31. Kapitel

Mars-Politiker

Die Entleerung des Theaters geschah trotz der ungeheueren Zuschauermenge in wenigen Minuten, denn zahlreiche breite Gänge führten nach allen Seiten auseinander und mündeten nach der Straße hin. Man hörte überall unter dem Eindruck der Vorstellung verächtlich über die Menschen sprechen, doch hatte die übertriebene Darstellung der Menschen als Wilde das Gute, daß niemand auf die Vermutung kam, in Isma und Saltner solche Erdbewohner vor sich zu haben, obwohl Saltner in seiner Joppe, die Hände in den Taschen, in recht auffallender Weise einherschlenderte und den prüfenden Blicken, die ihn gelegentlich trafen, ungeniert begegnete. Aber da jetzt alle in gleicher Richtung sich bewegten und noch von den Eindrücken erfüllt waren, die sie eben erhalten hatten, so achtete man wenig auf ihn.

Erst als sich Fru mit seiner Begleitung in dem Vorraum der Lesehalle zwischen dichten Gruppen sich lebhaft unterhaltender Martier hindurchdrängen mußte, wurde man wieder auf ihn aufmerksam. Hier begegneten sich Besucher des Theaters und solche, die aus der Lesehalle kamen und sich soeben mit den neuesten Nachrichten bekanntgemacht hatten. Es herrschte eine sichtliche Erregung. Verkäufer riefen die neuen Blätter aus für diejenigen, die sich das in der Halle Gelesene in eigenen Exemplaren mit nach Hause nehmen wollten.

»Der Bericht des Zentralrats!« – »Die Rede des Repräsentanten Ill!«

»Die Rede des Deputierten Eu!« – »Der Antrag Ben.«

»Karte der Erde!« – »Leben und Tod des Kapitäns All.«

»Der Sohn des Numen auf der Erde.« – »Bild des Baten Saltner!« – »Bildnis der Batin Torm.«

Isma und Saltner verstanden das in eigentümlichem Tonfall herausgestoßene Martisch der Ausrufer nicht. Fru und La suchten schnell mit ihren Begleitern aus dem Gewühl in die Lesehalle zu gelangen. Aber Saltner erkannte in der Hand eines Verkäufers sein wohlgetroffenes Bildnis.

»Was?« rief er. »Da werd ich wohl gar feilgehalten. Das ist mir doch noch nicht passiert, das muß ich mir mitnehmen.«

Die um den Verkäufer Herumstehenden hatten ihn nun natürlich sogleich erkannt. Bald war die Gruppe von Neugierigen umringt, und es fielen manche nicht sehr schmeichelhafte Äußerungen.

Saltner nahm sein Bild in Empfang und zahlte. Man hatte ihm als Gast der Regierung einen anständigen Reisefonds übermittelt.

»Da schaut mich an«, sagte er, sich in Positur stellend, »wenn Ihr noch keinen anständigen Bat gesehen habt.« Und auf martisch fügte er hinzu: »Nun, seh ich aus wie ein Engländer?«

La drängte ihn vorwärts. Sie führte Isma am Arm, die ihren Schleier vorgezogen hatte und ihrer martischen Tracht wegen nicht auffiel. Die Nahestehenden blickten Saltner nicht gerade wohlwollend an, belästigten ihn aber in keiner Weise und folgten ihm auch nicht, als er sich durch sie hindurchdrängte, obwohl ihm jetzt jeder nachsah. So gelangten alle in das Innere der Lesehalle, die aus einer Reihe großer Säle bestand.

Die langen Tafeln waren dicht besetzt. Viele der Lesenden benutzten diese Zeit, um ihrer offiziellen Lesepflicht zu genügen. Denn jeder Martier war verpflichtet, bei Verlust seines Wahlrechts, aus zwei Blättern, von denen eines ein oppositionelles sein mußte, täglich über die wichtigsten politischen und technischen Neuigkeiten sich zu unterrichten. Die größeren Blätter gaben zu diesem Zweck kurze Auszüge besonders heraus.

Im Saal herrschte absolute Stille. Hier wurde nicht gesprochen. An den Wänden befanden sich jedoch kleinere Abteilungen, verschlossene Logen, in mehreren Stockwerken übereinander, in denen sich Bekannte zusammensetzen und ihre Meinungen austauschen konnten. In eine solche Plauderloge begab sich Fru mit seinen Begleitern. Er schloß die Tür und trat an einen Fernsprecher, der zur Verwaltung führte. Hier nannte er seinen Namen und die Nummer der Loge. Dann fragte er, ob Ell re Kthor, am gel Schick, nach ihm gefragt habe. Die Antwort besagte, ja, er befinde sich in Loge 408. Fru ließ ihm nun die Nummer seiner Loge sagen und ihn zu sich bitten. Auf demselben Weg machte er eine Bestellung auf eine Reihe Erfrischungen, die alsbald auf automatische Weise in dem Schrankaufsatz des Tisches erschienen, der auch hier die Mitte des Zimmers einnahm.

Es befand sich darunter für jeden Anwesenden eine Schüssel mit Wasser, das durch eine kleine Flamme in lebhaftem Sieden erhalten wurde.

»Ach«, rief Saltner, »das sind heiße Boffs, das ist die beste Frucht auf diesem künstlichen Planeten; das ist wirkliche Natur.«

Isma kannte die Speise noch nicht und fragte danach.

»Um Himmels willen«, sagte Saltner, »nennen Sie die Boffs nicht eine Speise, sonst dürfen wir sie ja nicht zusammen essen. Das ist eben das Beste daran, daß sie nicht als Speise, sondern als Erfrischung gelten, weil sie wirkliche Früchte, in der Natur gewachsen sind, eine Art Erdgurken, oder wie man sie nennen soll, und deshalb hier gemeinschaftlich gegessen –«

»O pfui«, sagte La, ihn leicht auf den Arm schlagend. Sie las bereits eifrig in einer Zeitung, in die sie sich jetzt wieder vertiefte.

»Ich wollte sagen, genossen, ästhetisch verwendet werden dürfen. Aber gut schmecken sie doch.«

Er zog die Schüssel an sich heran und griff – zum Erschrecken Ismas – mit der Hand in das siedende Wasser, eine der rötlichen, gurkenartigen Früchte hervorziehend.

»Sie brauchen nicht zu fürchten, daß Sie sich verbrennen«, sagte er lachend zu Isma. »Das Wasser ist gar nicht heiß, es siedet in unverschlossenen Gefäßen hier schon bei 45 Grad Celsius. Das ist ja ein Planet ohne Luftdruck.«

»Lassen Sie endlich unsern Nu in Frieden«, sagte La lachend, indem sie die Zeitung beiseite legte, »sonst werden Sie mit dem nächsten Schiff nach dem Südpol Ihrer abscheulichen schweren Erde transportiert. Lesen Sie lieber die neuesten Beschlüsse, sie werden Sie interessieren. Ich fürchte nur, mit dem Urlaub wird es diesmal nichts sein. Wer weiß, ob wir nicht wieder fort müssen!«

Isma horchte auf.

»Nach der Erde?« fragte sie. »Schickt man Schiffe jetzt nach der Erde?«

In diesem Augenblick trat Ell ein. Er sah erregt aus. In der Hand hielt er einen Stoß Blätter und Zeitungen, die er teils gekauft, teils aus dem Saal entnommen hatte.

Ehe er sich in die Lesehalle begab, hatte er lange vor dem Denkmal seines Vaters gesessen. Es war eine Porträtstatue in Lebensgröße, die All in seinen jüngeren Jahren darstellte, in der Kleidung des Raumschiffers. Man glaubte ihn durch die Stellithülle des Raumschiffs auf der Kommandobrücke stehend zu sehen und mit ihm auf die unter ihm liegende Erde hinabzublicken. Aus seinen Augen sprach der feste Entschluß, auf diesen Planeten siegreich seinen Fuß zu setzen.

»Du hast uns den Weg gezeigt, den wir nun betreten«, so klang es in Ells Seele. »Dir verdanken wir die Erde, die du mit deinem Leben uns gewonnen hast.«

Die jugendlichen, kräftigen Züge des Bildes schienen sich zu verwandeln. Ell sah in ihnen wieder den schwermütigen, ernsten Mann, wie er ihn gekannt, nur der siegreiche Blick des Auges war geblieben, der ihm entgegenfunkelte, wenn der Vater dem Jüngling von der Heimat sprach und von der großen Aufgabe, die Erde zu gewinnen für die Numenheit. Er gedachte des eigenen Lebens und der letzten Jahre, die er auf der Erde gearbeitet hatte, erfüllt von dem Gedanken, daß der Menschheit Glück abhinge von ihrer Befreiung durch die Kultur der Martier. Und jetzt stand er auf dem Mars, nun blickte er hinab auf die Erde, und es war ihm, als verlöre sich das Schicksal der Erdbewohner wie eine Episode in der Geschichte der Sterne, als lebe er mit den Numen um der Nume willen und sähe in der Besetzung der Erde nur eine der Stufen, das höchste Leben des Geistes im Kampf mit den widerstrebenden Kräften der Natur zu erhalten. Was war ihm nun die Menschheit? Was wär sie ihm gewesen? Wenn er sie zu lieben glaubte, war es nicht allein die Eine gewesen, in der er die Menschheit liebte? Was hielt ihn noch an dem barbarischen Planeten? Das Andenken seiner Mutter? Sie war dahin; dieses Andenken blieb ihm überall. Und die tiefblauen Augen der heißgeliebten Frau, deren weltfernes Leuchten durch all die Jahre hindurch mit unverminderter Kraft in seinem Herzen gewirkt hatte? Sie wirkten fort und fort mit ihrer zarten Gewalt – die teuren milden Züge, von denen ein glückliches Lächeln zu gewinnen sein steter Gedanke, für die er nahe daran gewesen war, seine Numenheit zu vergessen, um sie zu erobern mit den Mitteln der Menschen für sich und um ihretwillen ein Mensch zu werden wie die andern! Und jetzt, jetzt konnte er dies sicherer wie je, nie war er diesem Ziel näher gewesen. Aber diese Frau war hierhergekommen, weil sie ausgezogen war, ihren Mann zu suchen, und er hatte sich ihr gelobt, ihn finden zu helfen. Sie wird ihn finden, und drunten in Friedau oder in einer andern Stadt, wohin der Ruhm des Polentdeckers sie führen würde, da wird sie glücklich sein und der Reise nach dem Mars und des fernen Freundes gedenken wie eines Traumes, der zerronnen ist. Und er? Sollte er weiter leben dort unten, um eine flüchtige Stunde ihrer Nähe zu gewinnen, um sich zu versichern, daß er zu ihr gehöre, wie ein teures Schmuckstück ihres Daseins? Sollte er wieder zwischen diesen engherzigen Schlauköpfen wandeln, um ihre ganze, verständnislose Wirtschaft zu verachten?

Nein, nun er die Freiheit der Heimat gekostet hatte, konnte er nicht dauernd auf die Erde zurückkehren. Was war ihm noch die Menschheit?

»Ein Vermächtnis hast du uns gelassen, o Vater«, so sagte Ell im stillen zu sich, »die Erde, auf der du littest, zu gewinnen zu einem höheren Zweck. Und ich vor allen habe die Pflicht, dies Vermächtnis anzutreten. In Frieden wollen wir die Menschheit gewinnen und ihr zum Segen. Und, ein Menschensohn, weiß ich von ihren Schmerzen zu sagen. Aber wenn unseliger Mißverstand zum Streit führt, so kann mein Platz nur dort sein, wo du gestanden hast.«

Er erhob sich. Bald umwogte ihn wieder der Verkehr des Tages. Er begab sich nach der Lesehalle. Begierig griff er nach den neuen Depeschen und studierte sie, bis Fru ihn rufen ließ.

»Wissen Sie schon alles?« war gleich seine erste Frage beim Eintritt. Er sprach martisch. La antwortete lebhaft. Fru und seine Gattin mischten sich ein. Die Martier sprachen schnell und eifrig. Ell hatte offenbar noch etwas Wichtiges erfahren. Isma und Saltner konnten dem schnellen Gespräch nicht folgen. Die Menschen schienen einen Augenblick vergessen. Es war nur eine Minute der Erregung. Dann wandte sich La mit ihrem freundlichen Lächeln zu Isma.

»Haben Sie alles verstehen können?« fragte sie. »Ihr Freund bringt uns wichtige Mitteilungen.«

»Ich konnte nicht folgen«, sagte Isma.

Jetzt erst wandte sich Ell zu Isma. Sie sah ihn an. In ihren Augen lag es wie eine schmerzliche Bitte: Verlaß mich nicht. Ich bin einsam. Ich weiß nicht, was das alles soll. Sie fragte ihn jetzt:

»Was gibt es denn Neues? Erzählen Sie nun auch mir einmal.«

Und während dieser kurzen Worte wechselte ihr Ausdruck. Der ängstliche Zug wich einem frohen Vertrauen. Sie fühlte sich wieder sicher, seitdem er neben ihr weilte.

»Ist es etwas Ungünstiges?« fragte sie weiter, als Ell zögerte.

La war der Wechsel in Ismas Mienen nicht entgangen. Sie hatte das Aufblitzen ihrer Augen beobachtet, als Ell eintrat, und jetzt die Beruhigung ihrer Stimmung. Und ebenso unbemerkt blickte sie auf Ell und las in seiner Seele. Er wandte sich mit einem fragenden Blick an sie, aber sie beugte sich schnell zu Saltner hinüber.

»Ich weiß wirklich nicht«, sagte Ell, »was wir von der Sache zu erwarten haben, aber jedenfalls können wir jetzt auf eine schnellere Entwicklung gefaßt sein. Es werden Schritte getan, noch während des Winters Nachrichten von der Erde zu erhalten.«

»Wie ist das möglich?« fragte Isma.

»Haben Sie die Vorgänge in der Kammer von heute vormittag gelesen?« Isma schüttelte den Kopf.

»Wir sind eben erst gekommen«, sagte Fru, »und wissen selbst noch nichts Zusammenhängendes. Wir bemerkten nur, daß die Stimmung gegen die Erde umgeschlagen zu sein scheint.«

»Ich sah eben hier zufällig«, fügte La hinzu, »daß die Südbezirke auf eine starke Armierung des Erdsüdpols dringen und ein Vorgehen von dort aus wünschen, und ich wußte nicht, was das zu bedeuten hat.«

»Dann erlauben Sie, daß ich in Kürze mitteile, was ich gelesen habe. Der Bericht der Regierung stellte den Konflikt mit dem englischen Kriegsschiff und die Gefangennahme und Behandlung unserer Leute als das dar, was er war, ein unglücklicher Zufall und die Tat eines untergeordneten Kapitäns, für die man kaum die englische Regierung, geschweige denn die Bewohner der Erde verantwortlich machen dürfe. Sie erklärte, daß durch diesen Zwischenfall an dem ursprünglichen Plan nichts geändert werde. Man wolle im Beginn des nördlichen Erdfrühjahrs eine starke Luftschifflotte bereithalten, um, sobald die Nordstation zugänglich sei, die zu diesem Zweck früher als sonst eröffnet werden sollte, sofort sämtliche Großmächte der Erde in ihren Hauptstädten aufzusuchen. Man werde den Regierungen einen Vertrag über den Verkehr und die Handelsbeziehungen zum Mars vorschlagen und die Vorkehrungen so treffen, daß sich das Übereinkommen ruhig und friedlich vollziehe. Nur einen böswilligen Widerstand werde man im Interesse der Gesamtheit eventuell mit Gewalt niederwerfen, indem man über den betreffenden Staat das Protektorat der Marsstaaten aussprechen werde.

Diese Erklärung fand aber lebhaften Widerspruch, sowohl von der Opposition gegen die Erdkolonisation, die unter der Führung von Eu schon immer die weitgehenden Pläne der Erdbesiedelung bekämpfte, als auch von einer erst infolge der letzten Nachrichten entstandenen Gruppe, denen das Vorgehen gegen die Erde nicht scharf genug erschien. Und beide standen nun zusammen. Denn Eu vertrat jetzt den Standpunkt, es wäre von Anfang an das beste gewesen, sich überhaupt nicht um die Menschen zu kümmern; nachdem aber die Regierung einmal den Fehler gemacht habe, die Existenz der Nume zu verraten und durch feindselige Handlungen gegen die Menschen sich bloßzustellen, verlange es die Pflicht der Numenheit, den Erdbewohnern auch den richtigen Begriff derselben und Aufklärung über die Bedeutung und die Absicht der Nume zu geben. Es sei Menschenblut geflossen und der Numenheit Schmach angetan worden. Die Sühne könne nur in einer großen Tat friedlicher Kultur bestehen. Es müsse den Erdbewohnern gezeigt werden, daß wir ihre Gewohnheit des Kampfes mit den Waffen verabscheuen und als unsittlich verwerfen. Es sei deswegen über die ganze Erde der Planetenfrieden zu gebieten und die Entwaffnung sämtlicher Staaten zu verlangen.«

»Jesus Maria!« rief Saltner. »Das nenn ich einen Radikalen! Ich hab schon nichts dagegen, aber, was meinens, was sie bei uns auf dem Kriegsministerium dazu sagen werden?«

»Das Verlangen der chauvinistischen Gruppe«, fuhr Ell fort, »war nicht weniger radikal. Sie erklärten, die Menschen hätten durch ihr Verhalten bewiesen, daß sie dem Begriff der Numenheit noch nicht zugänglich seien. Sie seien nicht als freie Persönlichkeiten zu behandeln und nicht würdig des Weltfriedens. Man solle sie im Gegenteil ruhig untereinander wüten lassen, aber die ganze Erde und ihre Bewohner als Eigentum der Marsstaaten erklären. Die einzelnen Gebiete der Erde seien unter die einzelnen Marsstaaten aufzuteilen, um die Einkünfte derselben zu vermehren. Die Menschen seien ausdrücklich als unfrei und Nicht-Nume zu bezeichnen und die Erdstaaten durch vom Zentralrat eingesetzte Gouverneure zu beaufsichtigen. Im Resultat aber waren beide oppositionelle Parteien einig, die Unterwerfung der Erde müsse sofort mit allen Mitteln in Angriff genommen werden.

Die Debatte war sehr heftig, und die Regierung hatte einen schweren Stand. Noch während der Sitzung schloß sich die chauvinistische Gruppe zu einer Fraktion der ›Antibaten‹ zusammen, und aus großen Teilen des Landes trafen bereits zustimmende Erklärungen ein für die Menschenfeinde.

Allmählich gelang es jedoch der Regierung, den Parteien begreiflich zu machen, daß man die Erdbewohner aus Unkenntnis unterschätze; eine derartige Bestimmung über sie werde nicht durchzusetzen sein, ohne zu den Gewalttätigkeiten zu führen, die man gerade verabscheue und verhüten wolle. So kam ein Kompromiß zustande, zunächst noch ein genaueres Studium der Machtverhältnisse der Erdstaaten abzuwarten. Doch mußte die Regierung ihrerseits zugestehen, sogleich wenigstens von England eine Bestrafung des Kapitäns der ›Prevention‹ und eine Genugtuung für die Mißhandlung der Gefangenen zu verlangen.

Dieser Kompromiß zwischen Opposition und Regierung fand endlich im Antrag Ben seinen Ausdruck. Danach sollte sobald als möglich ein Raumschiff nach der Südstation der Erde abgehen und drei große Erdluftschiffe dahin bringen. Vom Südpol aus sollte zunächst mit der englischen Regierung verhandelt werden, um eine Genugtuung für die Gefangennahme der beiden Martier und die Beschädigung des Luftschiffs zu verlangen. Man sollte sich jedoch dabei der größten Mäßigung befleißigen, einerseits um die wohlmeinende, obwohl ernste Gesinnung der Martier zu zeigen, andrerseits weil man es vor Beginn des Frühjahrs der nördlichen Erdhalbkugel nicht zu einer größeren Aktion kommen lassen durfte. Denn die Station auf dem Südpol bot weder den Raum noch die Sicherheit der Landung für eine größere Flotte der Martier; auch wäre es wenig praktisch gewesen – soviel sah auch die antibatische Opposition ein –, vom Südpol aus mit den Großmächten der Erde zu verhandeln, da der Weg vom Südpol bis Berlin oder Petersburg selbst für ein Luftschiff der Martier fast vierundzwanzig Stunden in Anspruch nahm. Der Zentralrat wurde mit der sofortigen Ausführung der Maßnahmen beauftragt. Die letzte Depesche besagte bereits, daß der Zentralrat einen besonderen Erdausschuß mit einjähriger Amtsdauer und weitreichenden Vollmachten ernannt und den Repräsentanten Ill zum Leiter desselben bestimmt habe. Das ist augenblicklich der Stand der Dinge«, schloß Ell. »Was sagen Sie dazu?«

Er warf die Zeitungen auf den Tisch und ging erregt auf und ab. Niemand antwortete sogleich. Die Nachrichten waren nicht nur von weittragender politischer Wichtigkeit, sie mußten zugleich das private Geschick der hier Versammelten unmittelbar beeinflussen. Die Mienen waren düster geworden. Nur Isma pochte das Herz freudig. Sie war sofort entschlossen, alles daranzusetzen, um nach dem Südpol und von dort nach Hause zurückzukehren. Wollte man sich mit England in Verbindung setzen, so mußte doch ein Luftschiff nach bewohnten Gegenden, wenn nicht nach London, so wenigstens nach den Kolonien, wahrscheinlich nach Australien, abgesandt werden, und mit diesem hoffte sie reisen zu können. Und wenn dies nicht möglich war, so konnte sie immerhin auf baldige Nachrichten von der Erde rechnen. Diese Gedanken und Wünsche gingen durch ihr Gemüt, während ihre Hände das Flugblatt zerknitterten, das ihr Porträt zeigte; es hatte sich unter den von Ell mitgebrachten Papieren befunden.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte La zu Ell. Er setzte sich hastig und beschämt. Das Menschenblut in ihm hatte ihn hin- und hergetrieben. Als Martier schickte sich das ja nicht, da verhielt man sich ruhig. Er ärgerte sich.

»Das ist fatal, höchst fatal«, begann jetzt Fru. »Ich halte den Beschluß für einen schlimmen politischen Fehler. Auch Ill wird dieser Ansicht sein, aber er konnte jedenfalls nicht mehr durchsetzen. Unsre Politiker kennen die Verhältnisse zu wenig. Verhandlungen, denen wir nicht die Tat auf dem Fuße folgen lassen können, müssen unsern Standpunkt erschweren und bei den Regierungen der Erde nur die Meinung erwecken, daß sie uns nicht ernst zu nehmen brauchen.«

»Eine sakrische Dummheit ist's«, platzte Saltner deutsch heraus.

»Sie fürchten«, sagte La, sich zu Ell wendend, »daß wir auf diese Weise zur Anwendung von Gewalt gedrängt werden?«

»Wohl möglich«, erwiderte Ell. »Doch die Menschen werden bald begreifen, daß sie sich uns fügen müssen. Wir werden ihnen zeigen, daß wir nur ihr Bestes wollen.«

»Ich fürchte Schlimmeres«, entgegnete La lebhaft. »Die Verhältnisse werden sich so entwickeln, daß die antibatische Bewegung immer mehr Nahrung erhält. Statt des Friedens werden wir den Kampf zwischen den Planeten bekommen, man wird die Menschen nicht als gleichberechtigt anerkennen – es wird furchtbar werden.«

»Oh, lassen Sie uns zurückkehren!« rief Isma. »Bitten Sie Ihren Oheim, daß uns das erste Schiff nach dem Südpol mitnimmt.«

Ell antwortete nicht. Er blickte finster vor sich hin. Fru stand auf. »Ich glaube«, sagte er, »es ist das beste, wenn wir unsere Reise fortsetzen und Ihren Oheim aufsuchen. Bis wir an unser provisorisches Quartier und an Ihre Wohnung gelangen, ist die Ruhezeit gekommen. Wir treffen uns dann alle zur Plauderstunde bei Ill.«

»Wir wollten noch nach dem Retrospektiv«, sagte Ell.

»Dazu ist es ohnehin schon zu spät.«

»Ich habe heute genug gesehen«, fügte Isma hinzu.

Man brach auf. Der Weg bis zu dem Depot der Radschlitten, wo auch Fru seinen viersitzigen Gleitwagen gelassen hatte, betrug einige Minuten. La nahm Ismas Arm.

»Am Schlitten bekommen Sie Ihre Damen wieder«, sagte sie zu Ell und Saltner. Sie schritt mit Isma voran.

»Sie möchten gern nach der Erde zurück, nicht wahr?« sagte sie zu Isma. »Ich sah es Ihnen an, und Sie hoffen, nach dem Südpol mitzugehen. Aber würden Sie auch ohne Ell gehen?«

»Er wird mitgehen, wenn man uns überhaupt mitnimmt. Er muß gehen, er gehört jetzt auf die Erde.«

La schwieg. Sie streifte Isma mit einem teilnehmenden Blick und sah, wie eine feine Röte ihre Wangen bedeckte.

»Meine Frage darf Sie nicht verletzen«, sagte sie bittend. »Ich kann mir wohl denken, daß es für Sie schwer sein muß, die weite Reise ohne Begleitung eines Menschen zu machen. Aber ich glaube auch nicht, daß man Sie jetzt mitnehmen wird. Das Schiff wird zu Ausrüstungszwecken voll in Anspruch genommen sein. Und auf dem Südpol finden Sie nicht die Bequemlichkeit wie auf dem Nordpol. Ich wollte Sie nur bitten, sich nicht Hoffnungen zu machen, die vermutlich enttäuscht werden müssen. Aber jedenfalls dürfen Sie darauf rechnen, daß Sie nun bald Nachrichten von der Erde bekommen. Dafür wird Ill Sorge tragen. Und Sie brauchen sich nicht verlassen unter uns zu fühlen. Ich werde mich herzlich freuen, wenn ich Ihnen dienen kann.«

Isma dankte, aber sie konnte sich eines bedrückenden Gefühls nicht erwehren. Warum bedurfte sie dieses Mitleids? Sie fühlte sich verletzt, ohne La zürnen zu können.

Die Radschlitten erschienen. Man verabschiedete sich. Mit Benutzung der Stufenbahn konnte man in einer halben Stunde zu Hause sein.

Isma saß stumm an Ells Seite. Sie sah, daß seine Gedanken nicht mit ihr beschäftigt waren. Sie wollte ihn jetzt nicht fragen, was er zu tun gedenke. So tauschten sie nur flüchtige Worte, bis der Wagen vor Ills Haus hielt.

32. Kapitel

Ideale

La ließ ihre Hände von der Schreibmaschine herabgleiten und lachte herzlich, indem sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte.

»Nein«, sagte sie, »das ist ja nicht zu glauben! Das ist wirklich zu komisch. Diese Bate! ich glaube, da muß selbst Schti lachen.«

Ein allerliebstes, schneeweißes Flügelpferdchen, nicht größer wie ein kleines Kätzchen, flatterte von dem Büchergestell, wo es gesessen, auf die Lehne von Las Armstuhl und blickte sie mit seinen klugen Augen ernsthaft an. Das Tierchen sah wirklich aus wie ein Miniatur-Pegasus, nur hatte es statt der Hufe zierliche Zehen, mit denen es sich anklammern konnte. Zoologisch betrachtet gehörte es zu den Insekten und war eine Art Heuschrecke, die aber auf dem Mars warmes Blut besaßen und die höchstentwickelte Gruppe der Insekten darstellten. Der Kopf war der eines Pferdes mit fast menschenähnlichem Ausdruck, die Flügel saßen an den Schultern und glichen denen einer Libelle.

»Schti muß lachen!« sagte La.

Das Tierchen stieß einen Laut aus wie eines helles Lachen. »Ko Bate, Ko Bate«, sprach es dann deutlich.

La streichelte ihm das weiche Fellchen, und es rieb sein Köpfchen an ihrer Hand.

»Schti muß studieren!« Das gut abgerichtete Tierchen flog auf das Bücherbrett und setzte sich gravitätisch hin.

La fuhr in ihrer Schreibarbeit fort. Auf dem Gestell über der Schreibmaschine stand eines der deutschen Bücher, die Ell mitgebracht hatte. Es war ein kurzgefaßter Grundriß der ›Weltgeschichte‹, das heißt des wenigen, was man über die Geschichte der abendländischen Menschheit wußte. La übersetzte das Buch in Ills Auftrag ins Martische. Während sie ihre Augen langsam über den Text gleiten ließ, lagen ihre Hände auf der Klaviatur und ihre Finger schrieben ganz mechanisch in martischen Zeichen den Sinn der gelesenen Sätze nieder. Die Arbeit nahm ihre Aufmerksamkeit nicht mehr in Anspruch, als der Strickstrumpf die einer älteren Kränzchendame, und hinderte sie nicht, sich lebhaft mit Ell zu unterhalten, der zum Besuch gekommen war.

»Es ist eigentlich mehr traurig als komisch«, sagte Ell. »Denn die Sache geht nicht immer bloß mit dem Knallen ab. Oft genug kommen schwere Verwundungen und Todesfälle vor, und das Leben eines Mannes, der verpflichtet wäre, der Menschheit und den Seinigen sich zu erhalten, ist einem sinnlosen Vorurteil hingeopfert.«

»Das ist abscheulich. Aber ich denke, Vernunft und Gesetz verbieten den Zweikampf. Wie ist er denn noch möglich?«

»Durch Unvernunft. Es gibt nämlich Menschen, die sich einbilden Vernunft und Gesetz seien zwar ganz gut für das Volk, aber dieses würde den Respekt vor Vernunft und Gesetz verlieren, wenn es nicht durch eine auserwählte Gruppe von Menschen in Schranken gehalten würde. Diese Auserwählten könnten sich jedoch nur dadurch als solche erweisen, daß sie sich einen gewissen Zwang, eine Pönitenz auferlegten, indem sie selbst zum Teil auf das höchste Gut der Menschheit, Vernunft und Freiheit, verzichten und sich zum Sklaven überlebter Formen machen. Sie meinen wohl, durch den Widerspruch, den ihre Sitten erwecken, in der Allgemeinheit die Herrschaft der Vernunft um so mehr zu stärken.«

»Welch edle Seelen, so zum Besten der Kultur sich selbst zu opfern! Ein wahrhaft menschlicher Gedanke, die Kultur durch Unkultur des eigenen Lebens zu fördern! Es wäre ein bloßer Irrtum, wenn er nicht leider dadurch unmoralisch würde, daß der egoistische Zweck unverkennbar ist.«

»Gewiß, sich selbst als Kaste zu unterscheiden. Es will jeder etwas Besonderes sein.«

»Das soll er ja auch«, sagte La, »etwas Besonderes aber nur durch seine Freiheit, durch die innere Freiheit, mit der wir die Mittel bestimmen, in unserm Leben das Vernunftgesetz zu verwirklichen. Aber diese Leute lassen, nach Ihrer Schilderung, die innere Freiheit gar nicht gelten, weil sie sie nicht kennen. Sie setzen ihre Ehre in Äußerlichkeiten. Ich kann mir denken, wie schwer es ihnen sein mußte, in dieser Gesellschaft zu leben.«

»Ich kann auch nicht in ihr leben«, erwiderte Ell. »Für sie besteht die Ehre eines Menschen in dem, was andere von ihm halten und sagen; deswegen glauben sie auch, sie könnte durch Beleidigungen vernichtet, durch rohe Gewalt wiederhergestellt werden. Als ob mich der Wille eines andern erniedrigen könnte, als ob es nicht die größte Selbsterniedrigung wäre, die eigene Vernunftbestimmung der fremden Meinung unterzuordnen! Und da ich in ihr leben mußte, so war mein inneres, wahres Leben eine Lüge in ihrem Sinne, eine Umgehung ihrer konventionellen Sitten. Doch das ist das wenigste, das ist für mich nur unangenehm, für meine Freunde beschwerlich. Aber das Unerträgliche, das Schmerzende liegt in dem Gedanken, daß diese Millionen und Abermillionen vernünftiger Wesen durch ihre bloße Dummheit, durch die mangelhafte Entwicklung ihres Gehirns, durch die fehlende Bildung in einem Zustand gehalten werden, der sie schwach, elend, unglücklich, unzufrieden und ungerecht macht. Denn sie sind nicht böse. Sie wollen das Gute, sie wollen die Freiheit. Ihr Gefühl ist lebendig und warm. Darin sind sie uns gleichstellend; die Idee des Guten, als die Selbstbestimmung, durch die wir Vernunftwesen sind, ist in ihnen wirksam wie in uns, insofern sind sie unsere Brüder. Aus der Menschheit erblühten Religionen tiefster Wahrhaftigkeit und Kraft, die ihnen die Offenbarung gaben, um die es sich handelt – unser individuelles Leben in Raum und Zeit, den Inhalt unsres Daseins, den wir Natur nennen, zu gestalten zu einem Mittel, um als freie Vernunftwesen über Raum und Zeit das Reich der Ideen zu umfassen. Und Weise sind ihnen erstanden, die gezeigt haben, wie es zu begreifen sei, daß das Leben des einzelnen abrollt wie ein Rädchen im Getriebe der Weltenuhr und dennoch das Ich dessen, der es selbst lebt, das ganze Uhrwerk erst zu schaffen hat. Aber die wenigsten haben die Weisheit verstanden. Sie haben das Gesetz, aber sie mißdeuten es und wissen es nicht anzuwenden; sie verfallen stets in Irrtum. Und deswegen, weil es Unwissenheit ist und nicht Mangel an Wille und an Gefühl für das Gute, deswegen glaube ich, daß wir der Menschheit helfen können. Verständiger müssen wir sie machen – nur nicht verständiger im Sinne der Menschen, für die verständig nur bedeutet: klug sein auf Kosten der andern.«

»Möge Sie dieser Glauben nicht täuschen. Ich fürchte, es ist nicht bloß der Mangel an Verständnis des Zusammenhangs der Dinge, es ist noch mehr die Unfähigkeit, das wirklich zu wollen, was man als gut erkannt hat, es ist die Schwäche des Charakters hier, die Stärke des Egoismus dort, weshalb die Menschen den unvermeidlichen Kampf ums Dasein in so bedauernswerter Weise führen.«

»Das bestreite ich nicht, daß diese Mängel zur Erniedrigung der Menschen beitragen, aber doch nur subjektiv, indem sie den einzelnen unfähig machen, des Glücks der inneren Freiheit sich zu erfreuen. Aber auch hier kann nur eine Vertiefung der Einsicht helfen. Die Handlungen sind ja immer bedingt durch diejenigen Vorstellungen, denen der höchste Gefühlswert zukommt, und diese Gefühlswerte richtig zu verteilen, ist Sache der Bildung.«

»Wenn aber jemand«, sagte La, »ganz genau weiß, zum Beispiel ein Schüler, deine Pflicht verlangt jetzt, das und das zu tun, diese Arbeit zu vollenden, und wenn du es nicht tust, so wirst du nicht bloß Reue haben, sondern auch sinnlich schwer dafür büßen, und trotz dieser klaren Einsicht verleitet ihn doch eine momentane Lust, und sei es bloß das Lustgefühl der Faulheit, die Arbeit nicht zu tun, so sehen Sie doch, alle Einsicht hilft nichts gegen die Willensschwäche.«

»Das spricht gerade für mich«, erwiderte Ell lebhaft. »Willensschwäche ist doch nur falsche Richtung des Willens, Richtung auf das Unterlassen statt auf das Handeln. Vorstellungen sind immer dabei entscheidend. Die Einsicht war dann eben tatsächlich noch nicht vorhanden, nicht umfassend genug. Dem Schüler in Ihrem Beispiel haben sich etwa die Vorstellungen eingeschlichen, die an ihn gestellte Forderung sei ein unberechtigter Zwang oder die gefürchteten Nachteile werden zu umgehen sein und dergleichen. Der Erwachsene, der den Zusammenhang klarer durchschaut, wird einfach seine Pflicht tun. In anderen Fällen wird er sich in der Lage des Schülers befinden, aber diese Fälle werden immer seltener, je weiter die Einsicht reicht. Wenn mich der Zorn übermannt, so daß ich den Gegner verletze, so beruht mein Fehler darauf, daß ich nicht Zeit zur Überlegung hatte. Warum sind die Nume soviel milder als die Menschen? Weil sie schneller denken. Im Augenblick des Affekts ist das Bewußtsein des Menschen ganz vom sinnlichen Reiz erfüllt, er vermag nicht alle die Gedankenreihen zu durchlaufen, die ihm die Folgen seiner Handlungen zeigen; er braucht dazu längere Zeit, und dann ist es zu spät. Der Nume fühlt nicht minder lebhaft den Reiz, vielmehr noch viel feiner; aber sein Gehirn ist so geübt, daß im Moment der ganze Zusammenhang der Folgen seines Zustandes ihm ins Bewußtsein tritt und sein Handeln bestimmt. Das ist es, was man Besonnenheit nennt. Nicht mit Unrecht hielten sie die Griechen für die höchste der Tugenden, aber sie wußten sie nicht zu erringen. Lassen Sie uns den Irrtum verringern, und wir werden die Menschen bessern.«

»Die Leidenschaften werden Sie nicht ausmerzen.«

»Daran denke ich natürlich nicht. In ihnen ruht ja der Wert des Lebens, und die Nume freuen sich ihrer. Nur die Art ihrer Wirkung können wir und müssen wir durch den Verstand regulieren. Auch die Schwächen der Nume – und die werd en Sie nicht leugnen – beruhen auf demselben Grund wie die der Menschen. Sie sind vom Leben sinnlicher Wesen untrennbar. Die starken Gefühle sind die großen Reservoirs der Energie des Gehirns, aus denen sie zur Wechselwirkung des Lebens herausströmt. Wären sie nicht mehr da, so hörte das Leben auf, so hörte das Denken auf. Aber auf den Weg kommt es an, den die Entladung der Gehirnenergie bei der Explosion des Gefühls nimmt. Es ist damit wie bei unsern Gebirgen auf der Erde. Sie sind die Sammelbecken der Gewässer, die von ihnen herabströmend den Völkern ihre segenspendende Kraft verbreiten. Die Niveauunterschiede müssen überall sein, wo Energieaustausch, wo Leben und Geschehen sein soll. Aber wie dieses Herabströmen stattfindet, das macht den Unterschied von Barbarei und Kultur. Der reißende Wildbach zerstört und verrinnt nutzlos. Bepflanzen wir die Abhänge, verteilen wir die Wasser, führen wir sie durch Turbinen und wandeln ihre Arbeit durch Maschinen um, so schaffen sie die Kultur. Diese Pflanzungen, diese Maschinen sind im Gehirn die Zellen der Rindensubstanz, in denen der Weltzusammenhang sich bildet. Die Macht des Gedankens ist es, die den Ausgleich der Gefühle zur Kultur lenkt. Und diese läßt durch Lehre und Erziehung sich erweitern. Das zu tun, sind wir den Menschen schuldig, wie Erwachsene den Kindern. Denn Kinder sind sie.«

»Ja«, sagte La, »Kinder sind sie, das habe ich auch gefunden, und darum mögen Sie in Ihren Ansichten recht haben, Ell. Wie das Kind nur die eine Wirklichkeit kennt, wie das Spielzeug, die Mutter und die Erde am Himmel ihm keine andre Realität besitzen als seine Hand, und diese keine andere als das Produkt seiner Phantasie, so können auch die Menschen die Arten der Wirklichkeit nicht unterscheiden. Selbst ein geistig so hochstehender Mann wie Saltner vermag es nicht zu begreifen, daß dasselbe lebendige Individuum gleichzeitig ganz verschiedene Realitäten besitzt, je nach dem Zusammenhang, in welchem es sich bestimmt. Die Frau an der Schreibmaschine ist ein Stück Naturmechanismus, die den notwendigen Zusammenhang zwischen verschiedenen Zeichen für dieselbe Vorstellung registriert, wenn sie, wie ich hier, eure langweilige Geschichte übersetzt. Dieselbe Frau, wenn sie den Freund zärtlich anblickt, ist ein Stück des Phantasiespiels, das unser Leben mit seinem schönen Schein verklärt. Und wenn sie ein Versprechen einlöst, ist sie ein Stück der ethischen Gemeinschaft der Nume. Aber keine dieser Realitäten wirkt auf die andere, kann die andere verpflichten, außer in der freien Bestimmung der Persönlichkeit dieser Frau selbst. Das kann unser Freund nicht verstehen. Er denkt immer, es müsse noch ein anderer Zusammenhang bestehen, notwendig wie die Natur in Raum und Zeit, zwischen diesen Tätigkeiten –«

»Sehen Sie – dieser Mangel der Einsicht ist es, welcher die menschliche Gesellschaft beschwert. Stets werfen sie das Verschiedene zusammen als Eines, indem sie es mit falschen Gefühlswerten belasten. Da ist der religiöse Glaube; er ist die Form, wie die Persönlichkeit das Weltgesetz in ihr Gefühl aufnimmt; die Menschen aber machen daraus ein Bekenntnis, das andre verpflichten soll und sich damit aufhebt. Da ist das Vaterland, die nationale Gemeinschaft; sie ist ein Mittel, die Macht des einzelnen zusammenzufassen, um für die Menschheit zu wirken; die Menschen umkleiden sie mit einem Gefühl, das sie zum Selbstzweck macht und infolgedessen Feindschaft der Nationen bewirkt. Da ist der natürliche, berechtigte Trieb der Selbsterhaltung; die Menschen machen daraus einen vernichtenden Egoismus, der zum Kampf der Gesellschaftsklassen führt. Und so mit allem. Hier kann Aufklärung helfen. Natürlich nicht, um Vollendung zu schaffen, die es überhaupt nicht gibt, aber eine höhere Stufe der Kultur. Es wäre nicht das erste Mal, daß Aufklärung die Menschen befreit hat, aber da mußte sie sich blutig durchkämpfen. Diesmal soll eine überlegene Macht den Sieg von vornherein gewähren.«

»Aber wie denken Sie sich diese Einwirkung? Ehe Anschauungen und Gewohnheiten sich ändern, müssen Generationen vergehen – die Menschheit selbst muß sich ändern –«

»Die Planeten haben Zeit. Aber die Hauptsache wird schnell geschehen. Die Menschen brauchten Jahrtausende, um den gegenwärtigen Stand ihres Wissens zu gewinnen; unter der Leitung geschickter Lehrer eignet sich heute der einzelne dieses Wissen in wenigen Jahren an. Wir werden die heutigen Menschen nicht zu Numen machen, aber wir werden sie in diesem Sinn führen. Nur muß unsre Bevormundung ihre Freiheit nicht beschränken, sondern allein den richtigen Gebrauch derselben erzielen. Das Niveau der Gesamtbildung läßt sich binnen kurzem so heben, daß sie eine klare Einsicht in das gewinnen, was im Leben möglich und erstrebbar ist. Sie werden erkennen, daß es eine Utopie ist, die Gleichheit der Lebensbedingungen anzustreben, daß die Gleichheit nur besteht in der Freiheit der Persönlichkeit, mit der ein jeder sich selbst bestimmt, und daß diese Freiheit gerade die Ungleichheit der Individuen in der sozialen Gemeinschaft voraussetzt. Wir haben ja doch viele Jahrtausende hindurch die sozialen Kämpfe durchgemacht, bis wir erkannt haben, daß der Kampf selbst unvermeidbar, die Gehässigkeit aber auszuschließen ist, daß in einem edlen Wettstreit alle Stufen der Lebensführung nebeneinander bestehen können. Nur eines ist dazu notwendig: dem einzelnen die Zeit zu geben, sich selbst zu bilden, zu kultivieren. Die Menschen können sich darum nicht selbst helfen, wenigstens nicht helfen, ohne den furchtbaren Kampf von Jahrtausenden, weil sie die Mittel nicht haben, den Massen die Sicherheit der notwendigsten Lebenshaltung zu geben. Diese Not der Massen können wir abstellen, ohne jene Utopie der Nivellierung des Vermögens. Wir können ihnen zeigen, daß das Hin- und Herschwanken des individuellen Besitzes sich nicht ändern läßt und auch nicht geändert zu werden braucht, daß aber jedem, der arbeitet, ein befriedigendes, seinen Fähigkeiten angemessenes Auskommen gewährleistet werden kann und daß niemand Not zu leiden braucht. Denn wir können den Menschen die Quelle des Reichtums erschließen durch unsre Technik, und wir können erzwingen, daß die damit verbundenen Besitzänderungen sich in Ruhe vollziehen. Den kleinlichen Eigennutz, den Krämersinn, die Unduldsamkeit, die Klassenherrschaft bringen wir zum Verschwinden, sobald ein jeder klar zu durchschauen vermag, welche Stelle im großen Zusammenwirken der einzelnen er ausfüllt. Der tückische, nagende Neid entflieht aus der Welt, und Menschenliebe hält den siegreichen Einzug.«

Ell war aufgestanden, seine Augen leuchteten, begeistert sah er in die Zukunft, die ihm nahe herangekommen schien. La hatte die Hände von der Schreibmaschine herabsinken lassen. Sie blickte ihn an.

»Halten Sie mich nicht für einen Schwärmer«, fuhr er fort. »Nicht daß ich meinte, Leid und Schmerz aus der Menschheit verbannen zu können. Ohne sie stände das Weltgetriebe still. Aber reinigen können wir dieses Leid, veredeln zu dem heiligen Schmerz, der untrennbar ist von der Liebe und dem Einblick in uns selbst. Die fremden Schlacken können wir ausstoßen, die aus der Not, der Roheit und der Dummheit stammen.«

»Sie glauben an die Menschheit«, sagte La. Auch sie erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich begann an ihr zu zweifeln, ich will es Ihnen gestehen. Ob sich Ihr Traum erfüllen läßt, ich weiß es nicht, aber ich danke Ihnen, daß Sie ihn träumen, daß Sie ihn mir erzählten. Sie haben mir neuen Mut gemacht, denn ich fürchtete manchmal, daß das Zusammentreffen mit den Menschen beiden Teilen verderblich werden könnte.«

»Fürchten Sie das nicht, La. Die Erde ist reich, viel reicher als der Mars. Sie empfängt von der Sonne fast das Zehnfache der Energie wie wir. So lange die alte Sonne strahlt, ist das Leben gesichert. Was läßt sich unter unseren Händen aus dieser Riesenkraft schaffen! In einem Jahr wird die Erde bedeckt sein mit Fabriken, in denen wir mit Hilfe der Sonnenenergie aus den unerschöpflichen Quellen der Erde von Luft, Wasser und Gesteinen Lebensmittel erzeugen und verteilen, die nahezu nichts kosten. Die äußere Not ist mit einem Schlag auch von dem Ärmsten genommen. Die Besitzer des Bodens können wir ohne Mühe entschädigen. Ich rechne, daß wir für jeden Menschen in den zivilisierten Staaten – denn diese können allerdings vorläufig erst in Betracht kommen – im Durchschnitt vier bis sechs Stunden gewinnen, die er nunmehr allein seiner geistigen Ausbildung widmen kann. Wir führen unsere Lehrmethoden ein. Die Menschen sind lernbegierig. Die unmittelbare Zuführung von Gehirnenergie wird ihnen die neue Anstrengung zur Lust machen. Die Wahnvorstellungen der Tradition in allen Bevölkerungsklassen werden verschwinden. Die Rüstungen, die Kriege hören auf. Wir üben in dieser Hinsicht zunächst einen leichten Zwang aus, bis die bessere Einsicht durchgedrungen, die bessere Haltung zur Gewohnheit geworden ist. Denn dies freilich wird notwendig sein; der Mensch muß zu jeder großen Veränderung erst gezwungen werden, bis er den Vorteil begreift und das Neue lieben lernt. Ich habe alles schon mit Ill durchgesprochen.«

»Sie müssen die Menschen besser kennen als ich«, sagte La. »Aber glauben Sie denn, daß das alles sich ohne Gewalt durchführen läßt?«

»Ich hoffe es. Wenn aber nicht, so werden wir sie anwenden –«

»O Ell, da sprechen Sie als Mensch – und das ist meine große Sorge – ihr Menschen werdet uns vergessen machen, daß Gewalt ein Übel ist, unwürdig –«

Die Klappe des Fernsprechers löste sich.

»Ist La zu Hause?« fragte Saltners Stimme.

»Ja, ja«, rief La. »Kommen Sie nur. Sie haben sich den ganzen Tag noch nicht sehen lassen.«

»Ich komme sogleich.«

33. Kapitel

Fünfhundert Milliarden Steuern

Eine Minute später trat Saltner ein. Seine Miene verzog sich ein wenig enttäuscht, als er Ell in lebhaftem Gespräch mit La fand. Gleich nach der Begrüßung holte er ein Zeitungsblatt hervor.

»Da«, sagte er, »lesen Sie bitte. Wenn die Nume so sind, weiß man wirklich nicht, ob man lachen soll oder sich entrüsten. Zur Abwechslung werde ich mich einmal entrüsten. Es ist –«

»Sal, Sal«, rief La lachend, »setzen Sie sich, bitte, ruhig her, und dann wollen wir sehen, ob wir nicht lieber lachen wollen.«

Sie faßte seine Hand und zog ihn an ihre Seite. »Der Streit der Planeten soll uns nichts anhaben«, sagte sie leise.

Ell ergriff das Blatt und las:

»Wie wir aus sicherer Quelle erfahren, soll die Ausrüstung des nach dem Südpol der Erde zu entsendenden Raumschiffs weitere zwanzig bis dreißig Tage in Anspruch nehmen. Man macht angeblich noch Versuche, um die Luftschiffe gegen etwaige Angriffe von Menschen widerstandsfähiger zu machen. Ja, es soll der Bau dieser Schiffe überhaupt stark im Rückstand sein. Wir finden diese Verzögerung seitens der Erdkommission unverantwortlich. Die Erregung gegen die Menschen wächst sichtlich und mit vollem Recht. Man hat aus den Berichten der Augenzeugen erfahren, daß die Darstellung jenes Zwischenfalls mit dem englischen Kriegsschiff von der Regierung viel zu milde gefärbt war. Die den Numen angetane Schmach erfordert eine schnelle Bestrafung der Schuldigen. Wozu überhaupt diese Umstände mit dem Erdgesindel?«

»Erdgesindel! Hören Sie!« rief Saltner, »Da soll doch gleich –«

Ein Händedruck Las hielt ihn auf seinem Platz. »Lesen Sie weiter«, sagte sie zu Ell.

»Wir haben genaue Informationen über die Verhältnisse auf der Erde eingezogen. Sie sind geradezu haarsträubend. Von Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit haben diese Menschen keine Ahnung. Sie zerfallen in eine Menge von Einzelstaaten, die untereinander mit allen Mitteln um die Macht kämpfen. Darunter leidet die wirtschaftliche Kraft dermaßen, daß viele Millionen im bedrückendsten Elend leben müssen und die Ruhe nur durch rohe Gewalt aufrecht erhalten werden kann. Nichtsdestoweniger überbieten sich die Menschen in Schmeichelei und Unterwürfigkeit gegen die Machthaber. Jede Bevölkerungsklasse hetzt gegen die andere und sucht sie zu übervorteilen. Wer sich mit der Wahrheit hervorwagt, wird von Staats wegen verurteilt oder von seinen Standesgenossen geächtet. Heuchelei ist überall selbstverständlich. Die Strafen sind barbarisch, Freiheitsberaubung gilt noch als mild. Morde kommen alle Tage vor, Diebstähle alle Stunden. Gegen die sogenannten unzivilisierten Völker scheut man sich nicht, nach Belieben Massengemetzel in Szene zu setzen. Doch genug hiervon! Und diese Bande sollen wir als Vernunftwesen anerkennen? Wir meinen, es ist unsre Pflicht, sie ohne Zaudern zur Raison zu bringen durch die Mittel, die ihr allein verständlich sind, durch Gewalt. Es sind wilde Tiere, die wir zu bändigen haben. Denn sie sind um so gefährlicher, als sie Spuren von Intelligenz besitzen. Leider hat man sich, wie es scheint, in der Regierung durch einzelne Exemplare dieser Gesellschaft täuschen lassen, und wir wollen nur hoffen, daß hierbei bloß ein Irrtum und nicht eine Rücksicht auf gewisse Beziehungen vorliegt –«

Ell unterbrach sich.

»Das ist denn doch zu arg!« rief er. »Das sind Verdächtigungen, die man sich nicht gefallen lassen kann.«

»Meine Befürchtung!« sagte La. »Die Berührung mit den Menschen bringt einen Ton in unser Verhalten, wie er sonst im öffentlichen Leben nicht Sitte war. Nein, Ell, nein, meine lieben Freunde, Sie sind gewiß nicht daran schuld; es liegt in der Sache selbst – die antibatische Bewegung setzt eine Verrohung des Gemüts überhaupt voraus.«

Saltner rieb sich ingrimmig die Hände. »Lesen Sie nur weiter«, sagte er. »Jetzt haben Sie sich entrüstet, und ich werde wieder lachen.«

»Wir halten es für sinnlos«, las Ell weiter, »daß zwischen Wilden wie den Erdbewohnern und zwischen Numen überhaupt eine Verbindung verwandtschaftlicher Art stattfinden könne. Der Fall Ell bedarf entschieden einer näheren Untersuchung und Aufklärung. Wir haben diesen angeblichen Halbnumen noch nicht gesehen. Aber ein richtiges Exemplar der Menschheit hatten wir zu betrachten das zweifelhafte Vergnügen. Wer dieses stupide Gesicht mit den blinzelnden Punkten, die Augen sein sollen, diesen unanständigen, ungefärbten Anzug, diese rohen Bewegungen einmal gesehen hat, der wird sich sagen, diese Rasse kann von uns nur als vielleicht nutzbares Haustier geduldet werden.«

Ell warf das Blatt fort.

La brach in ein herzliches, leises Lachen aus, in das Saltner einstimmte. Sie trat vor Saltner und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. »Ich muß mir doch einmal unser Haustierchen betrachten«, sagte sie lustig. »Sie sind wirklich ausgezeichnet geschildert.«

Sie sah in seine Augen, ihre Züge wurden ernster, ihr Blick inniger und tiefer. »Mein lieber, braver Freund«, sagte sie. Sie bog seinen Kopf zurück und küßte ihn.

Ell lächelte nun auch. »Wenn man so entschädigt wird«, sagte er, »muß man ja bedauern, nicht auch kräftiger geschildert zu sein. Aber Sie haben recht, man muß auf dieses dumme Zeug keinen Wert legen. Trotzdem bin ich froh, daß man Frau Torm wenigstens aus dem Spiel gelassen hat.«

»Es lohnt sich natürlich nicht, sich darüber zu ärgern«, sagte Saltner, »nichtsdestoweniger kann das Geschreibe Unheil anrichten.«

»Dazu ist es doch zu dumm, das nimmt niemand ernsthaft. Man kennt das Blatt als unzuverlässig.«

»Aber ich habe hier noch etwas anderes, das vielleicht politisch nicht ohne Einfluß sein dürfte. Ich hörte, daß ähnliche Ansichten nicht nur in weiten Kreisen geteilt werden, sondern sogar im Zentralrat Anhänger besitzen. Lesen Sie folgende Vorschläge, die das neugegründete Blatt, die ›Ba‹, macht.«

Ell nahm das Blatt und las: »Es ist bezeichnend für unsre Regierung, die sich 144 Luftschiffe für die Erde bewilligen ließ, daß sie jetzt im entscheidenden Augenblick kein einziges bereit hat. Aber für die Staaten ist es ein Glück. Die Begeisterung der Kolonialschwärmer hat Zeit, sich abzukühlen, und diese Abkühlung schreitet schnell vorwärts. Es wird auffallend still über unsre Brüder im Sonnensystem, die wir mit der Liebe und Freiheit der Nume umschließen sollen. Und es ist gut, daß wir zur Besinnung kommen. Man glaube nur nicht, daß uns die Menschen mit offenen Armen entgegenkommen werden. Unser Stand wird nicht leicht sein, und unsre Opfer werden sich höher und höher steigern. Sowohl die Menschenfreunde als die Antibaten unterschätzen den Widerstand, den wir zu erwarten haben. Deswegen sollen wir von vornherein klar sagen, was wir wollen, und dann rücksichtslos handeln, nicht auf ein Entgegenkommen rechnen, sondern ohne weiteres unsere Bedingungen mit dem Telelyt und Repulsit diktieren. Es mag sein, daß die Menschen sich zur Numenheit erziehen lassen, und wir sind die ersten, welche bereit sind, sie als Brüder anzuerkennen; aber dies wird uns nur möglich sein, wenn sie sehen, daß jeder Widerstand aussichtslos ist.«

»Es kommen nun einige Stellen«, sagte Saltner, »die eigentlich nichts andres verlangen, als was die Regierung selbst wollte, nämlich warten, bis die Martier überall zugleich losschlagen können. Aber lesen Sie, bitte, die Vorschläge hier unten.«

»Wir warnen davor, von der Erde zu viel zu erwarten. Wir werden sie niemals besiedeln können. Die Schwere und die Atmosphäre machen uns den dauernden Aufenthalt unmöglich. Wir werden immer nur einzelne Stationen mit wechselnder Besatzung drüben erhalten können. Die Ausnutzung des Reichtums der Erde muß durch die Menschen für uns geschehen. Etwa in folgender Weise. Die Gesamtstrahlung der Sonnenenergie auf die Erde beträgt –« Ell unterbrach sich.

»Ja«, sagte Saltner, »die Zahlen verstehe ich nicht. Aber es wäre mir doch ganz interessant zu wissen, wie hoch uns die Herren Nume eigentlich einschätzen.«

»Ich will sie schnell umrechnen«, rief La. »Es ist ganz leicht. Sie wissen, unsere Münzeinheit gründet sich auf die Energiemenge, die von der Sonne während eines Jahres auf die Einheit der Fläche des Mars ausgestrahlt wird.«

»Gehört hab ich's schon«, sagte Saltner, »als man mir meinen ›Energieschwamm‹ ausgezahlt hat, aus dem ich alle Tage mein Taschengeld abzapfe. Aber warum Sie so rechnen, das weiß ich nicht.«

»Es ist das Einfachste. Einen vergleichbaren Preis mit allen Kräften der Natur hat doch nur die Arbeit, eine gleichbleibende Arbeitsmenge können wir leicht mechanisch definieren und herstellen, und alle Arbeitskraft, die wir zur Verfügung haben, stammt von der Sonne. Wir fangen die gesamte Sonnenstrahlung auf, benutzen sie, um eine bestimmte Menge Äther zu kondensieren, und so besitzen wir eine überall verwertbare Einheit der Arbeit. Die Sonnenstrahlung haben wir mit der Erde gemeinsam, hier muß sich also auch eine Vergleichbarkeit unserer Währungen ergeben.«

»Verzeihen Sie«, unterbrach sie Ell, »es besteht dabei noch eine Schwierigkeit. Ich habe nämlich die Umrechnung schon gemacht, um ein Urteil über das Budget der Erde aufzustellen. Aber auf der Erde vermögen wir Menschen nur einen sehr beschränkten Teil der Sonnenstrahlung, eigentlich nur die Wärme zu verwerten, während Sie auf dem Mars auch die langwelligen und die kurzwelligen Strahlen, die gar nicht durch unsere Atmosphäre gehen, in Wärme umwandeln und daher mitrechnen. Ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, wie groß dieser Betrag ist.«

»Das schlagen wir nach«, sagte La. Sie hatte schon das physikalische Lexikon ergriffen. »Hier steht es. Wir können rechnen, daß die Ihnen bekannte Strahlung der Sonne etwa den zwölften Teil der von uns benutzten beträgt.«

»Dann ist es sehr einfach«, meinte Ell. »Die übrige Umrechnung habe ich schon früher für mich in Tabellen gebracht. Hier ist sie. Wir wollen also von den Angaben für den Mars nur ein Zwölftel rechnen. Dann kommt die Einheit der Sonnenstrahlung auf dem Mars etwa gleich 500 000 Wärmeeinheiten auf der Erde, was ungefähr, soweit sich der Kohlenpreis fixieren läßt, einem Wert von fünfzig Pfennig entsprechen dürfte. So – nun will ich Ihnen die Berechnungen gleich in Mark vorlesen –«

»Hören Sie«, warf Saltner ein, »der Wert einer Wärmeeinheit ist doch aber sehr schwankend, je nachdem –«

»Ganz gewiß, ich will auch nur zur Bequemlichkeit statt einer Million Kalorien, was das genaue Maß des Arbeitswertes wäre, der Anschaulichkeit wegen eine Mark sagen; ein ungefähres Bild der Größenverhältnisse gibt es doch. Nach meiner Umrechnung also lautet der Artikel weiter:

›Die Gesamtstrahlung der Sonnenenergie auf die Erde beträgt im Laufe eines Erdenjahres 3000 Billionen Mark, wovon aber nur 1200 bis auf die Erdoberfläche gelangen. Wir können indessen auf der Erde nur einen relativ viel kleineren Teil mit Strahlungssammlern besetzen als auf dem Mars, für den Anfang sicher nicht mehr als ein Prozent. Das gibt eine Billion Mark, die wir durch diese Anlagen den Menschen jährlich schenken. Allerdings müssen sie dafür arbeiten, aber die Arbeit wird ihnen reichlich bezahlt, wenn wir jährlich nur 500 000 Millionen Mark für uns als Steuer beanspruchen. Sie werden sich immer noch zehnmal besser stehen als bei ihren bisherigen Hilfsquellen, die ihnen außerdem noch zum großen Teil bleiben. Außer der Strahlungsenergie können wir uns noch Luft, Wasser, kohlensauren Kalk und andere Mineralien liefern lassen. Wir müssen nur die Lieferungen an Arbeit und Stoffen auf die einzelnen Staaten nach ihrer Bevölkerungszahl verteilen. Es wird sich empfehlen, dies so zu tun, daß die einzelnen Marsstaaten sogleich die betreffenden Erdgebiete zugeteilt erhalten, an die sie sich zu halten haben. Eine Vorschlagsliste gedenken wir demnächst zu veröffentlichen. Doch müssen wir den Anspruch unseres Nachbarstaates Berseb, die gesamten Vereinigten Staaten von Nordamerika für sich zu verlangen, schon heute zurückweisen; wenn diese große Ländermasse nicht geteilt werden soll, so wäre jedenfalls unser Hugal als der volkreichste Marsstaat am meisten berechtigt.‹«

»Sackerment, das nenn ich bescheiden«, sagte Saltner nach einer Pause. »Fünfhundert Milliarden jährlich, ohne das übrige! Da haben Sie uns eine schöne Suppe eingebrockt, Meister Ell, mit Ihren berühmten Numen.«

»Ich bitte Sie, Saltner«, antwortete Ell ärgerlich, »erstens sind das vage Projekte, auf die nicht viel zu geben ist; und zweitens, wenn der Mars Revenuen von der Erde zieht, so macht er sich eben nur für das Kapital und die Arbeit bezahlt, die er für die Kultur der Erde aufwendet, die Menschheit aber wird davon den größten Vorteil haben. An dieser meiner Überzeugung können alle die Auswüchse nichts ändern, die sich natürlich im Anfang einer so gewaltigen Unternehmung in der Phantasie unserer Landsleute bilden. Sie müssen sich nicht wundern, daß selbst den Numen der Gedanke zu Kopf steigt, durch die Erde auf einmal das Zehnfache derjenigen Energie zur Verfügung zu haben, welche die Sonne unserm Planeten allein spendet. Denn daß die Martier über die Erde verfügen können, ist doch nun nicht mehr zu leugnen.«

»Na, darüber ließe sich doch noch Verschiedenes sagen. Ich würde den ersten martischen Satrapen, der mir meine Million Kalorien abknöpfen wollte, mir doch erst ein wenig mit meinen Fäusten betrachten. Darin sind wir halt eigen.«

Ell zuckte die Achseln. »Es wird Ihnen wenig nützen«, sagte er.

»Vielleicht doch«, entgegnete Saltner trocken, »wenn alle so dächten, oder wenigstens viele. Es könnte nützen. Zunächst denen, die etwa Lust hätten, sich auf die Seite der Martier zu stellen; die könnte es zur Besinnung bringen, wenn sie sehen, wie ehrliche Menschen über die Treue zum Vaterland denken. Und im Notfall mir selbst. Denn besser ist es, mit ein bissel Repulsit ausgelöscht zu werden, als unter die Fremdherrschaft sich beugen, und wenn sie sich noch so sehr mit dem Namen der Freiheit ausstaffiert. Aber wir wollen uns nicht erhitzen. Darf ich mir ein Pik nehmen?« sagte er zu La.

»Wir wollen uns allerdings nicht erhitzen«, erwiderte Ell mit eisiger Miene. »Darum sollten Sie sich selbst etwas vorsichtiger ausdrücken. Man könnte auch auf dem Mars fragen, was ein jeder, der auf seiner Oberfläche wandelt, der Sache der Nume schuldig ist. Und was den Begriff der Fremdherrschaft anbetrifft, so kommt es doch ganz darauf an, was man als fremd ansieht. Die Staatsangehörigkeit jedes einzelnen würde unangetastet bleiben; wenn aber der Staat selber der Leitung einer höheren Vernunft unterliegt, so würde das für jeden Bürger nur eine größere bürgerliche Freiheit, einen weiteren Schritt zur Selbstregierung bedeuten.«

»Die sich in der Freiheit äußern würde, mehr Steuern zu zahlen. Oder meinen Sie vielleicht, man würde uns das Wahlrecht in den Marsstaaten oder einen Sitz im Zentralrat gewähren? Man wird uns immer nur als die Handlanger betrachten, die man vielleicht anständig füttert und im übrigen nach Belieben gängelt. Aber ein Haustier bin ich nit und werd ich nit. Ich nit!«

»O ihr Blinden!« rief Ell. »Seht ihr denn nicht, daß ihr nichts anderes seid als Sklaven, Sklaven der Natur, der Überlieferung, der Selbstsucht und eurer eigenen Gesetze, und daß wir kommen, euch zu befreien, daß ihr nur frei werden könnt durch uns?«

»Ich glaub nicht an die Freiheit, die nicht aus eigner Kraft kommt.«

»Wir wollen ja nur diese eigne Kraft stärken. Und nun weigert ihr euch wie ein Kind, das Arznei nehmen soll.«

La hatte schweigend zugehört. Ell hatte sie wiederholt angeblickt, als wollte er sich ihrer Zustimmung versichern, aber ihre Augen ruhten auf Saltner. Was er sagte, war ihr aus dem Herzen gesprochen, sie freute sich des kräftigen Ausdrucks seiner einfachen, natürlichen Gesinnung, aber durch ihre Seele zog es schmerzlich. War es nicht eine verlorene Sache, für die er kämpfte? Das große Schicksal, das über die Planeten rollte, mußte es nicht diese trotzigen Erdenkinder zermalmen? Ell hatte doch recht, die Numenheit ist die Vernunft, ist die Freiheit, und ihr Sieg ist gewiß, wie auch der edle Irrtum des einzelnen sich sträube. Und dennoch! Was ist denn das Schicksal, wenn nicht die Festigkeit im ehrlichen Willen der Person? Was ist denn die Freiheit, wenn nicht der Entschluß, mit dem ein jeder nach seinem besten Wissen und Gewissen handelt, was ihm auch geschehe? Und welch höhere Freiheit konnten die Nume geben?

»Nein, Ell«, sagte La jetzt langsam, als Saltner auf Ells letzten Vergleich nicht antwortete, »nein – nicht wie ein Kind. Saltner hat wie ein Mann gesprochen. Ein Nume mag es besser verstehen, aber besser wollen und fühlen kann man nicht. Und ich weiß, er wird auch so handeln.«

Sie reichte Saltner die Hand. Ihre dunklen Augen schimmerten feucht, als sie sagte:

»Warum muß es denn zum Streit kommen? Lassen Sie uns alles versuchen, daß Nume und Menschen Freunde werden. Es ist ja doch nur notwendig, daß sie sich kennenlernen, ehrlich kennenlernen. Lassen Sie uns den Irrtum, die Verleumdung bekämpfen, die sich einzuschleichen drohen. Noch ist es vielleicht Zeit! Nicht wahr, auch Sie wollen es, Ell?«

»Was könnte ich Höheres wollen?« erwiderte Ell warm. »Es war der Wunsch meines ganzen Lebens, die Versöhnung, das Verständnis der Planeten herbeizuführen, ihre Kulturarbeit zu vereinen. Seit ich die Nume persönlich kennengelernt habe, ist mein Wunsch lebhafter als je. Daß die Nume die Überlegenen sind, ist eine Tatsache. Wenn es zum Kampf kommt, werden die Menschen unterliegen, das folgt daraus. Daß ich trotzdem in diesem Fall auf der Seite der Nume stehen würde, ist ebenso natürlich wie der entgegengesetzte Standpunkt Saltners. Was ich nicht billige, ist nur das Mißtrauen, mit dem die Menschen uns begegnen, weil sie von einem Teil der Martier von oben herab behandelt werden. Aber diese Zeitungen sind doch nicht die Marsstaaten. Ich hoffe wie Sie, daß die entgegengesetzten Stimmen bald durchdringen werden. Hätte Saltner andere Blätter gelesen, er wäre sicherlich weniger bitter gestimmt.«

»Ich habe auch die andern gelesen«, sagte Saltner, »den ganzen Vormittag habe ich mich mit den Zeitungen herumgeschlagen. Leider haben sie einen schweren Stand, zu beweisen, daß die Menschen anständige Leute sind. Was sie für uns sagen können, das müssen ihnen die Martier halt glauben. Aber was sich gegen uns sagen läßt, das haben sie in einem einzelnen Fall gesehen. Daran sind die sakrischen Engländer schuld. Aber auch die beiden vorlauten Matrosen vom Luftschiff und ihre Helfershelfer, die die Sache im Theater aufgebauscht haben. Dagegen müßte die Regierung mehr tun, als die bloße Berichtigung loslassen, die heute in den Zeitungen steht.«

»Es wird auch geschehen«, sagte Ell. »Ich will eben deshalb jetzt zu Ill, der gestern in Erwägung zog, ob sich nicht ermitteln lasse, wie die Engländer dazu gekommen sind, unsere Leute anzugreifen. Vielleicht lag nur ein Mißverständnis vor. Und wenn sich das beweisen ließe, wenn sich außerdem zeigte, daß die Darstellung im Theater und so weiter übertrieben ist, so wird die Gerechtigkeit bei den Martiern siegen.«

»Wie wollen Sie das nachweisen, da Sie keine andern Zeugen haben als die beiden Martier, von denen ich gar nicht behaupten will, daß sie absichtlich übertreiben, die aber in ihrer Bedrängnis nicht objektiv urteilen können?«

»Es käme darauf an zu sehen, was an dem Cairn – an dem Steinmann, den die Engländer errichtet hatten – eigentlich vorging bis zu dem Augenblick, in welchem die Seeleute dem Offizier zur Hilfe kamen. Auch wäre es sehr gut, wenn unsere Landsleute sich durch den Augenschein überzeugen könnten, wie europäische Matrosen und ein europäisches Kriegsschiff eigentlich aussehen –«

»Das ist wahr«, sagte Saltner. »Am Ende ginge ihnen doch ein Licht auf, daß die Menschen keine Wilden sind, mit denen zu spaßen ist. Aber wie sollte so ein Nachweis möglich sein über einen Vorgang, der in der Öde des Kennedy-Kanals vor Wochen stattgefunden hat?«

»Durch das Retrospektiv.«

Saltner machte ein erstauntes Gesicht.

»Das ist ein glücklicher Gedanke«, rief La.

»Ich habe dabei gar keinen Gedanken«, sagte Saltner kopfschüttelnd.

La erklärte das Verfahren. Saltner wurde wieder kleinlaut. Bedrückt setzte er sich nieder und murmelte für sich hin:

»Medizin! Wir sind ja doch arme Rothäute!«

Ell verabschiedete sich.

»Wenn es noch zur Anwendung des Retrospektivs kommt«, sagte La, »dann müssen Sie mir aber einen guten Platz verschaffen.«

»Ich wäre glücklich, Ihnen gefällig sein zu können.«

Ell sprach es wärmer als gewöhnlich und ließ seinen Blick lange auf La ruhen, die ihn lächelnd ansah. Dann ging er.

La wendete sich zu Saltner. Sie faßte seine Arme und blickte ihn an. »Wie bin ich froh, daß ich dich hier habe, du geliebter Mensch!« sagte sie.

34. Kapitel

Das Retrospektiv

Die Rüstungen der Martier für ihren Zug nach der Erde waren darauf berechnet gewesen, sobald das Frühjahr für die Nordhalbkugel der Erde gekommen sei, sich gleichzeitig mit ihren Luftschiffen über sämtliche Hauptstädte der einflußreicheren Staaten zu legen und die Regierungen zu zwingen, die vom Mars zu diktierenden Bedingungen ohne weiteres anzunehmen. Es sollte dann unter einer Art Protektorat der Marsstaaten den Erdbewohnern die Kultur der Martier zugänglich gemacht werden, und man wollte abwarten, in welcher Weise sich die Marsstaaten am besten aus den alten und neuen Hilfsmitteln der Erde würden schadlos halten können.

Jetzt auf einmal sollte sofort und unter veränderten Umständen eine Expedition abgesandt werden. Man hatte die Erfahrung gemacht, daß die Erdbewohner vermutlich Widerstand leisten würden und daß sie nicht ungefährliche Mittel der Verteidigung besaßen. Man konnte nur wenige Luftschiffe auf einmal nach der Erde transportieren und mußte darauf gefaßt sein, statt einfach ein Protektorat zu erklären, in einen Krieg mit England, vielleicht mit der ganzen Erde verwickelt zu werden.

Daher hatte Ill alle Ursache, in seinen Entschlüssen und Handlungen sich nicht zu überstürzen. Je länger sich die Aktion gegen England hinzog, um so eher konnte er hoffen, eine genügende Macht auf der Erde zu versammeln, um nach dem ursprünglichen Plan eine Besetzung aller Kulturstaaten sofort anzuschließen. Da sich die Planeten jetzt voneinander entfernten, nahm die Reise immer längere Zeit in Anspruch. Wenn sich die Absendung des Raumschiffs noch um einen Monat verzögerte, so mußte wenigstens ein zweiter Monat ablaufen, ehe es nach der Erde gelangte. Aber auch dann wollte er nicht sogleich vorgehen, sondern zunächst weitere Verstärkungen abwarten. Etwa im Januar – nach irdischer Rechnung – hoffte er stark genug zu sein, seinen Forderungen den nötigen Nachdruck zu geben. Ließen sich nun die Verhandlungen mit England noch einige Zeit verschleppen, so hatte sich inzwischen die Raumschiffflotte auf der Außenstation des Nordpols eingefunden, und Mitte März konnte man dort mit der Indienststellung der Luftschiffe beginnen.

Ill hatte aber auch noch andere Gründe, die Absendung des Raumschiffs nach dem Südpol zu verzögern. Es hatte sich ja gezeigt, daß die Luftschiffe vor den Waffen der Erdbewohner keinen genügenden Schutz besaßen. Einen solchen galt es erst herzustellen. Wenn es gelang, die Luftschiffe gegen Geschosse jeder Art aus irdischen Geschützen widerstandsfähig zu machen, so war dadurch der Erfolg gesichert. Versuche darüber konnten erst jetzt angestellt werden, nachdem man die Wirkungsart der Repetiergewehre und der großen Marinegeschütze kennengelernt hatte. Und in dieser Hinsicht war man einer neuen Entdeckung von ganz erstaunlicher Wirkung auf der Spur. Dieses Argument schlug durch. Die oppositionellen Parteien im Parlament wie in der Presse beruhigten sich darüber, daß die Absendung der Expedition sich verzögerte. Die Wichtigkeit der technischen Vervollkommnung der Luftschiffe leuchtete ebenso ein wie die Schuldlosigkeit der Regierung, daß diese Erfahrungen nicht früher gemacht werden konnten. Sobald es sich überhaupt um die Lösung einer wichtigen technischen Aufgabe handelte, gab es keine Parteikämpfe mehr. Dann waren alle einig, und alles Interesse konzentrierte sich darauf. Da war ein Ehrenpunkt für jeden Martier berührt, und das technische Problem drängte alle anderen Fragen in den Hintergrund.

So kam es, daß die Hetze gegen die Erdbewohner und die zahllosen Pläne über die Ausnutzung der Erde nach wenigen Wochen verstummten und wieder eine ruhigere Auffassung Platz griff. Doch die Regierung ließ sich dadurch nicht täuschen. Es war kein Zweifel, daß ähnliche Gesinnungen wieder hervortreten würden, ja daß sie sich zu einem chauvinistischen Übermut verdichten würden, sobald es feststand, daß die martischen Schiffe durch menschliche Waffen unverletzbar seien. Die Gefahr lag vor, daß der Gegensatz zwischen beiden Planeten dann zu einer Vergewaltigung der Erde führen, daß die Regierung zu kriegerischen Maßregeln gegen die ohnmächtigen Menschen gedrängt werden könnte. Der Zentralrat war jedoch, in voller Übereinstimmung mit Ill, fest gewillt, dies zu vermeiden und die Würde der Numenheit in den Verhandlungen mit der Erde zu wahren, indem er die Übermacht der Martier nur benutzen wollte, Feindseligkeiten der Menschen ihrerseits unmöglich zu machen und dadurch das friedliche Zusammenwirken der Planeten zu erzielen. Es wurde daher versucht, ein Gesetz durchzubringen, das von vornherein den Menschen die Freiheit der Persönlichkeit garantieren sollte, indem es sie als Vernunftwesen erklärte. Doch war eine starke antibatische Opposition dagegen vorhanden, und auch die gemäßigteren Parteien erklärten, daß zuvor die Angelegenheit mit England geordnet sein müsse.

Man bestrebte sich jetzt von seiten der Regierung wie der Philobaten – so übersetzte Ell die Bezeichnung der menschenfreundlichen Richtung –, nach Möglichkeit bessere Ansichten über die Erdbewohner zu verbreiten. Dahin gehörte auch die Aufklärung des Zwischenfalls mit dem englischen Kriegsschiff. Namentlich war es für die beabsichtigten Unterhandlungen mit England wichtig und erforderlich, genau aus eigenen Quellen zu wissen, was am Cairn vorgegangen sei, womöglich auch, was aus dem Kriegsschiff geworden. Infolgedessen entschloß sich der Zentralrat, auf Antrag von Ill, einen Versuch mit dem Retrospektiv zu machen.

Die Einstellung des Apparates, um durch ihn ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit wieder zu erblicken, bedurfte einer längeren Vorbereitung. Es war schwierig, genau die Richtung zu ermitteln, in welcher die Achse des Kegels von Gravitationsstrahlen liegen mußte, den man aussandte, um das zur Zeit des Ereignisses vom Planeten zurückgestrahlte Licht auf seinem Weg durch den Weltraum einzuholen und wieder zurückzubringen. Es kam dabei eine Menge von Einzelheiten in Betracht, welche mehrtägige theoretische Untersuchungen und langwierige Rechnungen erforderten. Alsdann bedurfte es noch praktischer Versuche, um die passendste Einstellung zu finden und zu korrigieren. Nachdem die zurückkehrenden Gravitationswellen wieder in Licht verwandelt worden waren und das optische Relais passiert hatten, erschien endlich das Bild der aufgesuchten Gegend in einem völlig verdunkelten Zimmer auf eine Tafel projiziert. Handelte es sich nicht nur um eine Schaustellung, sondern um Konstatierung von Tatsachen, so wurde das Bild, das sich natürlich fortwährend veränderte, indem es den ganzen Verlauf des beobachteten Ereignisses darstellte, durch eine ununterbrochene Folge von Momentphotographien fixiert, die später im Kinematograph wieder in ihrer lebendigen Folge betrachtet werden konnten. Die Schwierigkeiten des Versuchs waren nun im vorliegenden Fall in noch viel höherem Grad als sonst vorhanden, da man ein Ereignis betrachten wollte, das sich auf einem andern Planeten vollzogen hatte, und da man außerdem beabsichtigte, den Schauplatz, der Bewegung des Schiffes folgend, zu wechseln. Es war das erste Mal, daß man das Retrospektiv auf einen so komplizierten Fall anwendete, und man durfte nicht erwarten, daß alle Teile des Versuchs gleichmäßig oder überhaupt glücken würden. Das Experiment selbst sollte daher nicht öffentlich sein. Es konnte nachträglich wiederholt werden, in jedem Fall gaben die bewegten Momentphotographien ein unwiderlegbares Protokoll über die Beobachtungen, das jedermann zugänglich gemacht werden konnte.

*

Isma verzeichnete in ihrem Tagebuch bereits den 18. Oktober. Sie mußte erst einige Zeit in ihrem Gedächtnis nachrechnen, ehe sie sich des Datums vergewisserte, denn in den letzten Tagen hatte sie keinerlei Aufzeichnungen gemacht. Sie fühlte sich sehr niedergeschlagen. Zu ihren Besorgnissen kam eine körperliche Verstimmung infolge der Veränderung ihrer Lebensverhältnisse. Einige Tage hatte ihre Schwäche sie so überwältigt, daß sie ihr Zimmer nicht verlassen konnte. Ihre Gastfreunde waren in liebevollster Weise um sie besorgt und hatten sogar Hil den weiten Weg von seinem Wohnort nach Kla machen lassen, um diesen besten Kenner der menschlichen Konstitution auf dem Mars zu Rate zu ziehen. Er hatte angeordnet, daß für Isma ein besonderer Apparat gebaut werde, um die normalen Verhältnisse der Erde in Schwere und Luftdruck für sie herzustellen; und seitdem sie sich die Nacht über und einige Stunden des Tages in diesem künstlichen Erdklima aufhielt, hatte sich ihr Zustand gebessert, und ihre Kräfte waren wieder gestiegen.

Obwohl ihre Gastfreunde und befreundete Familien derselben, vor allem La, sie in jeder Weise aufzuheitern suchten, obwohl sie manchmal über Saltners harmlose Spöttereien und die Schilderungen seiner Abenteuer auf dem Mars herzlich lachen mußte, zählte sie doch sehnsüchtig die Stunden, in denen Ell bei ihr erschien. Er hatte sie täglich aufgesucht und während ihrer Erkrankung, so oft ihr Zustand es gestattete, sich durch den Fernsprecher mit ihr unterhalten. Sein Verhalten gegen sie war stets unverändert freundschaftlich und teilnehmend geblieben, sie hatte keine der kleinen Aufmerksamkeiten vermißt, mit denen er sie seit Jahren verwöhnt hatte. Ihre Wünsche suchte er zu erraten, fast nie kam er, ohne ihr irgend etwas mitzubringen, von dem er glaubte, daß es sie interessieren würde – einen Artikel in den Zeitungen, eine Abbildung oder eine der tausend unterhaltenden Neuigkeiten der Marsindustrie, und wenn er sie erblickte, ruhten seine Augen mit der alten, zärtlichen Anhänglichkeit auf ihr. Sie hätte nicht sagen können, worüber sie sich beklagen dürfte. Und dennoch – sie konnte sich eines schmerzlichen Gefühls nicht erwehren, als wäre eine Entfremdung zwischen ihr und dem Freund eingetreten. In seiner Anwesenheit verschwand es, aber wenn er fort war, stellte es sich wieder ein. Sie quälte sich selbst mit Grübeleien darüber, was sie ihm vorzuwerfen habe.

Warum konnte er so gar nichts darin durchsetzen, daß ihr die Erlaubnis erteilt werde, mit dem Raumschiff nach dem Südpol der Erde abzureisen? Ihre Bitte war von Ill mit Bedauern, aber entschieden abgeschlagen worden; die Verhältnisse gestatteten es nicht. Ell hatte sich vergeblich für sie verwandt; man hatte erklärt, so lange man sich in einer Art feindseligen Zustandes zur Erde befinde, sei es nicht zulässig, daß einer der Erdbewohner entlassen werde. Aber als Ell einmal in ihrer Gegenwart seinem Oheim gegenüber aufs lebhafteste für ihre Zurücksendung nach der Erde eingetreten war, hatte sie sich wieder durch den Eifer verletzt gefühlt, mit dem er bemüht war, sie fortzuschaffen. Und er wollte auf dem Mars bleiben. Es war gar keine Rede davon gewesen, daß er sie begleite. Und jetzt wäre doch sein Platz auf der Erde gewesen, jetzt hätte er zur Versöhnung tätig sein müssen! Was hielt ihn auf dem Mars zurück?

Sie glaubte, es wohl zu wissen. Warum sprach er anfänglich so viel und mit solcher Wärme und Bewunderung von La? Und jetzt suchte er ihren Namen zu vermeiden. Was war zwischen ihn und Saltner getreten, daß sie sich so kühl und förmlich begegneten, wo sie doch mehr als je auf sich angewiesen waren? Und wenn Ell mit La bei ihr zusammentraf, wie seltsam pflegte er sie anzusehen! Sie kannte diesen Blick. Und warum sprach er manchmal so schnell und eifrig zu La in ihrer Sprache, daß sie der Unterhaltung nicht zu folgen vermochte? Sie mochte die beiden nicht zusammen sehen. Ein Gefühl der Kälte durchzog ihre Seele und machte sie feindselig und unwirsch gegen La wie gegen Ell. Es war ja nichts, das sie ihnen vorwerfen konnte, und doch war ihr dieser Verkehr unbehaglich und verstimmte sie. Wenn dann La gegangen war und Ell noch zurückblieb, wenn er dann mit derselben Herzlichkeit zu ihr sprach, die sie eben auch La gegenüber in seinem Ton gehört zu haben glaubte, so stieg es wie Zorn in ihr auf, als wäre ihr etwas genommen, das ihr allein gebührte. Sie war dann unfreundlich gegen Ell, sie machte ihm Vorwürfe, die sie nicht verantworten konnte, und wenn er fort war, bereute sie ihre Worte, ihre Blicke und schalt sich undankbar und schlecht.

Ach, sie kannte auch diesen Zustand, dieses Gefühl der Unzufriedenheit. Und sie konnte es doch nicht ändern. Es war jedesmal so gewesen, wenn Ell an einer anderen Gefallen gefunden hatte. Sie sagte sich selbst, wie töricht sie sei. Sie hatte jedes Recht auf ihn aufgegeben, sie hatte es zur Bedingung ihrer Freundschaft erhoben, daß er sich keine Hoffnungen mache, mehr von ihr zu besitzen als diese Freundschaft. Wie durfte sie ihm verwehren, eine andere zu lieben, da sie selbst verzichtet hatte? Und doch, jedesmal, wenn diese Gefahr zu drohen schien, fühlte sie sich von Eifersucht ergriffen, die sie sich nicht gestehen wollte und die sie doch ohne ihren Willen ihm durch ihr Benehmen eingestand. Warum auch mußte er ihr das jetzt antun, wo sie fremd auf fremdem Planeten, eine Gefangene, krank und einsam weilen mußte, wo er der einzige war, der sie verstehen konnte? Warum mußte er jetzt –? Aber was warf sie ihm denn vor? Warum war sie selbst nicht besser? Warum sagte sie ihm denn nicht, hier, frei von allen Menschensatzungen, daß sie nicht ohne ihn sein wolle, daß sie ihn nicht entbehren wolle, nicht könne? Warum? Weil sie ihn ja doch nicht lieben wollte! Und warum konnte sie sich nicht von ihm losreißen, da sie doch ihren Mann liebte, da sie ausgezogen war, ihn zu suchen in den Öden der Polarnacht, und da sie zu ihm zurückwollte durch die Leere des Weltraums? Und wenn Torm nicht mehr war? Wenn sie zurückkam nach Friedau und er verschollen war, ein Opfer der Forschung, wie so viele vor ihm? Wenn sie dann verlassen war, hier wie dort? Sie ließ die Feder sinken und legte den Kopf in ihre Hände. Ach, daß es kein Zeichen von ihm gab, keine Nachricht! Und daß sie hier sitzen mußte, nicht mehr Tausende, sondern Millionen von Meilen von ihm getrennt, und angewiesen auf den Freund, der um ihretwillen gegangen war, allein mit ihm – gerade alles, was sie hatte vermeiden wollen! Gerade in diese Gefahr hatte sie sich gestürzt, der sie zu entfliehen gedachte. Und sie sah sie vor sich, leibhaftig, jeden Tag in den großen treuen Augen, die sie teilnehmend ansahen –. Ach, darum quälte sie ihn ja, quälte sie sich –

Aber wäre es in Friedau besser gewesen, wenn sie nun doch von ihrem Mann nichts erfahren konnte? Eines wenigstens war sie los, die fortwährenden Fragen, die teilnehmend sein sollten und doch so heuchlerisch waren, die hämischen Blicke, die widerwärtigen, kleinlichen, schamlosen Klatschereien – –

Aus ihrem Nachsinnen weckte sie der Ton, der den Eintritt eines Besuches durch das Gartentor meldete. Sie hörte den Wagen vor der Veranda halten. Das war Ells Stimme, er sprach mit Ma. Isma strich über ihr Haar, sie warf einen Blick in den Spiegel und ärgerte sich über ihre Erregung. Gleich darauf trat Ell ein. Sie ging ihm lächelnd entgegen. Er blickte sie an.

»Es geht Ihnen gut«, sagte er freudig. »Sie sehen wieder frisch und kräftig aus.«

Er hielt ihre Hände. In ihren Augen las er ihre Freude. Es war einer der Tage, an dem sie nicht verbergen konnte, wie lieb er ihr war. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es geht mir eigentlich gar nicht gut. Ich kann von meinen Gedanken nicht loskommen.«

»Dann kommen Sie mit mir, Isma. Sie sollen etwas sehen, worauf wir schon lange warten. Das Retrospektiv ist glücklich eingestellt – der Cairn ist gefunden –«

»Ach, Ell! Noch einmal die schreckliche Geschichte! Ich bin ja leider dabei gewesen. Soll ich sie wirklich noch einmal sehen?«

»Ich dachte, der Triumph der Technik würde Sie interessieren. In die Vergangenheit zu blicken –«

Isma wollte eine abweisende Antwort geben. Aber sie sah, daß es Ell erfreuen würde, wenn sie ihn begleitete. Sie wollte gut zu ihm sein, sie wollte ihm nichts abschlagen.

»Nun denn«, sagte sie, »wenn es Ihnen lieb ist – kommen Sie. Es ist doch etwas Neues in der Form, wenn auch nicht im Stoff. Ich habe aber schon vor einigen Tagen den Platz abgelehnt, den Ihr Oheim mir anzubieten die Güte hatte.«

»Ich habe noch einen für Sie reserviert, allerdings etwas mehr im Hintergrund, wo La und Saltner sitzen, und wer sonst Verbindungen mit der Erdkommission hat. Sie wissen, es handelt sich nur um einen Versuch; außer dem Zentralrat, den Kommissionsmitgliedern und dem Präsidium des Parlaments sind nur einige Vertreter der Presse da. Aber unsre Plätze sind auch gut, und mit diesem Glas, daß ich Ihnen mitgebracht habe, können Sie sicherlich die einzelnen Personen erkennen – wenn wir sie überhaupt zu Gesicht bekommen. Allerdings wird das Bild etwas aus der Vogelperspektive erscheinen, doch hat man den Neigungswinkel so günstig genommen, als es die atmosphärischen Verhältnisse nur immer gestatteten. Ich habe den ›Steinmann‹ vor mir gesehen wie von einem niedrig schwebenden Luftschiff aus.«

Isma schwieg ein Weilchen. Also La war natürlich auch da. Sie verdrängte den aufsteigenden Gedanken und sagte:

»Aber ich begreife nicht – wenn man so deutliche Bilder aus so riesigen Entfernungen erzielen kann, warum betrachten Sie denn nicht die Erde direkt, warum können wir nicht einmal nach Friedau, nach unserm Haus sehen?«

»Mit Hilfe des Retrospektivs ginge das wohl an, aber Sie können nicht verlangen, daß man dieses äußerst schwierige, zeitraubende und kostspielige Experiment anstellt, um irgendeine Neugier zu befriedigen. Was sollte Ihnen das nützen? Was wollte man damit erfahren? Und selbst wenn eine Zeitung zufällig irgendwo aufgeschlagen läge, mit neuen Nachrichten über die Verhältnisse auf der Erde, und sie erschiene im Retrospektiv, so geht die Deutlichkeit doch nicht so weit, daß wir sie lesen könnten.«

»Und mit Ihren Fernrohren können Sie so genau nicht sehen, daß Sie Menschen auf der Erde erkennen könnten?«

»Das ist unmöglich. Beim Fernrohr haben wir mit den Lichtwellen zu tun, da bekommen wir auf so riesige Entfernungen keine erkennbaren Bilder von so kleinen Gegenständen. Das geht nur mit Hilfe der Gravitationswellen. Sie müssen bedenken, daß es die Gravitationsschwingungen sind, durch welche wir die ganze, vom zu beobachtenden Ereignis ausgegangene Bewegung zurückbringen, und daß die Umwandlung in Licht erst hier, innerhalb des Apparates, geschieht. Da bilden sich wieder dieselben Schwingungen, wie sie bei der Aussendung waren, abgesehen von den Störungen, die inzwischen durch äußere Verhältnisse eingetreten sind. Wenn zum Beispiel das Licht auf seinem Weg durch den Weltraum einen Meteorschwarm passiert hatte, so erhalten wir kein deutliches Bild mehr. Fernrohr und Retrospektiv verhalten sich etwa wie ein Sprachrohr und ein Telephon. Direkt können Sie die Schallwellen nicht weit senden, mit dem Telephon aber können Sie sprechen, so weit die elektrischen Schwingungen reichen.«

Isma hatte sich inzwischen zu ihrem Weg zurecht gemacht. Ill und seine Frau befanden sich schon im Retrospektiv-Gebäude. Eine halbe Stunde später hatten auch Isma und Ell ihre Plätze eingenommen. La und Saltner waren kurz zuvor gekommen.

Der große Saal war vollständig verdunkelt, trotzdem konnte man sich in ihm unschwer zurechtfinden und die in der Nähe sitzenden Anwesenden erkennen. Denn das erleuchtete Bild, von welchem das Licht im Saal ausging, nahm an der einen Wand einen Kreis von zehn Metern Durchmesser ein und erhellte dadurch die Umgebung. Es stellte die Gegend an der Küste von Grinnell-Land dar, welche der Schauplatz des englisch-martischen Konflikts gewesen war. Deutlich erkannte man ziemlich in der Mitte des Bildes die Gruppe der beiden englischen Matrosen, welche unter Leitung des Leutnants Prim mit der Errichtung des Cairns beschäftigt waren. Es war überraschend zu sehen, wie die etwa spannenlangen Figuren sich lebhaft durcheinander bewegten. Die Deutlichkeit des Bildes wechselte, mitunter erschien diese, dann jene Stelle etwas verschwommen, mitunter verdunkelte sich ein ganzer Streifen, im allgemeinen waren jedoch selbst Einzelheiten deutlich zu erkennen. Mit ihrem Glas konnte sich Isma die Gestalten der Engländer so nahe bringen, daß sie in dem Offizier denselben Mann wiedererkannte, den sie durch ihr Fernrohr auf dem Verdeck des Kriegsschiffs gesehen hatte.

Da man den Apparat auf ein und dieselbe Stelle des Weltraums eingestellt hielt und nur nach der sich verändernden Lage der beiden Planeten regulierte, so gab das Bild den Verlauf der Ereignisse in dem gleichen Zeitmaß wieder, wie er sich in Wirklichkeit vollzogen hatte. Man befand sich offenbar noch am Morgen, und wenn der ganze Tag in seinem Geschehen verfolgt werden sollte, so stand eine lange und ermüdende Sitzung in Aussicht. Die eintönige Arbeit der Engländer begann schon etwas langweilig zu werden, und Saltner sagte zu La:

»Merkwürdig ist ja die Geschichte, und immerhin können die Herrn Nume hier schon sehen, daß die Englishmen doch nicht ganz so wild sind wie auf ihrem Theater. Aber läßt sich denn die Sache nicht ein bissel beschleunigen?«

»Das geht allerdings«, antwortete Ell, der auf der andern Seite von La saß, »und man wird es wohl nachher auch tun. Man braucht nur den Apparat allmählich auf näher gelegene Stellen des Raumes zu richten, so fängt man die Lichtstrahlen in immer früheren Zeitmomenten ab und bewirkt dadurch, daß alles viel schneller zu geschehen scheint. Aber es treten dabei andere Schwierigkeiten auf. Und jetzt ist es nicht möglich, weil jeden Augenblick der entscheidende Moment eintreten kann. Wir müssen uns also in Geduld fassen.«

Es dauerte nicht mehr lange, so verstummte die Unterhaltung, denn man sah, wie der Leutnant den Cairn verließ und den benachbarten Hügel bestieg. Man konnte auch erkennen, daß er mit dem Feldstecher nach einer bestimmten Richtung blickte. Es zeigten sich nun alle die Ereignisse, wie sie sich abgespielt hatten. Unter lautloser Spannung sah man die Matrosen sich entfernen, man sah mit Hilfe einer kleinen Verschiebung des Bildes, wie sie verunglückten und von den Martiern gerettet wurden, man sah den ganzen Konflikt sich entwickeln – –

Die Martier waren von dem Versuch sehr befriedigt, da sich nun eine Erklärung des Mißverständnisses ergab. Die Engländer hatten die Martier in der Tat für Feinde halten müssen.

Man verfolgte das Schicksal der Gefangenen, bis sie auf dem Kriegsschiff unter Deck gebracht worden waren. Es war nun nichts mehr zu beobachten, da man wußte, daß man die Gefangenen nicht wieder erblicken konnte bis zu dem Moment ihrer Auslieferung. Diese achtzehn Stunden hindurch den Lauf des Kriegsschiffs und seinen Kampf mit dem Luftschiff zu verfolgen, hatte kein Interesse für die vorliegende Frage. Dagegen wollte man gern wissen, was aus der ›Prevention‹ nach ihrer Niederlage geworden sei. Es war daher beschlossen worden, durch eine Umstellung des Apparats diese später liegenden Ereignisse zu beobachten. Während der Vorbereitungen hierzu, die einige Stunden in Anspruch nahmen, verließen die Zuschauer den Saal. Isma erfuhr, daß erst in den Abendstunden die Fortsetzung des Versuchs zu erwarten sei.

Saltner und Isma, ebenso wie Ell, brauchten daher ihre gewöhnliche Tagesbeschäftigung nicht abzusagen, wie sie ursprünglich beabsichtigt hatten. Diese bestand darin, daß sie auf Ersuchen der Regierung es übernommen hatten, täglich einige Stunden mit dazu ausgewählten höheren Beamten das Studium der wichtigsten europäischen Sprachen zu treiben. Außer dem Deutschen hatte Ell den Unterricht im Englischen, Saltner im Italienischen und Isma im Französischen übernommen, den sie nur während ihrer Erkrankung einige Zeit hatte aussetzen müssen.

Gegen Abend wurde Isma von Ell mit der Nachricht angesprochen, daß der Apparat wieder eingestellt und das Kriegsschiff aufgefunden sei. Man räume eifrig auf demselben auf, um die erlittenen Beschädigungen zu beseitigen, und es scheinen daß das Schiff seine Fahrt wieder aufnehmen wolle. Als Isma im Saal des Retrospektivgebäudes erschien, zeigte indessen das Bild nur einen Teil des Meeres und des felsigen Ufers; von einem Schiff war nichts zu sehen. Sie hörte, daß es seinen Kurs nach Süden fortgesetzt habe, dabei aber dem Gesichtskreis entschwunden sei. Infolge einer vorübergehenden Trübung war es noch nicht gelungen, das Schiff wieder aufzufinden. Jetzt war das Bild wieder hell, und in dem Bemühen, das englische Schiff zu entdecken, ließ man die Fläche der Bai und die Felsenufer vorüberziehen. Bald blickte man auf treibende Schollen, bald in Buchten und Fjorde hinein.

Isma kam es vor, als befände sie sich wieder an Bord des Luftschiffes und durchspähte die Gegend, der sie so schnell entzogen worden war, nach Spuren von Hugo – –

Vielleicht war er gar nicht so weit von der Stelle entfernt, die sie jetzt vor Augen hatte, vielleicht verdeckte nur jener Berggipfel das Lager der Eskimos, bei denen ihr Mann weilte! Und da – nein – ja doch – das war doch ein Boot, zwei, drei Boote, was dort in dem Kanal unter dem Ufer sich bewegte –

Isma ergriff krampfhaft Ells Arm. »Sehen Sie doch – sehen Sie nicht dort –?«

»Wahrhaftig«, rief Ell, »es sind Boote, Umiaks, sogenannte Weiberboote der Eskimos. Sie scheinen mehrere Familien mit ihren Habseligkeiten zu tragen. Man wird gewiß das Bild festhalten –«

In der Tat stand die Landschaft jetzt still, man wollte die Boote betrachten, aber die Verschiebung war doch so weit gegangen, daß sie schon durch das höhere Ufer verdeckt waren. Dicht daneben zeigte das Bild das freie Wasser der Bai, in welche der schmale Kanal mündete. Man erwartete, daß die Boote dort zum Vorschein kommen müßten. Bis dahin wollten die Beobachter das freiere Fahrwasser der Umgegend absuchen. Das Bild bewegte sich wieder, man sah nur Meer – und da – am Rand des Lichtkreises bewegte sich etwas Dunkles – es war das Kriegsschiff.

Bis jetzt hatte man ein größeres Gesichtsfeld angewendet, um einen weiteren Umblick zu haben. Nun kam es darauf an, stärkere Vergrößerung zu gewinnen, dabei mußte sich das Gesichtsfeld einschränken. Man sah jetzt, allerdings so deutlich, daß man die Stellung der Matrosen erkennen konnte, nur das Schiff und seine nächste Umgebung; mit dem Glas konnte man den Kapitän und den Leutnant Prim erkennen, der seine Hände, wie zur Übung, langsam hin und her bewegte. Man bemerkte, daß eine Meldung gemacht wurde und sich die Geschwindigkeit des Schiffes, dem der Apparat mit wunderbarer Präzision und nur geringen Schwankungen folgte, verringerte. Ein Boot wurde herniedergelassen. Die Ingenieure des Retrospektivs waren zweifelhaft, ob sie dem Boot folgen oder das Schiff im Auge behalten sollten. Das erstere wurde beschlossen, da das Boot ja jedenfalls zum Schiff zurückkehren mußte. Alsbald war nur noch das rasch rudernde, mit acht Matrosen bemannte Boot auf der Wasserfläche zu sehen. Da erschien ein zweites Boot, ihm entgegenfahrend. Man winkte von diesem aus. Die Fahrzeuge näherten sich rasch, das fremde war jetzt deutlich als grönländischer Umiak zu erkennen. An der Spitze desselben richtete sich ein Mann empor und schwenkte seine Mütze – ein blonder Vollbart umrahmte das weiße Gesicht – er war kein Eskimo –

»Hugo!« gellte eine Stimme laut durch den Saal. Die Martier blickten erstaunt auf, sie wußten nicht, was das bedeute.

»Es ist Torm!« rief Ell erklärend zu Ill hinüber, indem er die zusammensinkende Isma in seinem Arm auffing.

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