahrt des Schiffes waren, in acht oder neun Stunden in England zu sein und dann das Schiff ebenso unbemerkt verlassen zu können. Und wirklich hatte man mich noch nicht vermißt oder nicht im Schiff gesucht – das Schiff erhob sich. Stunde auf Stunde verging, und ich schlummerte von Zeit zu Zeit in meinem dunklen Gefängnis ein. Nun sagte mir meine Uhr, daß wir in England sein müßten. Aber aufs neue verging Stunde auf Stunde, ohne daß das Schiff zur Ruhe kam. Ich bemerkte die Bewegung natürlich nur an dem leichten Geräusch des Reaktionsapparats und dem Zischen der Luft. So oft ich aus Sparsamkeit mit dem Sauerstoffatmen aufhörte, fühlte ich alsbald, daß wir noch immer in sehr hohen Schichten sein müßten, und ich geriet in große Sorge, ob mein Vorrat ausreichen würde. Endlich, nach mehr als zehnstündiger Fahrt, als ich schon überlegte, ob ich mich nicht, um dem Erstickungstod zu entgehen, den Martiern ergeben sollte, erkannte ich zu meiner unbeschreiblichen Freude an der Veränderung der Luft, daß das Schiff sich senke. Bald hörte ich auch aus dem veränderten Geräusch, daß es mit Segelflug arbeite. Ich schloß daraus, daß man eine Landungsstelle suche und sich also nicht einem der gewohnten Anlegeplätze nähere.
Können Sie sich meinen Zustand, meine nervöse Erregung vorstellen? Seit zehn Stunden im Finstern eingeschlossen, zuletzt unter Atemnot, in fortwährender Gefahr, entdeckt zu werden, ohne zu wissen, wohin die Reise geht, wo ich das Licht des Tages wieder erblicken werde und wie es mir möglich werden wird, unbemerkt dem Schiff zu entfliehen! Ich suchte mir einen Plan zu machen – aber wo würde ich mich dann befinden? Der Zeit nach zu schließen, mußten wir sechs- bis siebentausend Kilometer zurückgelegt haben. Ich konnte in Alexandria sein oder in New-Orleans, ebensogut auch in der Sahara oder in China. Wie sollte ich dann weiterkommen, falls ich den Martiern entfliehen konnte? Ich mußte alles vom Augenblick abhängig machen.
Endlich verstummte das Geräusch der Fahrt, ich fühlte den Landungsstoß, das Schiff ruhte. Es kam nun darauf an, ob es die Martier verlassen würden. Wenn ich wenigstens gewußt hätte, ob es Tag oder Nacht war. Aber das hing ja ganz davon ab, nach welcher Himmelsrichtung wir gefahren waren. Aus der Landung selbst konnte ich nichts schließen, da ich nichts von der Bestimmung des Schiffes wußte, für welche ebensogut die Nacht als der Tag die passende Ankunftszeit sein konnte, je nach den Absichten der Martier. Noch eine Stunde vielleicht hörte ich über mir Tritte und Stimmen, dann wurde es still. Ich schlich aus meinem Versteck nach der Drehtür. Geräuschlos öffnete sich eine Spalte. Es war Nacht! Denn nur ein ganz schwaches Fluoreszenzlicht schimmerte durch das Innere des Schiffes. Man hatte also Grund, nach außen hin kein Licht zu zeigen, man wollte nicht bemerkt sein. Nun öffnete ich die Drehtür vollends und spähte in den Raum. Die Martier lagen in ihren Hängematten und schliefen. Wachen befanden sich jedenfalls außerhalb des Schiffes, aber nach innen konnten sie nicht gut blicken und hatten auch dort nichts zu suchen. Ich konnte also ohne Bedenken aus dem untern Raum heraussteigen und zwischen den Hängematten nach dem Ausgang schreiten; selbst wenn mich jemand hier bemerkte, hätte er mich doch für einen von der Besatzung gehalten. So gelangte ich ungefährdet bis an die Treppe, die aufs Verdeck und von dort ins Freie führte. Die Luke stand offen, aber auf der obersten Stufe der Treppe saß ein Martier, der, von seinem Helm gegen die Schwere geschützt, nach außen hin Wache hielt. An ihm mußte ich vorüber. Ich stieg möglichst unbefangen und ohne mein Nahen verbergen zu wollen die Stufen hinauf und drängte mich an ihm vorüber, indem ich die gebückte Haltung der Martier ohne Schwereschirm annahm. Ich hatte keine andre Wahl, durch List hätte ich nichts erreicht. So stand ich schon auf dem Verdeck, als der Martier mich anrief, wo ich hinwollte. Ich antwortete nicht, sondern suchte nur nach der abwärts führenden Treppe. Sie war aber eingezogen. Da faßte der Wächter mich an und rief: ›Das ist ja ein Bat. Was willst du?‹
Zugleich drückte er die Alarmglocke. Was im nächsten Augenblick geschah, weiß ich nicht mehr deutlich. Ich höre nur einen Schmerzensschrei, den der Martier ausstieß, als er, von meinem Faustschlag gegen die Stirn getroffen, die Treppe hinabstürzte. Ich selbst fühle mich das gewölbte Dach des Schiffes hinabgleiten, doch ich komme auf die Füße und laufe auf gut Glück vom Schiff fort, so schnell meine Beine mich tragen wollen. Die Nacht war klar, aber nur vom Sternenlicht erhellt. Der Boden senkte sich, denn das Luftschiff war, wie nicht anders zu erwarten, auf einem Hügel gelandet. Eine endlose Ebene schien sich vor mir auszudehnen; ich fühlte kurzes Gras unter mir. Als ich es wagte, mich einen Augenblick rückwärts zu wenden, bemerkte ich, daß hinter mir sich eine Hügellandschaft befand, die zu einem schneebedeckten Gebirge aufstieg. Ich hoffte, irgendwo ein Versteck zu finden, das mich vor den ersten Nachforschungen der Martier verbarg, um mich dann im Lauf der Nacht noch möglichst weit zu entfernen und bei den unbekannten Bewohnern des Landes Schutz zu suchen. Da plötzlich tauchte, wie aus der Erde gestiegen, eine Reihe dunkler Gestalten vor mir auf, die sich sofort auf mich stürzten und mich niederwarfen. Ich sah Messer vor meinen Augen blitzen und glaubte mich verloren.
In diesem furchtbaren Augenblick wurde die Nacht mit einem Schlag zum Tag. Das Marsschiff hatte seine Scheinwerfer erglühen lassen. Wie eine Sonne in blendendem Licht strahlend erhob es sich langsam in die Luft, jedenfalls um mich zu suchen. Dieser Anblick versetzte die Eingeborenen, die mich überfallen hatten, in einen unbeschreiblichen Schrecken. Zunächst warfen sie sich auf den Boden, dann krochen sie, ohne sich um mich zu kümmern, auf diesem fort und waren in wenigen Augenblicken ebenso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren. Ich war frei. Aber was sollte ich tun? Wenn ich hier blieb, so mußte ich in wenigen Minuten von den Martiern entdeckt werden. Ich sagte mir, daß sich dort, wo die Eingeborenen verschwunden waren, auch ein Versteck für mich finden würde. In der Tat, wenige Schritte vor mir zog eine trockene Erdspalte quer durch die Steppe. Ich stieg hinab und schmiegte mich in den tiefen Schatten eines Risses. Von oben konnte ich hier nicht gesehen werden. Die Martier hatten natürlich bald die Spalte bemerkt und schwebten langsam über derselben hin, aber ich wurde nicht entdeckt. Noch mehrfach sah ich das Licht aufleuchten, endlich verschwand es. Auch von den Eingeborenen sah ich nichts mehr.
Etwa eine Stunde mochte ich so gelegen haben – es war unangenehm kalt –, als der erste Schimmer der Dämmerung den Anbruch des Tages verkündete. Ich verzehrte den Rest meines Proviants, und als es hell genug geworden war, lugte ich vorsichtig über die Ebene. Das Schiff mußte sich entfernt haben, es war keine Spur mehr zu sehen. Ich wanderte nun am Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, so bemerkte ich, daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes entgegenkam. Ich blieb stehen und suchte durch Bewegungen der Arme meine friedlichen Absichten verständlich zu machen. Erst glaubte ich, das Schlimmste befürchten zu müssen, denn die Leute liefen unter lautem Geschrei auf mich zu und schossen ihre langen Flinten ab, aber sie zielten nicht auf mich. Bald erkannte ich, daß dies eine Freudenbezeugung sein sollte. Einige ältere Männer, offenbar die Anführer, traten an mich heran und verbeugten sich mit allen Zeichen der Ehrfurcht. Dann kauerten sie sich im Halbkreis um mich nieder, und ich setzte mich ebenfalls auf den Boden. Allmählich verständigten wir uns durch Pantomimen, und ich folgte ihrer Einladung, sie zu begleiten. Nach einer langen Wanderung erweiterte sich die Spalte zu einem kleinen Tal, und hier fand sich eine Niederlassung, wo ich mit allen Ehren eines angesehenen Gastes aufgenommen wurde. Ich blieb einige Tage dort und wurde dann von meinen Gastfreunden nach Süden geleitet. Nach mehreren Tagereisen erreichten wir eine ausgedehnte Stadt. Jetzt erst wurde mir nach und nach klar, wo ich hingeraten war. Die Stadt war Lhasa, die Hauptstadt von Tibet, der Sitz des Dalai-Lama. Die Tibetaner waren durch die überirdische Erscheinung des lichtstrahlenden Luftschiffes in ihrer Gesinnung völlig umgewandelt. Sie hielten mich für ein wunderbares Wesen, das in einem leuchtenden Wagen direkt vom Himmel gekommen war. Ich wurde auch in Lhasa sehr ehrenvoll aufgenommen, aber alle Bemühungen, von hier weiterzureisen, waren vergebens. Man gestattete nicht, daß ich mich aus der Stadt entferne. Und so war ich fast ein Jahr in dieser allen Fremden verschlossenen Stadt. Aber auch dies hatte schließlich ein Ende.
Sie werden wahrscheinlich wissen, daß die Martier jetzt auf dem Hochplateau von Tibet große Strahlungsfelder angelegt haben, um während des Sommers die Sonnenenergie zu sammeln. Die Trockenheit des Klimas bei der hohen Lage von 5000 Meter überm Meer sagt ihrer Konstitution am meisten zu von allen Ländern der Erde. Das Schiff, mit welchem ich hingekommen war, stellte die ersten Nachforschungen an, und bald hatten mehr und mehr Schiffe eine große Anzahl der Martier, vornehmlich die Bewohner ihrer Wüsten, die Beds, dahin gebracht. Die Tibetaner fühlten sich dadurch beunruhigt und wandten sich an die chinesische Regierung. Zugleich aber glaubten sie, daß meine Anwesenheit, die sie übrigens sorgfältig geheimhielten, Ursache sei, weshalb die wunderbaren Fremden durch die Luft in ihr Land kämen. So erhielt ich die Erlaubnis, mich einer Karawane anzuschließen, die über den Himalaja nach Indien ging. Nach mannigfachen Abenteuern, mit denen ich Sie nicht aufhalten will, gelang es mir schließlich, mich bis nach Kalkutta durchzuschlagen. Ich besaß noch eine nicht unbedeutende Summe deutschen Geldes, durch das ich mich hier wieder in einen europäischen Zustand versetzen konnte. Indessen wagte ich nicht, mich bei den Behörden zu melden oder mich zu erkennen zu geben, da ich fürchtete, von den Martiern verfolgt zu werden. Aus den Zeitungen ersah ich, daß das Luftschiff, welches von Kalkutta allwöchentlich nach London geht, in Teheran, Stambul, Wien und Leipzig anlegt. Von Leipzig benutzte ich den nächsten Zug nach Friedau. Und mein erster Gang war hierher. Ich habe es vermieden, mit jemand zu sprechen. Ich bin entsetzt über die Veränderung der Verhältnisse. Nun sagen Sie mir vor allem, was war unser Schicksal im Krieg mit dem Mars?«
Grunthe hatte ohne eine Miene zu verziehen zugehört. Jetzt sagte er bedächtig, ohne auf Torms letzte Frage zu achten:
»Hatten Sie Ihren Chronometer und unsern Taschenkalender mit?«
»Ja, aber –«
»So haben Sie doch wohl einige Ortsbestimmungen machen können? Ich meine nach dem Harzerschen Fadenverfahren, mit bloßem Auge?«
Torm lächelte trüb. »Ich hatte freilich Zeit dazu«, sagte er, »und habe es auch getan. Sie können sie berechnen. Aber zuerst –«
»Oh, entschuldigen Sie«, unterbrach ihn Grunthe. »Sie wissen, ich bin ein sehr unaufmerksamer Wirt. Ich hätte ihnen doch zuerst ein Abendessen anbieten sollen. Allerdings habe ich nichts zu Hause, doch – wir könnten vielleicht –«
Seine Lippen zogen sich zusammen. Das Problem schien ihm sehr schwer. »Ich danke herzlich«, sagte Torm. »Ich habe gegessen und getrunken.«
»Um so besser«, rief Grunthe erleichtert. »Aber logieren werden Sie bei mir. Das läßt sich machen.«
»Das nehme ich an, weil ich mich nicht gern hier in den Hotels sehen lassen möchte. Morgen fahre ich ja nach Berlin.«
»Wollen Sie denn nicht an Ihre Frau Gemahlin telegraphieren, daß Sie kommen? Ich habe die Adresse, da ich wegen der Abrechnungen – warten Sie, es muß hier stehen – ich kann unsern Burschen nach der Post schicken
»Das ist nicht nötig«, sagte Torm. »Ich werde – doch die Adresse können Sie mir immerhin geben.«
Grunthe suchte unter seinen Büchern.
»Ach, sehen Sie«, sagte er, »da finde ich doch noch etwas – im Frühjahr hat mich Saltner einmal besucht – da ließ ich Wein holen, und hier ist noch eine Flasche. Gläser habe ich von Ell. Sie müssen da irgendwo stehen. Das trifft sich gut – wissen Sie denn, was heute für ein Tag ist? Der neunzehnte August. Heute vor zwei Jahren kamen wir am Nordpol an. Wie schade, daß Saltner nicht hier ist, er könnte wieder ein Hoch ausbringen –«
Torm fuhr aus seinem Nachsinnen empor.
»Erinnern Sie mich nicht daran«, sagte er finster. »Mit jener Stunde begann mein Unglück. Wie kam denn jener Flaschenkorb –« Er schlug mit der Hand auf den Tisch und sprang auf. Er unterbrach sich und murmelte nur noch für sich: »Ich stoße nicht mehr an.«
»Geben Sie nur die Gläser her«, sagte er darauf ruhiger. »Ja, wir wollen uns setzen. Und nun sind Sie daran zu berichten.«
Grunthe blickte starr vor sich hin.
»Wir sind in der Gewalt der Nume«, begann er nach einer Pause. »Ganz Europa, außer Rußland. Wir beugen uns vor unserm Herrn. Wir sind Kinder geworden, die in die Schule geschickt werden. Man hat sogenannte Kultoren eingesetzt über die verschiedenen Sprachgebiete. Der größte Teil des Deutschen Reichs, die deutschen Teile von Österreich und der Schweiz stehen unter Ell. Man will uns erziehen, intellektuell und ethisch. Die Absicht ist gut, aber undurchführbar. Das Ende wird entsetzlich sein – wenn es nicht gelingt –, doch davon später.«
Grunthe schwieg.
»Ich begreife noch nicht«, sagte Torm, »wie war es möglich, daß wir in diese Abhängigkeit gerieten? Warum unterwarfen wir uns?«
»Entschuldigen Sie mich«, antwortete Grunthe. »Ich bin nicht imstande, von diesen schmerzlichen Ereignissen zu sprechen. Ich bringe es nicht über die Lippen. Lassen wir es lieber. Ich werde Ihnen eine Zusammenstellung der Ereignisse in einer Broschüre geben – hier sind mehrere. Lesen Sie selbst, für sich allein. Sie werden auch müde sein. Lesen Sie morgen früh. Reden wir von etwas anderm.«
Aber sie redeten nicht. Der Wein blieb unberührt. Das Herz war beiden zu schwer. Einmal sagte Grunthe vor sich hin: »Es ist nicht der Verlust der politischen Macht für unser Vaterland, der mich am meisten schmerzt, so weh er mir tut. Schließlich müßte es zurückstehen, wenn es bessere Mittel gäbe, die Würde der Menschheit zu verwirklichen. Was mir unmöglich macht, ohne die tiefste Erregung von diesen Dingen zu reden, ist die demütigende Überzeugung, daß wir es eigentlich nicht besser verdienen. Haben wir es verstanden, die Würde des Menschen zu wahren? Haben nicht seit mehr als einem Menschenalter alle Berufsklassen ihre politische Macht nur gebraucht, um sich wirtschaftliche Vorteile auf Kosten der andern zu verschaffen? Haben wir gelernt, auf den eigenen Vorteil zu verzichten, wenn es die Gerechtigkeit verlangte? Haben die führenden Kreise sittlichen Ernst gezeigt, wenn es galt, das Gesetz auch ihrer Tradition entgegen durchzuführen? Haben sie ihre Ehre gesucht in der absoluten Achtung des Gesetzes, statt in äußerlichen Formen? Haben wir unsern Gott im Herzen verehrt, statt in Dogmen und konventionellen Kulten? Haben wir das Grundgesetz aller Sittlichkeit gewahrt, daß der Mensch Selbstzweck ist und nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf? Oh, das ist es ja eben, daß die Nume in allem vollständig recht haben, was sie lehren und an uns verachten, und daß wir doch als Menschen es nicht von ihnen annehmen dürfen, weil wir nur frei werden können aus eigener Arbeit. Und so ist es unser tragisches Schicksal, daß wir uns auflehnen müssen gegen das Gute! Und es ist das tragische Geschick der Nume, daß sie um des Guten willen schlecht werden müssen!«
Er stand auf und trat an das Fenster.
»Es scheint sich aufzuklären. Vielleicht kann ich noch eine Beobachtung machen. Wollen Sie mitkommen? Ich zeige Ihnen dabei Ihr Zimmer.«
Torm ergriff die Broschüren und folgte ihm.