Nach der Verlesung der Botschaft faltete Ill das Dokument zusammen und sprach mit liebenswürdigster Miene:
»Nachdem die Menschen den Willen des Zentralrats vernommen haben, darf ich annehmen, daß sie der Einladung und dem Ersuchen der Martier Folge leisten werden. Ich bitte Sie daher, Ihre Vorbereitungen so treffen zu wollen, daß Sie mit dem am fünften Tag von heute abgehenden Schiff Ihre Reise antreten können.«
Da weder Grunthe noch Saltner sogleich antwortete, erhob sich Ra und hielt eine versöhnliche Rede. Aus dem Inhalt der Botschaft, führte er aus, würden sich die Gäste gewiß überzeugt haben, daß sie gar keinen Grund hätten, gegen die Verlesung zu protestieren. Er wüßte wohl, daß man ihnen mit der Reise nach dem Mars ein ungewöhnliches und anstrengendes Unternehmen zumute. Er verstünde, daß sie es vorziehen würden, alsbald in ihre Heimat zurückzukehren. Dies – und damit deckte er offen ihre Motive auf – wäre wohl auch der eigentliche Grund des Protestes gewesen, da die Menschen die Einladung nach dem Mars erwartet und sich der Verlegenheit hätten entziehen wollen, sie abzulehnen. Und dann stellte er ihnen die Reise und den Aufenthalt auf dem Mars in verlockenden Farben vor.
Grunthe und Saltner wußten nicht recht, ob sie diese Rede zu ihren Gunsten deuten dürften, da sie die Schwäche ihres Protestes enthüllte und ganz geeignet schien, ihnen die Ablehnung zu erschweren. Aber Saltner erkannte an dem stillen Lächeln in Ses Zügen, daß Ra ihnen tatsächlich zu Hilfe kommen wollte, daß er sie wohl nur warnen wollte, neue Fehler zu begehen. In der Tat schloß er mit den Worten:
»Der Zentralrat garantiert Ihnen volle Freiheit. Er kommandiert Sie nicht nach dem Mars, er lädt Sie ein; er befiehlt nicht, daß Sie uns nach Europa geleiten sollen, er ersucht Sie darum. Er setzt dabei voraus, daß es keine berechtigten ethischen Motive gibt, weshalb Sie diesen Wünschen nicht nachkommen sollten, und er erwartet daher, daß Sie ihnen Folge leisten.«
Während Grunthe finster vor sich hinblickte und darüber nachsann, in welche Form er seine Weigerung kleiden sollte, erhob sich Saltner. Obwohl er sich sagte, daß er mit seinen Worten den Entschluß der Martier nicht würde ändern können, wollte er doch versuchen, etwas Näheres über ihre Pläne zu hören, und die Ablehnung der Einladung aus Zweckmäßigkeitsgründen motivieren. Er legte dar, daß der Besuch auf dem Mars gegenwärtig für beide Teile keine besonderen Vorteile biete. Sein Freund und er hätten bereits vollständig die Überzeugung von der Macht und Leistungsfähigkeit der Martier gewonnen. Was sie vom Mars wüßten, wäre schon so viel, daß sie Mühe haben würden, es ihren Mitbürgern begreiflich zu machen. Es wäre daher sicherlich das beste, wenn sie sogleich in ihre Heimat zurückkehrten, um den Erdbewohnern ihre Erfahrungen mitzuteilen und sie durch die Presse allmählich auf das Erscheinen der Martier vorzubereiten. Das gegenseitige Verständnis zwischen Mars und Erde würde auf diese Weise am sichersten gefördert; die Überraschung durch die Bewohner des Mars könnte die Erdbewohner, bei ihrer mangelhaften Kenntnis der Verhältnisse auf dem Mars, vielleicht zu falschen Maßregeln verleiten, unter denen alsdann beide Teile zu leiden hätten. Deswegen müßten sie darauf dringen, nach Europa zurückzukehren, ehe die Martier dahin kämen. Sie zu begleiten, könnte für die Martier jedenfalls von viel geringerem Nutzen sein. Im übrigen wäre es ihnen, den Menschen, vom größten Interesse, zu erfahren, welche Vorteile eigentlich die Martier sich vom Verkehr mit der Erde versprächen und was sie etwa von den Menschen zu erlangen wünschten.
Die Martier hatten unter wachsender Aufmerksamkeit zugehört. Ills Antlitz war wieder ernster geworden. Nachdem er die Mitteilung des Zentralratsbeschlusses durchgesetzt, hatte er geglaubt, daß die Menschen nicht länger wagen würden, sich zu weigern. Aus Saltners Worten erkannte er jedoch, daß es keinen Sinn mehr hätte, den eigentlichen Kernpunkt der Frage zu verschleiern. Die Deutschen hatten offenbar die Absicht der Martier durchschaut, eine Warnung der Großmächte zu verhindern. Der Hilfe der Menschen bedurften die Martier nicht; aber sie wollten bei dem ersten Besuch in den zivilisierten Staaten der Erde sogleich in einer Weise auftreten, die sie zum unbedingten Herren der Situation machte. Die Vorbereitungen dazu waren schon in viel höherem Maß getroffen, als Grunthe und Saltner wußten. Ihre Landung am Nordpol und die Kenntnis, welche die Martier dadurch von den zivilisierten Staaten der Erde erhielten, hatte den Zentralrat nur in der Ansicht bestärkt, daß man mit den Bewohnern der Erde in sehr ernsthafter Weise zu rechnen haben würde und daß alles darauf ankäme, sich bei der ersten Begegnung keine Blöße zu geben. Dies wäre aber sehr leicht möglich gewesen, wenn die Erdbewohner zu früh erfuhren, mit welchen Schwierigkeiten die Martier auf der Erde zu kämpfen hatten. Diese zu heben war daher ihr Hauptaugenmerk bei den Vorbereitungen zur Expedition und zugleich der Grund ihrer langen Verzögerung gewesen. Nun hatte der Zentralrat beschlossen, die Vorbereitungen aufs äußerste zu beschleunigen, ehe die Besitznahme des Nordpols auf der Erde bekannt wurde, und vorläufig die Rückkehr der Menschen zu verhindern. Doch konnte er sich dazu nach der sittlichen Weltanschauung der Martier keiner Mittel bedienen, die das Recht der Persönlichkeit der Menschen verletzt hätten.
Es wäre unter der Würde der Martier gewesen, wenn sie sich hinter Vorwänden hätten verstecken wollen, nachdem der Versuch, die Menschen durch bloße Autorität zu leiten, gescheitert war. Ill sagte daher:
»Es ist allerdings unsre Absicht, den Erdstaaten unsre Ankunft nicht eher bekanntwerden zu lassen, als bis dieselbe wirklich erfolgt. Und zwar aus demselben Grund, welcher unsere Gäste wünschen läßt, das Entgegengesetzte herbeizuführen und die Erdstaaten vorzubereiten. Wir fürchten, daß gerade die lückenhaften Nachrichten, welche sie durch die hier anwesenden Menschen erhalten würden, sie dazu veranlassen könnten, falsche Maßregeln zu ergreifen und unser gegenseitiges Verständnis zu erschweren. Denn wenn Sie auch, meine Herren Gäste, mancherlei von unserer äußeren Macht kennengelernt haben, so kennen Sie doch noch zu wenig die Grundsätze unsres Handelns, um Ihre Freunde belehren zu können, wie sie sich gegen uns zu verhalten haben. Die traurigsten Mißverständnisse sind leicht möglich. So müssen wir denn darauf bestehen, daß Sie uns zuerst nach dem Mars begleiten, da wir, unmittelbar vor Beginn des Polarwinters, noch nicht in der Lage sind, mit Ihnen zusammen nach Europa aufzubrechen.«
»Ich bin dem Herrn Repräsentanten sehr dankbar«, erwiderte Saltner, »daß er uns so offen die Gründe des hohen Zentralrats für seine Botschaft dargelegt hat. Sie konnten uns aber nicht überzeugen, um so weniger, da wir über die eigentlichen Absichten der Martier gegen die Erdbewohner nicht näher unterrichtet wurden. Wir müssen daher darauf bestehen, nach der Heimat zurückzukehren, um den Unsrigen Gelegenheit zu geben, sich ihrerseits schlüssig zu machen, wie sie den Martiern zu begegnen haben.«
Ill entgegnete ziemlich scharf.
»Nach dem, was wir soeben gehört haben«, sagte er, »scheinen uns die anwesenden Menschen wenig geeignet, ihren Landsleuten als Berater zu dienen, wie sich letztere gegen uns verhalten sollen. Wenn Sie ihnen vielleicht zu raten gedenken, unserm Aufenthalt auf der Erde Schwierigkeiten entgegenzusetzen, so würden Sie eben das erreichen, was wir zu vermeiden hoffen, Mißtrauen und Spannungen zwischen den Bewohnern beider Planeten, während wir ein friedliches Verhältnis zu gemeinsamer Arbeit anstreben. Die Menschen haben von uns nichts zu befürchten, sobald sie gelernt haben werden, uns zu verstehen. Wir bedürfen der Erdbewohner nicht; wir kommen zu ihnen, um ihnen die Segnungen unsrer Kultur zu bringen. Ich bin überzeugt, daß auch wir im Eintausch der Produkte der Erde viel Neues und Nützliches gewinnen werden. Aber das wirtschaftliche Bedürfnis welches uns außer dem allgemeinen wissenschaftlichen Interesse nach der Erde trieb, erfordert nicht die Beteiligung der Menschen. Wir können es vollauf hier am Nordpol befriedigen, und ich stehe nicht an, es Ihnen zu sagen, was wir von der Erde holen wollen, damit Sie Ihre Mitbürger und Regierungen über unsre Absichten beruhigen. Wir wollen nichts anderes als Luft und Sonne, atmosphärische Luft und Strahlung, die Sie ja in ausreichendem Maß besitzen und die niemand gehört. Wir haben sie bereits reichlich exportiert und werden sie weiter exportieren.
Was uns aber nun veranlaßt, die Menschen selbst aufzusuchen, das sind Beweggründe rein idealen Charakters. Es ist nicht möglich, sie Ihnen, als Menschen, hier in Kürze zum Verständnis zu bringen. Wir sind Nume. Wir sind die Träger der Kultur des Sonnensystems. Es ist uns eine heilige Pflicht, das Resultat unsrer hunderttausendjährigen Kulturarbeit, den Segen der Numenheit, auch den Menschen zugänglich zu machen.«
Grunthe machte eine ungeduldige Bewegung. Er wollte sprechen, aber Ill fuhr fort:
»Fürchten Sie nichts für Ihre Überzeugung und ihre Freiheit. Ihre Freiheit werden wir achten, denn sie ist die Grundbedingung zur Numenheit. Die Kultur kann nicht aufgedrängt und nicht geschenkt werden, denn sie will erarbeitet sein. Aber zu dieser Arbeit kann man erzogen werden. So war es auch auf Ihrem Planeten; die vorgeschrittenen Nationen haben die barbarischen zur Kulturarbeit erzogen. Dazu bieten wir nun vermöge unsrer so viel älteren Erfahrung uns Ihnen als Lehrer an. Weisen Sie uns nicht in falschem Stolz zurück. Nachdem einmal die Erde von uns betreten ist, läßt sich die Berührung der beiden Planetengeschlechter nicht vermeiden. Sie ist eine Notwendigkeit. Erwecken Sie also nicht erst die Täuschung, als könnte die Menschheit unsrem Einfluß sich entziehen. Vertrauen Sie unsern Maßregeln und bewahren Sie die Menschen vor dem Fehler, uns aufgrund kurzsichtiger menschlicher Überlegungen Schwierigkeiten zu bereiten, die nur zum Nachteil für sie ausschlagen könnten. Erfahren die Menschen von unserer Ankunft, ohne zugleich dem vollen Gewicht unsres unmittelbaren Einflusses ausgesetzt zu sein, so begehen sie sicherlich eine Torheit. Auch Ihr Rat, meine Herren Gäste, würde sie nicht davor bewahren, zumal Sie uns selbst Ihre Einflußlosigkeit eingestanden. Überlassen Sie uns also ganz allein die Verantwortung für die Gestaltung der Verhältnisse, indem Sie sich dem entschieden ausgesprochenen Wunsch des Zentralrats fügen.«
Grunthe fühlte aufs neue, daß er der Macht dieser Gründe zu unterliegen drohte. Hatte er sich zunächst aufgebäumt gegen die stolze Sprache des Martiers, so mußte er sich jetzt doch fragen, ob er nicht durch eine Warnung das Schicksal der Menschen nur verschlimmern würde. Was konnten sie gegen die Martier tun? Ihnen feindlich begegnen? Es wäre ja wohl das Klügste gewesen, sich der Verantwortung zu entziehen und den Martiern zu folgen. Aber nein! Das Klügste hatte er nicht zu tun, sondern seine Pflicht. Und es war ihm kein Zweifel, daß er die Verantwortung nicht übernehmen durfte, sein Vaterland ohne Nachricht zu lassen.
Er erhob sich in tiefem Ernst. Er sah weder Ill noch die Martier an, sondern heftete sein Auge vor sich auf den Tisch. Seine Lippen zogen sich fest zusammen. Dann öffnete er sie mit einem festen Entschluß. Er warf einen Blick auf Saltner. Auch dieser hatte in sich verloren mit ähnlichen Gedanken gesessen. Als Grunthe ihn ansah, sagte er leise: »Ablehnen.«
Grunthe begann. Erst stockend und leise. Allmählich hob sich seine Stimme.
»Wir sind als Menschen nicht so eingebildet«, sagte er, »daß wir glauben, von einer älteren Kultur nicht lernen zu können. Es kann ein hohes Glück sein, den Martiern zu folgen. Es kann auch unser Unglück sein. Ich wage darüber nicht zu entscheiden. Und eben darum, weil ich nicht darüber entscheiden kann, darf ich, soviel an mir liegt, nicht zugeben, daß mein Verhalten einer Entscheidung gleichkommt; die Menschen, die Erdbewohner, müssen sich eine Meinung bilden können. Dies zu ermöglichen, ist meine Pflicht. Dadurch ist meinem Freund und mir unsere Handlungsweise klar und deutlich vorgeschrieben. Unsre Instruktion lautet dahin, nach Erreichung des Nordpols so schnell als möglich nach Hause zurückzukehren. Schon dies verbietet uns, auf Ihre Aufforderung einzugehen. Doch es könnten Zweifel entstehen, ob nicht unser kürzester Weg über den Mars führe. Diese Zweifel erledigen sich nun durch unsere gegenseitige Aussprache. Sie wollen uns nicht vor Ihrer eigenen Ankunft bei den Unseren heimkehren lassen. Das müssen wir verhüten. Es ist keine Frage der Klugheit, es ist eine Frage des Gewissens. Mag daraus entstehen, was da wolle, wir müssen unsre ganze Kraft und unser Leben einsetzen, um die Nachricht von der Ankunft der Martier auf der Erde sofort in die Heimat zu bringen. Dies erfordert die Pflicht gegen das Vaterland und gegen die Menschheit. Jedes weitere Wort ist überflüssig. Mein Freund und ich werden mit Hilfe unsres von Ihnen geborgenen Ballons sobald als möglich abreisen. Wenn Sie wirklich jene erhabene Gesinnung der Nume besitzen, nach der die Freiheit der Persönlichkeit unbedingte Achtung erfordert, so erwarte ich von Ihnen, daß Sie uns Ihre Beihilfe zu unsrer Abreise nicht versagen. Wir bitten, uns zu entlassen.«
Grunthe und Saltner, der sich ebenfalls erhoben hatte, verließen ihre Plätze und wandten sich nach der Tür.
Tiefes Schweigen herrschte in der Versammlung der Martier. Die meisten blickten finster vor sich hin, nur die näheren Freunde der Menschen zeigten ihnen durch ihre Mienen, daß sie ihr Verhalten billigten. Saltner sah im Fortgehen, daß ihm Se freundlich mit den Augen folgte, während er von La vergeblich noch einen Blick zu erhaschen suchte. Schon hatte Grunthe die Tür geöffnet. Niemand hielt die beiden auf. Sie verließen den Saal.
Die Martier setzten ihre Beratung fort. Sie waren in ihrer Majorität sichtlich durch den Mißerfolg verstimmt, ja es wurden Stimmen laut, ob man die Menschen nicht auch gegen ihren Willen zur Reise nach dem Mars zwingen könne. Der junge Kapitän Oß warf die Frage auf, ob nicht den Menschen das Recht der Persönlichkeit abzusprechen sei, da sie nicht das genügende Verständnis für das Wesen der Numenheit gezeigt hätten. La blickte ihn sehr erstaunt an, und Fru erhob sich darauf, um diesen Vorwurf zurückzuweisen. Daß sie die Fähigkeit gehabt hatten, ihren Willen gegen den der Martier zu behaupten, sei der genügende und allerdings einzig mögliche Beweis dafür, daß ihnen die Selbstbestimmung der sittlichen Person zukomme. Man könne sie also nicht zur Mitreise zwingen, ja man müsse sogar ihrer Abreise jetzt jede Unterstützung angedeihen lassen.
Ill entschied dahin, daß die Frage nach dem Recht der Menschen auf freie Entschließung nicht mehr zur Diskussion stehen könne, da der Zentralrat ihnen dasselbe bereits zugesichert habe. Dagegen brauche man nicht soweit zu gehen, ihre Rückreise geradezu zu fördern, wenn man sie auch nicht verhindern könne. Man müsse aber wohl oder übel sich damit abfinden, daß die Menschen von der Anwesenheit der Martier früher erführen, als die ursprüngliche Absicht war. Andrerseits jedoch läge ihm auch sehr viel daran, wenigstens einen der Menschen nach dem Mars mitzunehmen, damit dieser den Martiern später als Augenzeuge dienen könne. Dies könne indessen nur mit seiner freien Einwilligung geschehen. Dazu bemerkte Ra, vielleicht würde sich Saltner zur Mitreise bereit erklären, wenn man dafür Grunthe die vollständige Sicherheit der Heimkehr gewährleisten könne. Aber eine solche Garantie könne man doch wohl nicht übernehmen.
Ill sagte darauf nach kurzem Besinnen:
»Ich glaube die Gewähr übernehmen zu können, Grunthe nach Europa zu bringen, und zwar, wenn es sein müßte, binnen vierundzwanzig Stunden.«
Bei der Mehrzahl der Martier erweckte diese Äußerung das lebhafteste Erstaunen. Wie konnte man Grunthe die Rückkehr garantieren? Hätte man dann nicht selbst sogleich nach Europa aufbrechen können?
Ill ließ sich zunächst überzeugen, daß Grunthe und Saltner von der weiteren Verhandlung nichts vernehmen könnten. Sie hatten sich bereits an die Arbeit an ihrem Ballon gemacht und befanden sich auf dem Dach der Insel, wo sie genügenden Raum hatten, um den Ballon einer Untersuchung zu unterziehen. Man hatte ihnen denselben ohne weiteres zur Verfügung gestellt, da auch die im Dienst befindlichen Beamten durch den Fernhörer von dem Resultat der Versammlung bereits unterrichtet waren.
Ill ließ nun die Klappen der Fernsprecher schließen und den phonographischen Apparat außer Tätigkeit setzen. Gespannt lauschten die Martier den näheren Mitteilungen, welche ihnen Ill jetzt über die Fortschritte machte, die in der Vorbereitung der Expedition nach Europa geglückt waren. Sie hatten bisher von den mit Ill auf dem ›Glo‹ angekommenen Martiern nur im allgemeinen gehört, daß auf dem Mars neue wichtige Entdeckungen in bezug auf die Luftschiffahrt gelungen seien. Die schleunige Absendung des ›Glo‹ hatte vornehmlich den Zweck, diese neuen Entdeckungen und Apparate in der Atmosphäre der Erde, für welche sie berechnet und konstruiert waren, praktisch zu erproben, um alsdann bis zum Frühjahr den Bau zahlreicher Luftschiffe für die Erde auszuführen. Die Überbringung der Botschaft des Zentralrats war mit dem Transport dieser neuen Apparate verbunden worden. Andernfalls hätte man sich wahrscheinlich damit begnügt, sie durch den Lichttelegraphen zu übermitteln oder die Ankunft des nächsten Raumschiffs von der Erde vor der Absendung abzuwarten. Aber die letzten Tage des Sonnenscheins am Nordpol mußten ausgenutzt werden, um Erfahrungen über die Brauchbarkeit der neuen Erfindung zu machen. Ill gab nun Aufklärungen über seine weiteren Absichten. Daran schloß sich eine längere Beratung der Martier, so daß die Feierstunde herangekommen war, als die Martier auseinandergingen.
*
Grunthe und Saltner kehrten sehr entmutigt von ihrer Tagesarbeit zurück. Die Untersuchung des Ballons hatte ergeben, daß er in seiner ursprünglichen Gestalt nicht wieder herstellbar sei. Glücklicherweise waren die Ventile und das Netzwerk unverletzt. Vom Stoff des Ballons war jedoch ein großer Teil unbrauchbar geworden. Der Rest konnte indessen ausreichen, einen kleineren Ballon zusammenzunähen, vorausgesetzt, daß die Martier bei dieser Arbeit ihre Hilfe leisten wollten, denn die beiden Gelehrten allein hätten damit nicht zustande kommen können. Aber die Tragkraft dieses Ballons, bei dem man Proviant und Ballast sehr reichlich mitnehmen mußte, um auf eine lange Fahrt gerüstet zu sein, hätte dann nicht ausgereicht, um beide Forscher aufzunehmen. Grunthe kam deshalb wieder auf seinen Plan zurück, allein abzureisen und Saltner die Fahrt nach dem Mars mitmachen zu lassen. Vielleicht, so meinte er, würden die Martier ihnen ihre Hilfe bei der Herstellung des Ballons nicht versagen, wenn sie ihnen insoweit entgegenkämen, daß wenigstens einer von ihnen ihre Einladung nach dem Mars nachträglich annähme. Endlich dürfe man die Chance nicht aus der Hand geben, daß, wenn der Ballon verunglücke, wenigstens Saltner seine Erfahrungen auf dem Umweg über den Mars nach Europa bringe, wiewohl dies dann freilich nicht vor Ankunft der Martier geschehen könne.
Saltner überzeugte sich schließlich, daß dieser Ausweg in der Tat der vorteilhafteste sei, da unter den gegebenen Verhältnissen ein Luftschiffer die Fahrt sicherer zurücklegen könne als zwei. Persönlich war er ja überhaupt nicht abgeneigt, die Martier zu begleiten. Auch Grunthe wäre, was seinen Forschereifer anbetraf, gern nach dem Mars gegangen, aber einer von ihnen mußte notwendig als Bote nach Europa. Freilich hatte sich auch Saltner zu dieser gefährlichen Fahrt erboten, aber es verstand sich von selbst, daß Grunthe, als der erfahrenere Luftschiffer, die Fahrt unternahm. So beschlossen denn beide, am nächsten Morgen mit den Martiern in diesem Sinn zu verhandeln. Für heute war die Verkehrsstunde schon vorüber.
20. Kapitel
Grunthe erwachte aus einem unruhigen Schlummer und sah nach der Uhr. Sie zeigte auf 9,6, das entsprach nach mitteleuropäischer Zeit ein Uhr früh; es war also noch mitten in der konventionellen Nacht.
Er legte sich daher wieder auf sein Lager zurück. Während er sich seinen Gedanken hingab, vernahm er ein eigentümliches Zischen. Es unterschied sich deutlich von dem leichten, gleichmäßigen Rauschen des Meeres, das in den Schlafräumen nur schwach durch die Stille der Nacht hörbar war. Auch schien es aus der Luft herzukommen, nahm erst zu, um dann allmählich schwächer zu werden und schließlich zu verschwinden. Nach einiger Zeit begann das Zischen wieder, kam aber deutlich von einer andern Seite her. Sollten es Windstöße sein, die sich um die Insel erhoben? Aber auf diese Weise hätten sie sich wohl nicht geäußert. Als sich das Geräusch mehrfach wiederholte, stand Grunthe auf, und die Läden der Decke schoben sich, als sein Fuß den Boden berührte, an einer Stelle automatisch beiseite. Ein schräger rötlicher Sonnenstrahl schlich sich in das Zimmer, und ein Streifen des Himmels wurde sichtbar. Es war also noch immer klares Wetter, nur stand die Sonne bereits so tief, daß sie nur schwach durch die Atmosphäre hindurchdrang. Plötzlich verdunkelte sich der sichtbare Streifen des Himmels auf einen Moment, es war, als ob ein großer Gegenstand mit namhafter Geschwindigkeit über die Insel fortgeflogen wäre. Zugleich war das Zischen besonders laut geworden.
Da das Zimmer keine seitlichen Fenster hatte, konnte Grunthe keinen Rundblick gewinnen. Er wußte aber, daß man an einigen Stellen die Hartglasbedachung der Decke öffnen konnte. Nur mußte man dazu die genügende Höhe erreichen, um bis zur Decke zu gelangen. Eine Leiter hatte er nicht zur Verfügung, er wollte deshalb zunächst versuchen, ob er nicht durch die Fenster des Sprechzimmers eine genügende Aussicht finden könne. Zu seiner Überraschung fand er die Verbindungstür von außen gesperrt. Dies ließ darauf schließen, daß bei den Martiern etwas im Werk sei, wobei sie von den Menschen nicht beobachtet zu werden wünschten. Um so mehr steigerte sich bei Grunthe das Verlangen, seine Wißbegier zu befriedigen.
Er betrachtete sorgfältig die Decke in der Nähe der Luken und erkannte, daß sich dort verschiedene, zu den Apparaten der Martier gehörige Haken befanden, an denen man sehr gut Stricke befestigen konnte. Solche waren zur Genüge an den Körben vorhanden, die zur Ausrüstung des Ballons gedient hatten und in seinem Zimmer lagerten. Aus einem der leeren Körbe und zwei Seilen ließ sich eine Art schwebendes Trapez herstellen, das, an der Decke angehängt, gestatten mußte, den Kopf bis über das Dach zu erheben. Aber wie hinaufkommen? Er entschloß sich, Saltner zu wecken. Der räsonnierte eben ein wenig über die nächtliche Störung, als sich das Zischen in der Entfernung wieder hören ließ. Nun sprang er mit einem Satz in die Höhe und fuhr in seine Kleider. Auf Grunthes Schultern stehend, gelang es ihm, zwei Seile an der Decke zu befestigen, und nun war es nicht mehr schwer, einen Beobachtungsposten einzurichten.
Vorsichtig steckten die beiden indiskreten Beobachter ihre Köpfe aus der Luke und wandten sich nach der Richtung, in welcher sich jetzt deutlich, aber in der Ferne, ein gleichmäßiges leises Sausen vernehmen ließ. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen sahen sie, daß dieses Geräusch von einem riesigen Vogel herzurühren schien, der mit ausgebreiteten Schwingen in ruhigem Segelflug durch die Luft glitt und in geringer Höhe über dem Wasser rings um die Insel schwebte. Jetzt näherte er sich derselben und schoß mit rasender Geschwindigkeit vielleicht zwanzig Meter über dem Dach der Insel hinweg. Trotz der kurzen Zeit, in welcher die beiden Männer den seltsamen Vogel beobachten konnten, sahen sie doch, daß er weder Kopf noch Füße besaß. Sein langgestreckter Körper hatte die Gestalt einer nach vorn und hinten konisch zulaufenden Zigarre, am hinteren Ende befand sich ein langer, flacher Schwanz als Steuerruder. Natürlich war den Beobachtern sofort klar, daß sie eine neue Erfindung der Martier vor sich hatten, ein den Verhältnissen der Erde angepaßtes Luftschiff. Die Martier stellten damit Übungen und Versuche an, wobei sie von den Menschen nicht beobachtet sein wollten.
Das Luftschiff entfernte sich, kehrte dann in einem kurzen, eleganten Bogen um, brauste zurück und hielt plötzlich direkt über der Insel an. Man konnte beobachten, wie der ganze Schiffskörper in Schwingungen geriet, als der äußerst schnelle Flug binnen drei Sekunden zum Stillstand kam. Und nun geschah etwas noch Merkwürdigeres. Die Flügel und das Steuerruder waren plötzlich verschwunden. Etwa zehn Meter über dem Dach der Insel, aber so weit vom Standpunkt der beiden Deutschen entfernt, daß ihre eben nur aus der Luke hervorblickenden Köpfe kaum bemerkt werden konnten, schwebte der Schiffskörper frei in der Luft. Seine Länge mochte etwa zehn, sein Durchmesser gegen vier Meter betragen. Das Material zeigte dasselbe glasartige Aussehen wie die Raumschiffe der Martier, gestattete aber keine Durchsicht. Den Boden wie das Verdeck bildeten zwei glatte, nach oben und unten gewölbte Schalen, zwischen denen ein nur vorn und hinten geschlossener, etwa meterhoher Streifen freiblieb. Durch denselben konnte man beobachten, daß das Luftboot von zwölf Martiern bemannt war.
Jetzt senkte sich das Boot auf das Dach der Insel langsam herab, wo es ohne Verankerung liegenblieb. Die Besatzung stieg aus, und andere Martier traten an ihre Stelle. Nur die beiden Männer, die an den beiden Enden des Bootes sich befunden hatten, nahmen ihre Plätze wieder ein. Sie waren Grunthe und Saltner unbekannt, und diese schlossen daher, daß es die mit dem ›Glo‹ angekommenen Konstrukteure des neuen Luftschiffes seien, die hier die Martier mit der Behandlung des Bootes bekannt machten. Die Galerien der Insel waren von zuschauenden Martiern besetzt, doch konnte man diese von dem tiefen Standpunkt Grunthes und Saltners aus nicht erblicken; auch der untere Teil des Luftschiffes blieb ihnen verborgen, und sie konnten die Bemannung nur in dem Augenblick sehen, in welchem sie das Schiff verließ oder betrat, was durch das Verdeck desselben zu geschehen schien.
Ein neues Manöver begann. Ohne Flügel und Steuer, horizontal liegend, stieg das Boot mit zunehmender Geschwindigkeit senkrecht in die Höhe. Da war kein Luftballon sichtbar, keine Schraube, kein Flügelschlag hob es. In wenigen Minuten war es so hoch gestiegen, daß es dem bloßen Auge nur als ein Pünktchen mit Mühe wahrnehmbar erschien. Plötzlich vergrößerte sich der Punkt schnell. Das Schiff stürzte herab. Aber jetzt entfaltete es seine Flügel und sein Steuer, und wie ein riesiger Raubvogel sauste es in weitem Kreis um die Insel, streifte fast an der Meeresoberfläche hin und erhob sich dann wieder in einer Spirale. Dabei wurden offenbar Signale mit den Martiern der Insel gewechselt, die aber für Grunthe nicht verständlich waren. Man sah nun, daß das Schiff seine Flügel verkürzte oder zurücklegte, das Steuer stellte sich gerade, eine weiße Dampfwolke brach aus dem Hinterteil des Schiffes hervor, der ein kanonenschußartiger Knall und ein gewaltiges Brausen folgte – das Boot schoß schräg aufwärts steigend wie aus einem Geschütz geschleudert in die Ferne und war nach weniger als einer Minute in der Richtung des zehnten Meridians dem Auge entschwunden.
Aus der Bewegung, welche sich jetzt auf der Insel bemerkbar machte, schlossen Grunthe und Saltner, daß das Schiff eine Fernfahrt angetreten habe und fürs nächste nicht wieder zu erwarten sei. Sie verließen daher ihren unbequemen Posten und zogen sich in ihr Zimmer zurück, jedoch entschlossen, die Rückkehr des Schiffes zu erwarten. Zu diesem Zweck wollten sie sich im Wachen ablösen.
Diese Mühe hätten sie sich freilich sparen können, wenn sie gewußt hätten, wie weit das Schiff seine Aufklärungsfahrt ausdehnen sollte. Es wurde erst in der folgenden Nacht von den Martiern zurückerwartet.
Die Versuche der Martier waren vollständig gelungen. Ihre auf dem Mars in Berücksichtigung der terrestrischen Verhältnisse ausgeführten Konstruktionen bewährten sich in überraschender Weise. Sie waren nun im Besitz eines Luftschiffs, welches sie nach Belieben in der Erdatmosphäre lenken konnten und mit welchem sie selbst einem Sturm zu widerstehen vermochten. Was die Menschen so lange vergeblich angestrebt hatten, die Techniker des Mars hatten es in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht.
Allerdings besaßen ja die Martier vor allem ein Mittel, sich in die Luft zu erheben, das den Menschen fehlt, die Anwendung der Diabarie. Der Fortschritt der Luftschifffahrt bei den Menschen war früher immer daran gescheitert, daß man das aerostatische und das dynamische Luftschiff nicht in geeigneter Weise verbinden konnte. Wandte man den Luftballon an, um Lasten in die Höhe zu heben, so mußte der Apparat riesige Dimensionen annehmen, und es war dann unmöglich, ihn gegen die Windrichtung zu bewegen, weil er dem Wind eine zu große Angriffsfläche bot oder nicht genügend widerstandsfähig gegen seinen Druck gemacht werden konnte. Wählte man aber die dynamische Form des Luftschiffs, wobei durch Schrauben oder Flügel die Erhebung bewerkstelligt wurde, so fehlte es an Maschinen, um die erforderliche große Kraft zu entwickeln; denn um dies zu leisten, mußten die Maschinen selbst zu schwer werden.
Diesen Schwierigkeiten waren nun die Martier dadurch enthoben, daß sie diabarische Fahrzeuge zu bauen vermochten, das heißt Fahrzeuge, für welche die Anziehungskraft der Erde nahezu ganz aufgehoben werden konnte. Bei der Luftschiffahrt geschah diese Aufhebung natürlich nicht so vollständig wie bei der Raumschiffahrt, sondern nur soweit, daß das Gewicht des Schiffes samt seinem Inhalt geringer wurde als das Gewicht der von ihm verdrängten Luft. Nach dem archimedischen Gesetz mußte es dann in der Luft in die Höhe steigen, und, je nachdem man seine Schwere vergrößerte oder verkleinerte, konnte man es senken oder heben. Man bedurfte dazu keiner Riesenballons und keiner Ballastmassen. Das Probeschiff der Martier wog mit seinem ganzen Inhalt etwa fünfzig Zentner und besaß eine Luftverdrängung von über hundert Kubikmeter. Es genügte also eine Erniedrigung des Gewichts bis auf fünf Prozent des eigentlichen Betrages, das heißt bis auf 125 Kilogramm, um zu bewirken, daß das Schiff in der Nähe der Erdoberfläche schwebte, denn soviel beträgt hier ungefähr das Gewicht der verdrängten hundert Kubikmeter Luft. Was aber die Martier bisher verhindert hatte, sich mit ihren Raumschiffen in die Atmosphäre zu wagen, war die mangelhafte Widerstandsfähigkeit des Stellits. Es galt somit für die Martier vor allem, einen Stoff zu finden, der sich diabarisch machen ließ und dabei doch die genügende Festigkeit besaß, um eventuell nicht nur den gewaltigen Druck eines Sturmwindes auszuhalten, sondern auch mit großer Geschwindigkeit gegen die Luft anzufliegen. Das war jetzt gelungen. Das neue Luftschiff vermochte einer mit 400 Metern Geschwindigkeit gegen dasselbe bewegten Luftmasse Widerstand zu leisten, ohne eine schädliche Verbiegung seiner Umhüllung zu erleiden. Dieser Stoff führte den Namen Rob.
Diabarie und Rob fanden nun ihren dritten Verbündeten zur Vollendung der Aerotechnik in einer Modifikation des Repulsit. Man konnte natürlich in der Luft der Erde nicht wie im leeren Raum Repulsitbomben schleudern. Aber man hatte dafür eine Vorrichtung ersonnen, den kondensierten Äther des Repulsits so allmählich zu entspannen, daß man den unmittelbaren Rückstoß zur Fortbewegung benutzen konnte. So bedurfte es keiner Schrauben oder Flügel, die nicht nur viel Raum einnahmen, sondern auch leicht der Havarie ausgesetzt waren; man schoß sich direkt durch Reaktion, wie eine Rakete, durch die Luft. Die beiden großen Flügel und das Steuer, welche das neue Luftschiff trug, konnten unter Umständen gänzlich zusammengeschoben und eingezogen werden; sie dienten nur dazu, um das Gleichgewicht bei plötzlicher Änderung der Richtung zu bewahren und um nicht die großen Vorteile zu verlieren, welche der Segelflug bei günstigem Wind darbietet.
Ill hatte das Schiff vom Mars mitgebracht und sich jetzt von seiner Tauglichkeit überzeugt. Die Versuche geschahen in der Nacht, das heißt während der Schlafenszeit, weniger, weil man die neuen Erfolge vor den Menschen verbergen wollte, als weil man bei einem etwaigen Mißerfolg keinerlei Zeugen zu haben wünschte. Immerhin beabsichtigte Ill nicht, die Menschen in die Fortschritte einzuweihen, welche die Martier gemacht hatten; da aber noch weitere Übungen angestellt werden sollten und man höchstens noch auf zwei Wochen Tageslicht rechnen konnte, so lag ihm selbst daran, Grunthe, wenn dieser auf seiner Weigerung beharren sollte, möglichst schnell von der Insel zu entfernen. Die Aufklärungsfahrt des Luftschiffs in der Richtung nach Europa hing mit dieser Absicht zusammen. Es stellte sich heraus, daß mit Anwendung des Repulsits Geschwindigkeiten von 200 Metern in ruhiger Luft mit Leichtigkeit erreicht werden konnten. Man bewegte sich dabei in Höhen von ungefähr zehn Kilometern, bei einer Luftverdünnung, welche allerdings von Menschen nur bei künstlicher Sauerstoffatmung ertragen werden konnte, den Martiern aber, wenn sie nur von Zeit zu Zeit etwas Sauerstoffzuschuß erhielten, keine besonderen Beschwerden verursachte. Heftige Luftströmungen konnten hier die Geschwindigkeit des Luftschiffs wohl zeitweise um die Hälfte steigern oder mindern, im Mittel jedoch vermochte man in der Stunde siebenhundert Kilometer zurückzulegen. Auf diese Weise konnte man vom Nordpol nach Berlin in sechs Stunden gelangen.
Als die Lichtdepesche über das Gelingen dieser Probefahrten nach dem Mars gelangte, bewilligte der Zentralrat die Mittel zum Bau von hundertvierundvierzig Erd-Luftschiffen, welche bis zum nächsten Erd-Nordfrühjahr fertigzustellen seien – – – –
Es war noch früh am Tage, und Saltner wollte sich eben von seinem Posten, auf dem er vergeblich nach der Rückkehr des Luftschiffes ausgeschaut hatte, nach dem Dach der Insel begeben, um Grunthe bei der Arbeit am Ballon zu helfen, als er in das Sprechzimmer gerufen wurde.
Dort erwartete ihn La. Der kühle Ernst, welchen sie gestern gezeigt hatte, die fremde Haltung war verschwunden. Mit einem Lächeln auf den Lippen, in der ganzen hinreißenden Anmut ihres Wesens schwebte sie ihm entgegen und begrüßte ihn mit einer Zärtlichkeit, die ihn wehrlos machte. Sie zog ihn neben sich auf einen Sitz und sagte, seine Hand haltend:
»Sei nur nicht gar so verwundert, Sal, heute ist wieder mein Tag, und was gestern war, geht uns nichts an. Oder hast du schon vergessen –?«
»Wie könnte ich! Aber ich begreife nur nicht –«
»Aber liebster Freund, das ist doch ganz einfach! Haben wir uns lieb?«
»La!«
»Und hab ich dir nicht schon gesagt, Liebe darf nicht unfrei machen? Und hast du nicht auch Se lieb?«
»Ich bitte dich.«
»Ich weiß es, und es ist ein Glück, sonst dürften wir uns so nicht sehen.«
»Was ihr für seltsame Sitten habt!«
»Können wir uns gehören für immer? Kannst du dauernd auf dem Mars leben oder ich auf der Erde? Oder irgendwo zwischen den Planeten? Und was hat das überhaupt mit der Liebe zu tun? Das sind ganz andere Fragen. Wir aber wollen uns der Schönheit freuen und des Glücks, das wir im freien Spiel des Gefühles genießen. Liebtest du mich allein, du wärest bald unfrei, über dich herrschte die Leidenschaft, der das Herzeleid folgt, und ich müßte mich dir entziehen. Wohl gibt es ein Glück zwischen Mann und Frau, das kein Spiel ist, sondern Ernst; doch davor stehen viele Prüfungen, und ob es möglich ist zwischen Nume und Mensch, das weiß noch niemand. Und damit wir nicht vergessen, daß Liebe ein Spiel ist, dürfen wir nicht ganz allein es führen, und doch allein, wann wir wollen. Und nun zerbrich dir nicht den törichten Kopf! Ich habe dir etwas Ernstes zu sagen.«
»Noch etwas Ernsteres? Ich werde Mühe haben, mich in das eine zu finden. Aber es ist wahr, allgemeineres dürfen wir nicht über unserem – Spiel vergessen.«
»Ich glaube, du verstehst mich noch immer nicht – Spiel heißt doch Kunstwerk, ein Trauerspiel ist auch ein Spiel, nur daß man nicht selbst dabei umkommt, sondern der Held, mit dem man fühlt. Und den Wert unseres Gefühls setzen wir nicht herab, nein, wir machen ihn reiner und höher, wenn wir ihn in die Freiheit des Spiels, in das Reich des selbstgeschaffenen schönen Scheines erheben. – Du Tor! Ist dieser Kuß ein Schein? – Nein, Schein ist nur, daß ich damit die Freiheit meines Selbst verliere. Und nun höre! Du kommst mit uns auf den Mars, damit du endlich einmal verständig wirst.«
»Sprichst du so als meine geliebte La? Dann muß ich dir zeigen, daß ich dein gelehriger Schüler bin, indem ich meine Freiheit bewahre. Du weißt, warum ich nicht mit euch kommen kann.«
»Ich weiß es, und du bist brav, und ich hab dich darum nur lieber. Ihr wart gestern Männer. Aber wenn wir nun die Bedingung erfüllen, daß ihr eure Nachrichten überbringen könnt, wenn wir einem von euch die Mittel zur Heimkehr verschaffen, will dann nicht der andere mit uns kommen?«
»Und wer soll der andere sein?«
»Das wird sich ja finden. Doch im Ernst, ich bin beauftragt, bei euch anzufragen, ob ihr darauf eingehen wollt. Sobald sich einer von euch beiden bereiterklärt, nach dem Mars mitzugehen, schaffen wir den andern sofort in seine Heimat.«
»Merkwürdig! Und ich wollte euch heute denselben Vorschlag machen. Es hat sich gezeigt, daß der Ballon nur eine Person wird tragen können, das muß natürlich Grunthe sein. Wollt ihr uns eure Hilfe leihen, den Ballon herzustellen, so daß Grunthe abreisen kann, so bin ich bereit, mit euch nach dem Mars zu gehen.«
»Das ist herrlich, liebster Freund, dafür muß ich dir danken. Und wegen des Ballons mache dir keine Sorge – wir haben einen sichereren Weg nach Deutschland –«
»Das Luftschiff?«
»Ihr habt gelauscht?«
»Gesehen. Und damit wollt Ihr uns – aber dann könnte ich ja auch mit zurück?«
»Nein, das ist Bedingung. Du mußt mit uns kommen –«
»Ach, La, ich sträube mich ja nicht.«
»So komm, wir wollen mit Ra und deinem Freund sprechen.«
»Aber zuvor dürfen wir wohl noch ein wenig hier plaudern?«
*
Es war sieben Uhr, zwei Stunden nach Feierabend, als das Luftschiff von seiner Fahrt zurückkehrte. Nachdem Ill den erstatteten Bericht mit großer Zufriedenheit entgegengenommen hatte, wurde das Schiff sofort zu einer neuen Fernfahrt in Bereitschaft gesetzt.
Grunthe und Saltner hatten sich bereits in ihre Zimmer zurückgezogen, als das Schiff ankam, und daher nichts mehr von demselben bemerkt. In einer Unterredung mit Ill und Ra hatte Grunthe eingewilligt, die Fahrt auf dem Luftschiff der Martier anzutreten. Er bereitete sich darauf vor, indem er alle Gegenstände zusammenpackte, die er mitzunehmen wünschte. Man hatte ihm Gepäck im Gewicht von einem Zentner bewilligt, und außer seinen Büchern und Instrumenten packte er noch eine Anzahl Kleinigkeiten ein, welche seinen Landsleuten die Industrie der Martier verdeutlichen sollten. Darauf legte er sich zur Ruhe.
Am folgenden Morgen, am zweiten Tag nach der Beratung mit den Martiern, hatten Grunthe und Saltner eben ihr Frühstück beendet, und Saltner hatte sich nach dem Sprechzimmer begeben, als Hil bei Grunthe eintrat. Dieser war damit beschäftigt, seine Effekten auf einen Platz zusammenzustellen.
»Das ist Ihr Gepäck?« fragte Hil. »Wünschen Sie sonst noch etwas mitzunehmen?«
»Nichts weiter – es ist alles vollständig und wird das Gewicht von einem Zentner nicht überschreiten.«
»So sind Sie also reisefertig?«
»Ganz und gar – Sie sehen, ich bin sogar schon in meinem Reiseanzug, und da liegt mein Pelz. Wann soll die Fahrt beginnen?«
»Sehr bald, vielleicht schon in dieser Stunde. Haben Sie Ihrem Freund noch etwas mitzuteilen?«
»Nein, wir haben uns hinreichend ausgesprochen, hier sind seine Briefe und Tagebücher für die Heimat.«
»Sie wären also bereit, sogleich aufzubrechen?«
»Ich bin bereit.«
Hil trat dicht an ihn heran und faßte seine Hände, als wollte er sich verabschieden. Dabei sah er ihm fest in die Augen. Grunthe fühlte sich von diesem Blick eigentümlich betroffen. Er konnte die Augen nicht fortwenden, und doch begann die Umgebung vor seinen Blicken zu verschwimmen. Er sah nur noch die großen, glänzenden Pupillen des Arztes.
Dieser legte ihm jetzt langsam die Hände auf die Stirn und sagte bedeutsam:
»Sie schlafen!«
Grunthe stand starr, bewußtlos, mit offenen Augen. Hil drückte leise seine Augenlider herab und winkte mit dem Kopf rückwärts. Zehn Martier, die sich bereitgehalten hatten, traten ein. Sechs von ihnen nahmen Grunthe behutsam in die Arme, legten ihn auf ein Tragbett und schafften ihn aus dem Zimmer. Die vier andern folgten mit dem Gepäck. Grunthe wurde in das Luftschiff gebracht und sorgfältig in seinen Pelz gehüllt. Das Rohr des Sauerstoffbehälters wurde in seinen Mund geführt.
Wenige Minuten darauf erhob sich das Luftschiff senkrecht in die Höhe. Nachdem es tausend Meter gestiegen war, schlossen sich die seitlichen Öffnungen. Der Reaktionsapparat spielte. Schräg aufwärts schoß es in der Richtung des zehnten Meridians nach Süden.
Ra begab sich zu Saltner in das Sprechzimmer und sagte:
»Wundern Sie sich nicht, daß Sie Ihren Freund nicht mehr vorfinden werden. Ich hoffe, daß wir Ihnen bald die Nachricht seiner glücklichen Ankunft in der Heimat melden können. Wir hielten es für notwendig, die Abreise zu beschleunigen.«
Saltner sprang an das Fenster. Fern am Horizont leuchtete ein schwaches Dampfwölkchen auf, um alsbald zu verschwinden.
Er war jetzt der einzige Europäer am Nordpol.
Se trat zu ihm.
»Seien Sie guten Muts, lieber Freund«, sagte sie. »Morgen geht unser Raumschiff nach dem Nu!«
21. Kapitel
Auf der Nordseite der Stadt Friedau dehnt sich ein langgestreckter Hügelrücken. Sorgsam gepflegte Gärten ziehen sich an seinen Abhängen in die Höhe, aus deren Grün schmucke Villen hervorlugen. Vom Gipfel hernieder glänzt über den Baumkronen eines parkartigen Gartens ein weißes Landhaus, das ein erhöhter Kuppelbau auf den ersten Blick als eine Sternwarte erkennen läßt.
Der wunderbar klare Septembertag, an dem die Besucher jenes über dem Nordpol schwebenden Ringes mit ihrem tausendmal vergrößernden Projektionsfernrohr die Karte von Deutschland durchmusterten, neigte sich seinem Ende zu. Sein mildes Licht lag über den zierlichen Gärten Friedaus, in denen großblumige Georginen den Rosenflor verdrängten, über den alten Bäumen des weiten fürstlichen Parks, der vom Fuß des Hügels beginnend fast die ganze Stadt umzog, und spiegelte sich dort im ruhigen Wasser des Teiches.
Den breiten Kiesweg, welcher vom Hügel herab zwischen den Vorgärten der Villen nach dem Eingang des Parkes führte, schritt in Gedanken verloren der Besitzer jener Privatsternwarte. Im Schatten der Bäume angelangt, nahm er den weichen hellfarbigen Filzhut ab, und man sah, daß volles graues Haar seinen Kopf bedeckte. Aber es war nicht ergraut von der Last des Alters, es hatte stets diese Farbe gehabt. Unter der hohen Stirn leuchteten zwei mächtige tiefdunkle Augen. Sie waren jetzt nicht mehr sinnend zur Erde gerichtet, sondern spähten erwartungsvoll durch die Gänge des Parkes.
Zwischen den Büschen am Ufer des Teiches schimmerte ein heller Sonnenschirm. Beim Geräusch der nahenden Schritte erhob sich von einer Bank unter dem Schatten einer breitästigen Linde eine anmutige Frauengestalt in eleganter Sommerkleidung. Der nachdenkliche Ernst, der über ihren feinen Zügen gelegen hatte, wich einem freundlichen Lächeln, als sie jetzt Ell entgegentrat, und in ihren dunkelblauen Augen blitzte es auf wie von einem stillen Glück, als sie ihm die Hand reichte.
»Verzeihen Sie«, sagte Ell, indem er an ihrer Seite den Parkweg am Ufer des Teiches entlangwandelte, »ich habe mich verspätet, natürlich ohne meine Schuld.«
»Auch ich bin eben erst gekommen«, erwiderte Isma Torm. »Ich habe Besuch gehabt. Frau Anton hat mir sehr weise Reden gehalten. Sie konnte gar kein Ende finden.«
»Ich kann es mir denken, aber machen Sie sich nichts daraus. Sie können tun, was Sie wollen, den Menschen werden Sie es doch nicht recht machen.«
Isma seufzte leise. »Sie sehen, ich bin doch gekommen!«
Ell dankte ihr durch einen Blick. »Es ist die einzige Stunde am Tag, Isma, in der einmal der Weltärger verschwindet und ich frei und glücklich bin.«
»Und Ihre Arbeit?«
»Selbst diese ist nicht frei von Enttäuschung. Beschränktheit und Engherzigkeit, wohin Sie sehen. Sie wissen, daß ich mich über Kampf und Streit nicht beklage, denn das ist die Form, wodurch wir weiterkommen. Aber diese Unfähigkeit, das Ziel zu sehen, dieser Eigensinn, daß die Dinge nicht auch anders gingen!«
»Was hat Sie denn heute geärgert, Ell? Schütten Sie nur das Herz aus.«
»Es ist ja nichts Neues. Sie wissen, daß ich mich vor Jahresfrist entschlossen habe, meine Theorie der Gravitation zu veröffentlichen. Grunthe redete mir zu, obwohl er sagte, es wird niemand begreifen.«
»Ich erinnere mich sehr gut. Es war –«
»Ja damals –«
»Und damals sagten Sie, das wäre Ihnen ganz gleichgültig.«
»Das ist auch wahr. Was meine Person angeht, meinen Ruhm oder wie Sie es nennen wollen, das ist mir auch ganz gleichgültig. Aber um der Sache willen tut es mir leid. Was die Menschheit dadurch verliert, das schmerzt mich, und ich sehe, daß ihr so nicht zu helfen ist. Erst wird das Buch totgeschwiegen, die Gelehrten wissen nicht, was Sie damit anfangen sollen, dann kommt einer und behauptet, das wäre eine phantastische Hypothese, durch nichts bewiesen. Dabei habe ich aufgrund meiner Theorie das sogenannte Drei-Körper-Problem gelöst und die Richtigkeit bis auf die Hundertstelsekunden an der Störung der Marsmonde nachgewiesen. Aber glauben Sie, daß ein einziger Astronom meine Methode der Rechnung verstanden hat?«
»Ko Bate«, sagte Isma lächelnd. »Das wollten Sie doch wohl sagen? Wahrscheinlich haben Sie sich nicht klar genug ausgedrückt.«
»Allerdings, ich hätte darüber ein besonderes Buch schreiben müssen – ich glaubte nicht, daß man so schwerfällig sein würde. Ich habe die Methode gar nicht selbst erfunden, sondern schon in meinem achtzehnten Jahr von meinem Vater erlernt –«
»Aber warum haben Sie das alles so lange geheimgehalten?«
»Sie sehen ja, daß es noch immer zu früh ist. Könnten die andern mit mir in der gleichen Richtung weiterarbeiten, man würde auch technisch zu Resultaten kommen, die eine ganz neue Welt eröffnen müßten. Ach, dann würden wir vielleicht einmal frei von dieser schweren Erde.«
»Immer wieder dieselbe Sehnsucht. Es ist ja doch hier ganz leidlich. Sie müssen Geduld haben. Und dies hat Sie heute verstimmt und aufgehalten?«
»Dies weniger. Heute waren es praktische Sachen, Ärger mit den Behörden. Das ist eine Schwerfälligkeit – vornehmlich drüben im Nachbarstaat –, ein Reglementieren – alles muß in eine Schablone gepreßt werden. Und das hat mich mißmutig gemacht, ganz besonders, weil es auch Sie angeht.«
»Mich? Ist etwas vorgefallen?« fragte Isma ängstlich.
»Nein, ich meine unsere Luftschifferstation. Man will sie verstaatlichen, neben die militärische unter das Kriegsministerium stellen, wahrscheinlich dann auch von hier fort verlegen. Jedenfalls verlangt man eine Staatsaufsicht – obwohl der Staat noch nicht einen Pfennig dazu gegeben hat.«
»Aber warum denn?«
»Ich glaube, man traut mir nicht. Im Falle eines Krieges will man wohl Sicherheiten haben. Sie wissen, die Abteilung ist eine internationale Gründung. Ich selbst habe meine besonderen Ansichten über Patriotismus.«
»Ich bitte Sie, Ell, Sie sind doch ein Deutscher. Im Kriegsfall müssen wir uns selbstverständlich zur Verfügung stellen – aber, wer wird denn an Krieg denken. Ach, machen Sie mir nicht noch mehr Sorge!«
»Ich bin ein Deutscher mit meinen Sympathien, staatsrechtlich bin ich es nicht, man kann mich also im Notfall ausweisen. Die Sache ist doch so – Deutschland oder Frankreich oder England, irgendeine Nation oder ein Staat ist ja kein Selbstzweck; Selbstzweck kann nur die Menschheit als Ganzes sein. Die einzelnen Völker und Staaten sind Mittel, im gegenseitigen Wettbewerb die Idee der Menschheit zu erfüllen. Wenn nun einmal der Staat, dem ich angehöre, durch seinen Erfolg nicht das zweckentsprechende Mittel wäre in Rücksicht auf die Idee der Menschheit, so wäre es unmoralisch, wenn ich als freie Persönlichkeit mich nur darum für ihn entschiede, weil ich ihm viel verdanke. Die ethische Forderung ist eine andere. Aber bei den Menschen wird immer nach dem unmittelbaren Gefühl entschieden, und das nennt man dann Patriotismus und hält für Pflicht, was doch bloß Neigung ist.«
Isma blieb stehen. »Aber dann«, sagte sie langsam, »mit welchem Recht gehen wir hier spazieren? Ist das auch Pflicht?«
»Gewiß, wenn sie auch mit der Neigung zusammenfällt. Sie werden sich selbst doch nicht danach beurteilen, was die Friedauer für richtig halten?«
»Nein«, sagte Isma, indem sie lächelnd zu ihm aufblickte, »kommen Sie ruhig mit durch die Stadt. Glauben Sie nicht, daß wir bald eine Nachricht erwarten können?«
»Die Depesche von Spitzbergen sagt uns, daß die Fahrt am 17. August angetreten ist. Es ist wohl möglich, daß in den nächsten Tagen eine Nachricht eintrifft.«
»Sie sind noch immer guten Muts?«
»Ich hoffe zuversichtlich. Glauben Sie mir, ich hätte Ihrem Mann nicht so aufrichtig zugeredet, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß ihm die Expedition in besonderer Weise glücken wird.«
»Ell, Sie denken noch an irgend etwas Unerwartetes; ich bitte Sie, seien Sie offen, fürchten Sie eine bestimmte Gefahr?«
»Nichts, was zu fürchten ist, ich versichere Sie, Isma! Etwas Unerwartetes vielleicht, aber nichts zu fürchten!«
»O bitte, was denken Sie? Ich habe schon oft bemerkt, daß Sie mir noch etwas verschweigen.«
»Wahrhaftig, Isma, ich verschweige Ihnen nichts, was ich weiß, aber verlangen Sie nicht, daß ich Vermutungen Ausdruck gebe, die vielleicht völlig nichtig sind. Ich setze eine große Hoffnung auf die glückliche Wiederkehr der Expedition, und ich rechne mit Sicherheit darauf. So sicher, daß ich mir größte Mühe gebe, eine Stellung für Saltner ausfindig zu machen. Denn was soll er dann tun, wenn er zurückkehrt? Und sehen Sie, das hat mich auch heute gekränkt – glauben Sie, daß die Regierung den Mann anstellt, der eine so ruhmvolle Expedition mitmacht? Er ist ja ein Ausländer und hat seine Prüfungen nicht bei uns abgelegt!«
»Lassen Sie ihn nur erst zurück sein. Mich beunruhigt dieses Unerwartete, wie Sie es nennen.«
»Wirklich, es ist nur eine Art Ahnung, daß uns mit der Auffindung des Nordpols mehr gegeben werden wird als eine geographische Entdeckung.«
»Das müssen Sie mir noch erklären.«
»Vielleicht bald. Aber heute haben wir noch nicht einmal von Ihnen gesprochen. Was haben Sie getan, gelesen, erfahren?«
»Herzlich wenig. Die Polarkarte habe ich wieder einmal studiert.«
Im lebhaften Gespräch durchschritten sie die belebteren Teile der Anlagen. Hinter den Bäumen sank die Sonne, rot und golden leuchtete der Abendhimmel. Öfter begegneten sie jetzt Spaziergängern. Den meisten waren sie bekannt, man grüßte die beiden höflich, aber hinterher drehte man sich um und sah ihnen nach. Man warf sich Blicke zu oder zischelte eine Bemerkung.
»Sie haben gut spazierengehen«, näselte ein kleiner Herr mit breitem, schnüffligem Gesicht seinem Begleiter zu, »er hat den Mann nach dem Nordpol geschickt.«
»Das ist die Torm«, sagte ein junges Mädchen. »Jeden Tag geht sie mit dem Doktor Ell hier vorüber.«
Die Friedauer waren sehr stolz darauf, daß alle Zeitungen von ihrer Nordpolexpedition erfüllt und die Lebensbeschreibungen ihrer Mitbürger überall zu lesen waren. Darum waren sie glücklich, auch über sie reden zu können. Sie taten es nach Herzenslust in ihrer menschenfreundlichen und liebevollen Weise und um so mehr, je weniger sie von ihnen wußten.
Ell und Isma hatten die Anlagen verlassen und waren in eine der breiten mit Vorgärten vor den Häusern versehenen Alleen hineingeschritten. Sie standen vor der Tormschen Wohnung. Ell hatte schon Isma die Hand zum Abschied gereicht, und beide zögerten nur noch einen Augenblick, sich zu trennen. Da öffnete sich die Haustür und ein Telegraphenbote kam ihnen entgegen.
»Guten Abend, Frau Doktor«, sagte er. »Da treff ich Sie ja noch. Es war oben niemand zu Hause.«
Isma griff nach dem Telegramm. Sie riß es auf.
»Von ihm! Aus Hammerfest!« rief sie fieberhaft.
»Das ist die Brieftaubenstation«, sagte Ell.
Es dunkelte schon. Sie konnte die Buchstaben nicht mehr recht erkennen. Die Leute sahen ihr von den Fenstern aus zu.
»Kommen Sie mit hinauf, Ell«, sagte sie. »Die Sache ist nicht so kurz. Das ist eine Ausnahme, heute dürfen Sie kommen!«
Isma eilte voran. Als Ell in das Wohnzimmer trat, stand sie schon unter der elektrischen Lampe und las das Telegramm. Ihren Hut, der ihr das Licht nahm, hatte sie herabgerissen.
»Da«, sagte sie, Ell das Papier reichend. »Er lebt! Er ist gesund! Lesen Sie, lesen Sie vor. Ich werde nicht daraus klug.« Sie ließ sich in einen Sessel sinken und begann ihre Handschuhe abzustreiten.
Ell warf einen Blick auf das Telegramm. Seine Hände bebten sichtlich. Er setzte sich.
»Um Gottes willen, Ell, was ist – Sie zittern –«
»Nicht aus Sorge, nein, nein – es war nur ein Augenblick der Überraschung. Hören Sie, Isma.«
Er las:
»Hammerfest, 5. September, 3 Uhr 8 Minuten. Soeben Brieftaube mit dem Stempel ›Ballon Pol‹ zurückgekehrt, brachte folgende Nachricht:
Frau Isma Torm, Friedau, Deutschland.
19. August, 5 Uhr 34 Minuten M.E.Z., nachmittags. Alle gesund. Nach dreißigstündiger direkt nördlicher, günstiger Fahrt schweben wir über dem Pol. Gewirr von Inseln in meist eisfreiem, nicht sehr ausgedehntem Bassin. Kleine, kreisrunde Insel, etwa fünfhundert Meter Durchmesser, von unbekannten Bewohnern als Pol markiert, trägt unerklärliche Apparate. Ihre Oberfläche enthält im größten Maßstab stereographische Polarprojektion der Nordhalbkugel bis gegen den dreißigsten Breitengrad. Bewohner nicht sichtbar. Da Landung nicht ratsam, setzen wir Reise fort. Innigsten Gruß.
Torm.«
Ell las die Depesche noch einmal sorgfältig durch, während Isma ihn erwartungsvoll ansah. Dann sprang er auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Auch Isma hatte sich erhoben.
»Wir setzen die Reise fort! Das heißt, wir kommen wieder – nicht wahr, Ell, das heißt es doch? Es ist gelungen? O Gott sei Dank!«
»Ja, es ist gelungen«, sagte Ell bedeutungsvoll.
Isma trat auf ihn zu und ergriff seine beiden Hände.
»Ich danke Ihnen, lieber Freund«, sagte sie, ihre tränenfeuchten Augen zu ihm aufschlagend, »ich danke Ihnen, es ist Ihr Werk!«
Er zog sie sanft an sich, sie lehnte weltvergessen ihren Kopf an seine Schulter.
»Isma!« sagte er. Seine Lippen berührten ihre Stirn.
Sie schüttelte leise den Kopf und trat zurück. »Setzen Sie sich«, sagte sie. »Und nun sprechen Sie, erklären Sie mir – das Rätselhafte, das Unerwartete –«
»Es ist da.«
»Aber was bedeutet es – ich verstehe nicht, ich bin ganz verwirrt. Ist es eine Gefahr?«
»Es bedeutet – Isma, Sie werden es nicht glauben wollen, was es bedeutet – für uns alle. Wie soll ich es Ihnen sagen?«
Er zog seinen Sessel an den ihrigen und ergriff ihre Hand.
»Was ist Ihnen?« fragte sie, ihn ängstlich anblickend.
»Es bedeutet, daß die Bewohner des Planeten Mars auf dem Nordpol der Erde gelandet sind. Es, bedeutet, daß sie mit ihren Apparaten und Maschinen festen Fuß auf der Erde gefaßt haben. Es bedeutet, daß die Erde, die Menschheit binnen kurzem unter ihrer Leitung stehen wird – daß ein goldenes Zeitalter des Glückes und des Friedens die Not der Menschheit ablösen soll – und daß wir es erleben!«
Seine Stimme hatte sich gehoben, er hatte mit Begeisterung gesprochen, seine Augen flammten tief, groß, dunkel und hafteten wie in weiter Ferne.
Isma wußte nicht, was sie denken sollte.
»Ell«, sagte sie schüchtern, »ich bitte Sie, Sie können in dieser Stunde nicht scherzen – wie soll ich das verstehen?«
»Es ist die Wahrheit.«
Es war mit einem Ausdruck gesprochen, daß ein Zweifel nicht möglich war.
Isma schwieg. Sie lehnte sich zurück und strich das lichtbraune Haar aus der schmalen Stirn. Dann faltete sie ihre Hände und sah ihn bittend an.
»Hören Sie, Isma, geliebte Freundin«, sprach Ell langsam, »hören Sie, was noch niemand weiß, noch niemand wissen durfte, und was ihnen manches erklären wird, das Ihnen an mir rätselhaft war. Es ist eine lange Geschichte.«
Er verfiel in Schweigen.
»Erzählen Sie«, bat sie innig. »Sie bleiben über Abend – ich kann heute nicht allein sein, und andere mag ich heute nicht sehen – ich muß alles wissen.«
Ell erzählte. Er sprach vom Mars, von seinen Bewohnern, von ihrer Kultur, ihrer Güte, ihrer Macht. Er erklärte, wie sie zur Erde zu gelangen hofften, um die Menschheit ihrer Kultur, der Numenheit, entgegenzuführen, wie er sein Leben lang auf die Nachricht gehofft habe, daß der Pol im Besitz der Martier sei, wie er hauptsächlich darum die Polarforschung und Ausrüstung der Expedition betrieben habe. Und nun habe er keinen Zweifel mehr.
Isma hatte ihm schweigend zugehört. Ihre Fassungskraft schien zu Ende.
Als er schwieg, sagte sie:
»Sie erzählen ein Märchen, ein schönes Märchen. Ich würde das alles für ein Märchen halten, wäre nicht die Depesche, und wären Sie nicht mein lieber, treuer Freund. So muß ich Ihnen glauben, obwohl ich nicht begreife, woher Sie das alles wissen und warum Sie niemals davon gesprochen haben. Wenn Sie es wußten, was am Pol zu erwarten war, so mußten Sie doch meinen Mann darauf vorbereiten.«
Ell lächelte jetzt. »Das hab ich auch«, sagte er, »soweit ich durfte. Ich wußte ja nicht, ob meine Vermutung eintreffen würde, also durfte ich auch nicht davon sprechen. Denn eben haben Sie selbst gesagt, daß Sie mir ohne die Depesche nicht geglaubt hätten. Man hätte mir nicht geglaubt, man hätte mich für einen Narren gehalten, und ich hätte meine ganze Tätigkeit diskreditiert. Aber ich habe für alle Fälle gesorgt. Erinnern Sie sich der drei Flaschen Champagner, die Sie durch Saltner in den Korb schmuggeln ließen? Sie gingen durch meine Hände. Unter denselben befindet sich ein von mir entworfener Sprachführer – deutsch und martisch –, der beim Zusammentreffen mit den Marsbewohnern am Pol, auf das ich hoffte, gefunden werden mußte.«
Isma reichte ihm lächelnd die Hand und sagte kopfschüttelnd: »Und nun sagen Sie mir das eine und Hauptsächlichste. Woher konnten Sie alles das wissen – wenn es wirklich wahr ist?«
»Sie sollen auch dies wissen. Mein Vater war ein Nume. Er war kein Engländer, wie es hieß, kein auf der Erde Geborener. Ich stamme väterlicherseits von den Bewohnern des Mars.«
Isma sah ihn sprachlos an. Sie konnte nicht zweifeln. Das Fremdartige seines Wesens, selbst seiner Erscheinung, das sie anfänglich abgestoßen, später so viel stärker gefesselt hatte, als sie sich selbst gestehen mochte – alles wurde ihr auf einmal erklärlich.
Das Mädchen erschien an der Tür.
»Kommen Sie«, sagte sie. »Wir wollen uns wenigstens zu Tisch setzen, es ist Zeit. Ich muß aber noch mehr hören, viel mehr.«
»Wie oft haben wir Sie geneckt«, sagte Isma bei Tisch, »wenn Sie hier bei uns saßen und von den Marsbewohnern phantasierten. Es ist mir nie der Gedanke gekommen, daß Sie Ihre Erzählungen ernst meinen könnten.«
»Ich habe mich auch gehütet, es so erscheinen zu lassen. Dann säße ich wohl im Irrenhaus. Und doch ist es so. Ich werde Ihnen die Aufzeichnungen meines Vaters zeigen, wenn Sie wieder einmal auf meinen Berg steigen. Und das meiste weiß ich aus seinem eigenen Mund. Sie sehen mich ungläubig an?«
»Seien Sie nicht böse – ich glaube Ihnen, aber es will mir noch nicht in den Kopf, das Unerhörteste, was je geschehen ist – und mir, mir soll es begegnen –«
»Zwischen uns soll sich nichts ändern, Isma! Aber ich hoffe, Ihnen jetzt erst ganz zeigen zu können, wie lieb ich Sie habe. Meine Pläne sind groß.«
»Lassen Sie mich nur erst das Vergangene verstehen. Ihr Vater –«
»Mein Vater hieß All. Er war Kapitän des Raumschiffes ›Ba‹, das heißt ›Erde‹, mit dem er bereits mehrere Fahrten nach dem Nordpol wie nach dem Südpol der Erde gemacht hatte, als er infolge eines Unglücksfalls mit sechs Gefährten auf dem Südpol zurückgelassen wurde. Als das Schiff in den nächsten Tagen nicht zurückkehrte, wußten sie, daß sie vor dem nächsten Frühjahr keine Hilfe zu erwarten hatten. Den Polarwinter am Südpol zu durchleben, war unmöglich. Unter unsäglichen Strapazen schleppten sie sich nach Norden bis an das Meeresufer. Mein Vater allein gelangte dort an, die übrigen waren den Anstrengungen erlegen. Es glückte ihm, von einem verspäteten Walfischjäger aufgenommen zu werden. Man hielt ihn für einen Schiffbrüchigen, der den Verstand verloren hatte. Er aber benutzte die Zeit der Überfahrt nach Australien, um die Sprache zu erlernen, ohne daß die Seeleute es wußten. Man brachte ihn in ein Hospital. Durch unerschütterliche Energie gewöhnte er sich an die Erdschwere und machte sich mit menschlichen Verhältnissen vertraut. Dann gewann er Freunde, die ihm die Mittel gaben, seine technischen Kenntnisse zu verwerten. Einige Erfindungen, die auf dem Mars längst bekannt waren, machten ungeheures Aufsehen. Es dauerte nicht lange, so war mein Vater ein reicher Mann. Er lernte meine Mutter kennen, die als deutsche Erzieherin in einem englischen Haus lebte. So wurde ich in deutscher Bildung aufgezogen. Außer meiner Mutter und mir erfuhr niemand das Geheimnis der Herkunft meines Vaters. Aber in mir pflegte er den Stolz, als Sohn eines Martiers teilzuhaben an der Numenheit. Immer habe ich den roten Planeten als meine eigentliche Heimat betrachtet, und einmal auf ihn zu gelangen, war mein Jugendtraum. Aber mein Vater starb, ehe ich das zweiundzwanzigste Jahr erreichte, ohne daß den Menschen eine Nachricht vom Mars gekommen war. Und das Vermächtnis meines Vaters – meine Mutter war noch vor ihm dahingegangen – stellte mir eine größere Aufgabe: die Erde den Martiern zu erschließen, die Menschheit teilnehmen zu lassen am Segen der martischen Heimat.
Ich ging nach Deutschland, ich studierte und lernte den ganzen Jammer dieses wilden Geschlechtes kennen an der Stelle, wo die höchste Zivilisation des Planeten sich zeigen soll. Auch ein großes, herrliches Glück trat mir entgegen, aber es sollte mir nicht beschieden sein. Ich lernte Isma Hilgen kennen –«
»Sie wissen –«
»Ja, ja, Isma, Sie haben recht gehabt damals. Sie wären unglücklich geworden, wie ich es war. Ich ging nach Australien zurück. Aber meine Pläne, die Martier am Nordpol aufsuchen zu lassen, konnte ich nur von Europa aus verfolgen. Ich kaufte mich hier an – das andere wissen Sie.«
Sie reichte ihm die Hand über den Tisch hinüber.
»Ich nehme Sie bei Ihrem Wort«, sagte sie herzlich, »zwischen uns soll sich nichts ändern. Nein, ich fange an, vieles zu verstehen, was mich manchmal von Ihnen zurückschreckte. Wie konnte ich mir anmaßen, Ihnen das sein zu können, was Sie bei den Menschen suchten?«
»Ich habe Sie niemals mehr geliebt, als wenn Sie mich für wandelbar hielten.«
»Lassen Sie – wir dürfen jetzt nicht von uns sprechen. Was werden Sie zunächst tun?«
»Das Telegramm muß natürlich veröffentlicht werden. Ich nehme es gleich mit. Aber die Aufklärung, welche ich Ihnen gegeben habe, bleibt vorläufig unter uns. Die Presse wird sogleich ihre Zweifel, Vermutungen und weisen Bemerkungen laut werden lassen. Dann gebe ich den Hinweis auf die Martier als eine Hypothese, ganz vorsichtig, nur um vorzubereiten.«
»Aber sind Sie denn auch Ihrer Sache ganz sicher? Ich meine, daß es wirklich Ihre Landsleute sind, die sich am Pol befinden?«
»Ich habe keinen Zweifel. Ich kann Ihnen noch etwas sagen, was ich selbst erst seit einigen Tagen weiß. Es wird sicherlich ebenfalls öffentlich zur Sprache kommen, sobald die Nachricht von der Expedition bekannt wird. Sie müssen wissen – mein Vater hat es mir erklärt –, daß die Martier nur am Nordpol oder am Südpol auf der Erde landen können. Ihre Raumschiffe suchen, sobald sie der Grenze der Atmosphäre sich nähern, genau in der Richtung der Erdachse heranzukommen. Es ist aber für sie gefährlich, in die Atmosphäre einzudringen. Deswegen ging man auf Anregung meines Vaters mit dem Plan um, in der Verlängerung der Erdachse außerhalb der Atmosphäre eine Station zu errichten, auf welcher die Schiffe bleiben und von der aus man dann auf andere Weise nach unten gelangt – ich erkläre Ihnen das ein andermal genauer, auch weiß ich ja nicht, ob die Pläne so ausgeführt worden sind, wie sie damals, vor mehr als vierzig Erdenjahren, bestanden. Sicherlich aber haben die Martier in irgendeiner Weise ihre Absicht durchgesetzt und eine Außenstation gegründet. Danach habe ich mit meinem Instrument gesucht, aber nur einmal einen Lichtpunkt bemerkt, den ich für die Station halten konnte, da er sich nicht mit den übrigen Sternen um die Weltachse drehte. Ich habe ihn seitdem nicht wieder finden können, obgleich ich die Stelle genau gemessen hatte; aber das wundert mich auch nicht, denn die Martier werden schon dafür sorgen, daß die Station möglichst wenig Licht ausstrahlt, und es sind gewiß nur vereinzelte Stunden, in denen die Station einmal auf so große Entfernung – ich berechne sie auf gegen 9000 Kilometer – sichtbar wird. Nun wurde vor einigen Tagen von der Zentralstation für Kometen in Kiel ein Telegramm versendet, daß in Helsingfors ein Stern entdeckt wurde, der kein Stern sein kann, weil er am Umlauf des Himmels nicht teilnimmt und doch nicht im Pol steht, dagegen genau im Meridian in 36 Grad Höhe. Daraus läßt sich leicht berechnen, daß sich auf der Erdachse, genau in der Entfernung des Erdradius über dem Pol, ein leuchtender Körper befinden muß. Allerdings konnte dieser wegen leichten Nebels, vielleicht auch, weil er schwächer leuchtend wurde, bisher nicht wiedergefunden werden, aber die Angabe stimmt genau mit meiner früheren Beobachtung. Ein Körper, der an dieser Stelle über dem Nordpol stillsteht, kann gar nichts anderes sein als die geplante Station der Marsbewohner; eine andere Erklärung ist undenkbar. Diese Entdeckung wird meine Hypothese bestätigen, sobald sie bekanntwerden wird. Man hat sie nur von Helsingfors aus mit so großer Vorsicht weitergegeben, weil man keine Erklärung dafür weiß und daher an eine Täuschung denken mußte. Wir werden also vorbereitet sein, wenn die Expedition zurückkommt –«
»Wann, wann glauben Sie, daß dies möglich ist?«
»Jeden Tag, jede Stunde kann die Nachricht eintreffen, daß sie bewohnte Gegenden erreicht haben, ja –«
Ell unterbrach sich und sann nach.
»Sie wollten noch etwas sagen, Ell! Sie wollten sagen, es müßte schon Nachricht da sein, wenn alles gut gegangen? Nicht wahr?«
»Allerdings, es könnte schon Nachricht da sein, aber es ist auch durchaus kein Grund zur Beunruhigung, daß sie noch nicht da ist. Bedenken Sie – wir haben heute den fünften – also siebzehn Tage, nachdem die Expedition den Pol verlassen hat – sie können in Gegenden gelandet sein, von denen aus ein Bote Wochen braucht, um die nächste Telegraphenstation zu erreichen.«
Isma preßte die Hände an ihre Stirn.
»Es ist so seltsam«, sagte sie nachdenklich, »wie sehnte ich mich nach einer Nachricht, alle Gedanken gingen um die Expedition – und nun, nachdem Sie mir dies gesagt haben, dies Ungeheuerliche, das uns bevorsteht – wie schrumpft das alles zusammen, was Menschen tun. Ach, Ell, es ist eigentlich Unrecht –«
»Durfte ich länger schweigen?«
»Nein, mein Freund, ich danke Ihnen ja doch – aber – Sie müssen mir noch mehr sagen, vom Mars –. Sie müssen mich lehren –«
»Was Sie wollen, Isma.«
»Doch nicht heute – es ist schon spät.«
»Wirklich, in der zehnten Stunde. Ich muß Sie verlassen. Aber auf Wiedersehen! Morgen wie gewöhnlich?«
»Wie gewöhnlich – wenn nicht – – Nein doch, wir haben zu viel zu sprechen – kommen Sie hierher –«
»Ich gehe jetzt auf die Redaktion und zur Post, das Telegramm steht morgen in allen Zeitungen, Sie werden den ganzen Tag über von Besuchen belagert sein.«
»Dann flüchte ich lieber –. Ich komme hinaus zu Ihnen, bald nach Tisch. Ich will martisch lernen«, setzte sie mit einem halb komischen Seufzer hinzu. »Ach, Ell, was werden die nächsten Zeiten bringen?«
»Großes für die Menschen!« war seine ernste Antwort.
Ell ging.
22. Kapitel
Auf die Veröffentlichung der Depesche Torms folgten heiße Tage für Isma. Glückwünsche, Anfragen und Besuche, teilnahmsvolle und neugierige, drängten sich. Einige Zeitungen schickten ihre Reporter, um ihren Lesern möglichst genau die Ansicht von Frau Torm über die Zustände auf dem Nordpol auseinanderzusetzen. Soweit Isma die Besuche nicht ablehnen konnte, beschränkte sie sich darauf zu sagen, sie teile die Vermutungen, welche Friedrich Ell sogleich am Tag nach dem Erscheinen des Telegramms in der Vossischen Zeitung ausgesprochen habe.
Über die Möglichkeit einer Besiedelung des Pols durch die Marsbewohner erhob sich ein heftiger Streit in den Tagesblättern. Ein großer Teil des Publikums fand die Aussicht höchst interessant, welche sich für einen Verkehr mit den Martiern eröffnete. Andere hätten am liebsten die ganze Depesche für Schwindel erklärt; da dies aber nicht anging, behaupteten sie, Torm müsse sich jedenfalls getäuscht haben. Es wäre ja möglich, daß es Bewohner des Mars gebe, sie könnten aber nicht auf die Erde gelangen. Und selbst wenn sie das könnten, so wäre nicht einzusehen, warum sie nicht nach Berlin oder Paris kämen, sondern sich das Vergnügen machten, eine Riesenerdkarte am Nordpol zu konstruieren. Ein berühmter Physiker erklärte es als absolut unmöglich, daß menschenähnliche Wesen jemals von einem Planeten nach dem andern durch den Weltraum hindurchdringen könnten. Darauf stellte ein Geologe eine höchst geistreiche Hypothese auf, derzufolge sich notwendigerweise am Pol ein Vulkan bilden müsse, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Teil des Erdinnern herausquelle. Die Lavaablagerungen seien infolge einer zufälligen Ähnlichkeit von Torm für eine Karte gehalten worden. Endlich erklärte sich der Redakteur der ›Geographischen Mitteilungen‹ dahin, daß es keinen Zweck habe, Vermutungen aufzustellen, weil man überhaupt erst weitere Nachrichten abwarten müsse. Der Mann hatte recht, fand aber am wenigsten Beifall.
Die Friedauer fühlten sich mehr wie je befriedigt. Die Beachtung, welche ihre Stadt in der ganzen Welt fand, gab eine erhabene Veranlassung, um Glossen über Frau Torm daran zu knüpfen, wenn sie ihr in der Nähe der Ellschen Besitzung begegneten oder Ell an ihrer Seite durch die Gänge des Parkes wandelte; das taten sie zwar schon seit Jahren, aber jetzt war es doppelt schön, noch dieses Privatwissen über das allgemeine hinaus zu haben. Isma selbst kümmerte sich darum nicht. Mehr wie je war ihr das Urteil der Menschen gleichgültig geworden, während ihr der tägliche Verkehr mit Ell allein einigermaßen Beruhigung gewähren konnte. Ell hatte sie schon geliebt und um sie geworben, als sie noch als Isma Hilgen bei ihrer früh verwitweten Mutter in Berlin lebte. Damals hatte sie seine Bewerbung zurückgewiesen. Die Neigung des seltsamen Mannes konnte sie zwar nicht unberührt lassen, aber von der Fremdartigkeit seines Wesens war sie immer wieder abgestoßen worden. Als sie mit Torm sich verlobte, war Ell in die Fremde gegangen. Nach seiner Rückkehr hatte er sich ihr in uneigennützigster Freundschaft genähert. Sie wußte, daß er sie liebte, und sie ahnte die Kämpfe, die er im stillen mit seiner Leidenschaft führte. Aber sie hing an ihrem Mann mit inniger Zuneigung, und sie hatte Ell bald im Anfang gesagt, daß daran eine Änderung niemals eintreten würde. Damals gab er ihr das Versprechen, daß sie niemals durch ihn eine Störung ihres Glückes, ja nur eine trübe Stunde erfahren solle. Und dies Versprechen hatte er die Jahre hindurch gehalten. Wohl hatte manche andere sein Interesse gewonnen, und obwohl Isma sein gutes Recht dazu anerkannte, hatte sie sich dann doch eines schmerzlichen Gefühls nicht erwehren können. Aber sie wollte sich über ihr Gefühl keine Rechenschaft geben. Sie wußte, daß er ihrer Nähe, ihrer Freundschaft und ihres Glückes bedurfte, und jene seltsame Abstraktionsgabe, das Erbteil der Martier, in seiner Vorstellung sein Gefühl zu trennen von den harten Pflichten der Wirklichkeit, ermöglichten es Ell, als ein treuer und aufopfernder Freund ihr zu dienen. So herrschte zwischen beiden ein unbedingtes Vertrauen, das Isma die volle Sicherheit gab, auch sein Freundschaftsverhältnis mit Torm könne unter ihrem Verkehr nicht leiden. Zum Glück waren alle in der Lage, über das Gerede derer, die sie nicht kannten, die Achseln zucken zu können.
Es war am achten September, am dritten Tag nach der Ankunft des Tormschen Telegramms. Gegen Abend hatte Ell seinen gewohnten Spaziergang mit Isma gemacht, die über das Ausbleiben jeder weiteren Nachricht lebhaft beunruhigt war. Auch Ell war es schwer geworden, ihr Mut zuzusprechen. Denn er sagte sich, daß man allerdings eine Nachricht hätte erwarten dürfen. Die Expedition hatte eine Anzahl Brieftauben mit, und man mußte annehmen, daß sie alsbald über die weitere Richtung ihrer Reise eine Depesche absenden würde. Doch die geflügelten Boten konnten auf dem weiten Wege leicht verunglücken. Es ließ sich zunächst gar nichts tun als geduldig warten.
Eine milde Spätsommernacht lag über der Stadt, alles in tiefe Dunkelheit begrabend. Der Mond war noch nicht aufgegangen, ein leichter Wolkenschleier verhüllte das Sternenlicht. Regungslos streckten die hohen Bäume ihre dichtbelaubten Zweige aus und deckten mit undurchdringlicher Finsternis die Rasenplätze, die sich zwischen ihnen auf dem Hügel hinbreiteten, wo Ell seine Warte erbaut hatte. Es war schon spät, und nur aus der hohen geöffneten Tür, die von Ells Arbeitszimmer nach der weinumlaubten Veranda führte, schimmerte noch Licht. Von dort ging eine Freitreppe in den Garten. Ell war an seinem Schreibtisch mit einer Arbeit beschäftigt, die er schon seit Jahren betrieb, einer Darstellung der Verhältnisse der Marsbewohner und einer Anleitung, ihre Sprache zu erlernen. Er wollte diese Bücher in dem Augenblick veröffentlichen, in welchem die ersten Martier mit den Menschen zusammenträfen.
In seine Arbeit vertieft, vernahm er nicht, daß langsame Schritte über den Kiesweg des Gartens sich nahten, daß jemand die Treppe der Veranda erstieg. Erst als der Tritt auf der Veranda selbst erklang, drehte er sich um. In der Tür stand die Gestalt eines Mannes.
»Wie kommen Sie in den verschlossenen Garten?« fuhr Ell auf, indem er nach der Waffe auf seinem Schreibtisch griff.
Seine vom Licht des Arbeitstisches geblendeten Augen konnten nicht sogleich erkennen, wen er vor sich habe.
»Ich bin es!« sagte eine ihm wohlbekannte Stimme.
Ell zuckte zusammen und sprang empor. Er faßte mit den Händen nach seinem Kopf.
»Eine Halluzination«, war sein Gedanke.
Die Gestalt trat näher. Ell wich zurück.
»Ich bin es wirklich, Herr Doktor, es ist Karl Grunthe.«
»Grunthe!« rief Ell. »Ist es möglich? Wo kommen Sie her?«
»Direkt vom Nordpol, den ich heute gegen Mittag verließ.«
Ell hatte ihm die Hände entgegengestreckt. Bei diesen Worten trat er wieder zurück.
»Ich will Ihnen etwas sagen, Grunthe«, begann er. »Ich bin bei der Arbeit eingeschlafen, ich träume – Sie können es ja nicht sein. Das sehen Sie doch ein. Das Tor ist ja auch verschlossen, Sie können nicht über die Mauer klettern.«
Grunthe trat jetzt auf ihn zu. Er schüttelte ihm die Hände. »Glauben Sie's!« sagte er. »Sie träumen nicht, Sie wachen. Es ist, wie ich sage. Erlauben Sie mir ein Glas Wasser, richtiges, frisches Quellwasser, das habe ich vermißt. Hier, trinken Sie auch. Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich will Ihnen alles erklären. Aber so schnell geht das nicht.«
Ell faßte Grunthe an den Schultern und schüttelte ihn. Er lachte. Dann setzte er sich und starrte Grunthe noch einmal an.
Grunthe zog seine Uhr und verglich sie mit dem Chronometer in Ells Zimmer.
»Keine Abweichung«, sagte er.
»Sie sind es doch, Grunthe!« rief Ell. »Jetzt glaube ich es. Verzeihen Sie, aber nun bin ich wieder klar. Um Gottes willen, sprechen Sie, schnell! Wo ist Torm?«
»Torm ist nicht zurückgekehrt«, sagte Grunthe langsam, indem sich die Falte zwischen seinen Augen vertiefte.
Ell sprang wieder auf.
»Er ist verunglückt?«
»Ja.«
»Tot?«
»Wahrscheinlich. Der Ballon wurde in die Höhe gerissen. Wir verloren das Bewußtsein. Als wir wieder zu uns kamen, war Torm verschwunden. Er ist bis jetzt nicht wiedergefunden worden.«
»Bis jetzt? Das heißt, Sie haben noch eine Hoffnung?«
»Auch der Fallschirm fehlte, es ist möglich, daß er sich damit gerettet hat – aber sehr unwahrscheinlich. Wohin sollte er gekommen sein?«
Ell trat an die Tür und starrte in die Nacht, wortlos – dann drehte er sich plötzlich um.
»Und Sie, Grunthe?« rief er. »Und Saltner?«
»Wir wurden von den Bewohnern der Polinsel gerettet. Mich brachten sie hierher in einem Luftschiff. Saltner ist noch am Pol, er reist morgen auf den Mars. Da sind seine Briefe, da sein Tagebuch.« Er legte zwei Päckchen auf den Tisch.
»So sind sie da?« fragte Ell fast jubelnd.
»Sie sind da. Wir haben Ihren Sprachführer gefunden. Und wenn Sie sich gefaßt haben, so kommen Sie mit mir. Ich bin nicht allein, meine Begleiter sind hier.«
»Wo? Wo?«
»Auf dem mittleren Rasenplatz neben dem Sommerhäuschen liegt das Luftschiff. Man erwartet Sie!«
Ell wollte hinausstürzen. Die Füße versagten ihm. Er setzte sich wieder.
»Ich kann noch nicht. Bitte, erzählen Sie mir erst noch etwas. Dort steht Wein, geben Sie mir ein Glas!«
Grunthe holte den Wein. Dann schilderte er kurz ihr Schicksal am Pol, die Aufnahme bei den Martiern, die Station des Ringes. Allmählich wurde Ell ruhiger.
Er holte eine Laterne.
»Gehen wir!« sagte er.
Grunthe nahm die Laterne. Sie durchschnitten die dunkeln Gänge des Gartens. An dem bezeichneten Rasenplatz angekommen, blieb Grunthe stehen und erhob die Laterne. Ein dunkler Körper zeigte sich undeutlich in der Mitte des Platzes. Grunthe gab die Losung: »Bate. Grunthe it Ell.«
Darauf setzte er in der Sprache der Martier hinzu: »Wir sind vollständig ungestört und sicher. Sie können Licht machen.«
Seit dem Tod seines Vaters hatte Ell kein martisches Wort mehr vernommen. Die Laute berührten ihn überwältigend. Jetzt sollte er den Numen, den Stammesgenossen des Vaters entgegentreten.
Ein mattes Licht durchglänzte den Bau des Luftschiffs und ließ eine Falltreppe erkennen, welche auf das Verdeck führte. Ell folgte dem vorankletternden Grunthe. Oben erwartete sie der wachhabende Steuermann und geleitete sie in das Innere des Schiffes hinab. »Warnen Sie den Herrn«, sagte er zu Grunthe, »wir haben Marsschwere.«
»Ich danke«, versetzte Ell, »ich passe auf.«
Der Steuermann sah den martisch redenden Menschen verwundert an, ging aber schweigend voran. Sie durchschnitten einen schmalen Gang, zu dessen beiden Seiten die Mannschaften in Hängematten nach ihrer anstrengenden Fahrt ausruhten, und befanden sich vor der Tür der Kajüte. Sie öffnete sich. Der Steuermann trat zurück; Grunthe und Ell standen in dem hellerleuchteten Raum.
Ell schrak zusammen und drohte das Gleichgewicht zu verlieren, da er seine Bewegungen der geringen Schwere noch nicht anzupassen vermochte. Von Grunthe gestützt, starrte er sprachlos mit weitgeöffneten Augen auf die hohe Gestalt, die ihm gegenüberstand.
»Vater«, wollte es sich auf seine Lippen drängen – –
»Mein Freund, Dr. Friedrich Ell«, sagte Grunthe vorstellend. »Der Herr Repräsentant der Marsstaaten, Ill.«
»Ill re Ktohr, am gel Schick – Ill, Familie Ktohr aus dem Geschlechte Schick«, sagte Ill mit Betonung, indem er Ell scharf beobachtete. Auch ihm klopfte das Herz, er sah seine Vermutung bestätigt. »Ich bin«, setzte er hinzu, »der jüngste Bruder des Kapitän All, der im Jahre –«
»Mein Vater!« rief Ell. »Er war mein Vater! Und so sah er aus, nur gebeugter vom Druck –«
Ill schloß seinen Neffen in die Arme und ließ ihn dann sanft auf den Diwan gleiten.
»Ich dachte es mir«, sagte er, »als die erste Nachricht zu uns kam, daß ein Ell auf der Erde unsre Sprache kenne. Darum erbot ich mich freiwillig hierherzugehen, als einer von uns den Auftrag übernehmen sollte. Laß dich noch einmal ansehen! Welch ein Glück, dich zu finden! Und nicht bloß für uns. Nun habe ich die Hoffnung, daß sich die Planeten verstehen werden.«
*
Stunden vergingen, und noch immer saßen der Oheim und sein Neffe in der Kajüte des Raumschiffes in eifrige Besprechungen vertieft. Grunthe hatte sich sogleich nach der Erkennungsszene zurückgezogen. Er war nach Torms Arbeitszimmer gegangen. Das Bedürfnis nach Schlaf fühlte er nicht, denn fast während der ganzen Fahrt hatte er in Schlummer gelegen. Erst in der Abenddämmerung hatte man ihn geweckt. Er sah unter sich das Häusermeer von Berlin, welches das Luftschiff in weitem Bogen umkreiste. Man ließ sich jetzt Erklärungen von ihm über die Bedeutung der hervorragenden Gebäude geben und dann den Weg nach Friedau zeigen, das man von Berlin aus mit dem Luftschiff in 25 Minuten erreichen konnte. Man hatte jedoch im Dunkeln zu der Fahrt absichtlich eine Stunde gebraucht. Längere Zeit nahm dann die Landung in Anspruch, weil diese ganz langsam und geräuschlos vor sich gehen sollte. Die Martier wollten dabei nicht bemerkt werden, um nicht während ihrer Anwesenheit im Land irgendwie die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sie wußten ja nicht, ob man sie nicht bei der Abfahrt stören könnte, und wollten auf alle Fälle jeden Konflikt vermeiden. Ob sie dagegen bei ihrer freien Fahrt in der Luft zufällig einmal gesehen wurden, darauf kam es ihnen jetzt nicht mehr an. Nachdem sie Grunthe zurückgebracht, mußte es ja doch bekannt werden, daß sie da waren und mit ihren Luftschiffen über die Erde fuhren. Nur ihre volle Freiheit wollten sie nicht aufs Spiel setzen.
Grunthe hatte sich in Torms Zimmer die Zeitungen der letzten Wochen zusammengesucht. Es war ihm ein Bedürfnis, sich über die Vorgänge bei den Menschen während der Zeit seiner Abwesenheit zu unterrichten. Aber wie engherzig und beschränkt kam ihm jetzt alles vor! Und dennoch, er war entschlossen, das Mögliche zu tun, um den Einfluß der Martier abzuwehren.
Die ersten Spuren der Dämmerung zeigten sich im Osten, als Ell mit fieberhaft leuchtenden Augen wieder eintrat.
»Sind sie schon fort?« fragte Grunthe, sich erhebend.
»Noch nicht.«
»Aber es wird bald hell.«
»Ill bleibt noch bis zur Nacht. Ich soll ihn begleiten, er will über die Hauptstädte Europas einen Überblick gewinnen. Aber ich kann heute früh noch nicht fort. In der Sache ist es eigentlich nicht recht zu zögern, aber ich kann nicht.«
»Sie dürfen freilich jetzt nicht fort. Wir müssen die Resultate der Expedition bekanntmachen. Sie sind dabei unentbehrlich.«
»Wir haben uns schon geeinigt. Ich will nur eben Anordnung treffen, daß heute niemand im Garten zugelassen wird. Auf den alten Schmidt können wir vertrauen, er wird die Tür geschlossen halten und wie ein Cerberus wachen. Mein Oheim ist mit dem Ruhetag einverstanden, den die Mannschaft wie er selbst nötig hat. Jetzt will er mir nur einmal die Leistungsfähigkeit des Luftschiffs bei größter Geschwindigkeit zeigen. Die Luft ist ganz still. Wir wollen uns Wien betrachten. In einer Stunde, noch vor Sonnenaufgang, sind wir zurück. Wir fahren jetzt nach Osten, über Wien wird es schon hell genug sein. Kommen Sie mit, wir können die Zeit zum Erzählen benutzen. Nachher frühstücken wir zusammen.«
Er sprach in großer Aufregung und suchte dabei nach seinem Mantel.
»Sie brauchen weiter nichts mitzunehmen«, sagte Grunthe. »Pelze sind im Schiff. Instruieren Sie nur Schmidt, daß er niemand einläßt. Ich aber will lieber hierbleiben.«
Ell weckte den Kastellan. Es dürfe niemand in den Garten. Auch die Sternwarte bleibe heute geschlossen. In besonderen Fällen oder wenn Bekannte kämen, solle man ihn selbst rufen. Er verlasse sich auf sein unbedingtes Schweigen über alles, was er etwa Außergewöhnliches sehe.
Der alte Mann, der schon seinem Vater gedient hatte und mit Ell nach Deutschland gekommen war, versprach sein Bestes. Seine Frau, welche auch die häusliche Bedienung für Ell führte, kam niemals über ihr eigenes kleines Gemüsegärtchen, das außerhalb der Gartenmauer lag, hinaus. Von ihr war keine Störung zu befürchten.
Ell begab sich nach dem Rasenplatz. Das Luftschiff war zur Abfahrt bereit. Die Lichter wurden gelöscht. Geräuschlos hob es sich senkrecht in die Höhe. Die Stadt lag im Schlummer, niemand bemerkte den dunkeln Körper, der in wenigen Augenblicken in der Dämmerung entschwunden war.
Ell saß stumm in seinen Pelz gehüllt und blickte durch die Robscheiben dem schnell emporsteigenden Frührot entgegen.
»Ein neuer Tag«, sagte er leise, »wirklich ein Tag! Ich fliege! O heiliger Nu!«
Aber sie, Isma, was würde sie sagen? Er vergaß seine Umgebung. Das Herz krampfte sich ihm schmerzhaft zusammen. Wie sollte er ihr das Schreckliche mitteilen? Da ihm alles geglückt, da seine höchste Sehnsucht erfüllt, seine Heimat wiedergefunden war, da sollte ihr das Lebensglück entrissen werden? Er suchte sich in ihre Seele zu versetzen und vermochte es nicht. Er trauerte um den Freund, und inniges Mitgefühl mit der Freundin drängte die Tränen in sein Auge. Er sah sie die schmalen Hände ringen, er sah, wie ihre großen dunkelblauen Augen starr wurden. Er hätte sein Leben dafür gegeben, diesen Schmerz ihr abzunehmen, ihr den Verlorenen zu retten und wiederzubringen. Es war aussichtslos. Was vermochte er für sie zu tun? Und in allem Schmerz konnte er es nicht hindern, daß es wie eine leise Hoffnung ihn durchzog, ob es ihm nicht möglich sei, ihr das entschwundene Glück zu ersetzen. Er drängte den Gedanken zurück. Er dachte an seine nahen, großen Aufgaben. Aber die nächste war ja doch – sie zu benachrichtigen.
Eine Frage Ills riß ihn aus seinen Grübeleien.
Zur Rechten erglänzte die Kette der Alpen im Licht der aufgehenden Sonne. Das Luftschiff breitete seine Schwingen aus und umkreiste, sich tiefer senkend, in weitem Bogen die Kaiserstadt an der Donau. Drei-, viermal strich es bis dicht über den Spitzen der Türme hin, dann erhob es sich wieder und floh vor den Strahlen der Morgensonne nach Nordwesten. Es erreichte Friedau, noch bevor der erste Sonnenstrahl die Kuppel der Sternwarte, des höchsten Punktes der Umgebung, vergoldete, und ließ sich langsam auf den Rasenplatz nieder.
Einige Arbeiter, die aufs Feld gingen, liefen herzu, aber da sie das Schiff hinter den Bäumen des Gartens verschwinden sahen, setzten sie ihren Weg wieder fort. Sie waren gewohnt, die Übungsballons der Luftschiffer bei Friedau aufsteigen zu sehen, und wunderten sich daher nicht weiter, daß einmal ein so sonderbarer Ballon hier niederging.